B. Waigand: Antisemitismus auf Abruf

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Titel
Antisemitismus auf Abruf. Das Deutsche Ärzteblatt und die jüdischen Mediziner 1918 - 1933


Autor(en)
Waigand, Beate
Reihe
Medizingeschichte im Kontext 7
Erschienen
Frankfurt am Main 2001: Peter Lang/Frankfurt am Main
Anzahl Seiten
336 S.
Preis
€ 50,10
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Rebecca Schwoch, Institut für Geschichte der Medizin, ZHGB

Die vorliegende Arbeit soll einen Beitrag zu der bisher kaum erforschten Frage, welche Stellung den jüdischen Ärzten innerhalb der deutschen Ärzteschaft in der Zeit der Weimarer Republik zukam, liefern. (S. 1) Die Autorin hat dafür das Standesblatt der konservativen deutschen Ärzteschaft, das „Ärztliche Vereinsblatt“, das 1929 in „Deutsches Ärzteblatt“ umbenannt worden ist, auf antisemitische Äußerungen hin untersucht. Bereits in der Einleitung nimmt sie das Ergebnis vorweg: Das Ärzteblatt der Weimarer Zeit sei frei von verbal-aggressivem Antisemitismus. (S. 6) Bei „genauerem Hinsehen“ (S. 6) hat Beate Waigand jedoch sehr wohl antisemitische Tendenzen bei den Autoren des Standesblattes festgestellt.

Dieses Ergebnis erstaunt sicher niemanden unter den ZeithistorikerInnen, die sich mit der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts beschäftigt haben. Es erstaunt erst recht nicht diejenigen, die sich mit der ärztlichen Standespolitik, der Geschichte der deutschen Ärzteschaft auseinandergesetzt haben. 1

Das Phänomen „Antisemitismus“ wurde in der Forschung bereits oft im Zusammenhang mit gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen und Problemen interpretiert. 2 Bereits im 19. Jahrhundert wurden gerade Juden zur Symbolfiguren der bürgerlich-kapitalistischen Konkurrenzgesellschaft. Mit dem ersten verlorenen Weltkrieg begann erneut eine Suche nach dem „Sündenbock“. Große Teile der Bevölkerung haben mit der Abwendung der ersten deutschen Demokratie auch die Rechte der Juden preisgegeben; dies zeigt sich besonders gegen Ende der Weimarer Republik an öffentlichen Stellenbesetzungen, in der Politik genauso wie im universitären Bereich. Die Bereitschaft zur freiwilligen Gleichschaltung kann da nicht mehr erstaunen, sondern lediglich erschrecken: Sie geschah aus einer wie auch immer gearteten inneren Bereitschaft heraus; dabei wurde offenbar, wie lange sich die Menschen schon mit diesen Problemen beschäftigt und sich auf die kommenden Veränderungen eingestellt hatten. Nennenswerte Abwehrkräfte gegen den von 1933 an offen ausgetragenen, zunächst „nur“ verbal-aggressiven Antisemitismus oder eine feste christliche, politische oder weltanschauliche Gegenposition gab es nicht. So müssen wir es auch bei der organisierten deutschen konservativen Ärzteschaft, so wie sie im „Deutschen Ärztevereinsbund“ oder im „Hartmannbund“ organisiert war, feststellen. Bereits im März 1934 war die Gleichschaltung der ärztlichen Verbände abgeschlossen; dies verlangte eine Interessenkonformität (oder mindestens eine Interessenunterordnung) des ärztlichen Standes mit den Ideen des Nationalsozialismus, die im Kern schon weit vor 1933 vorhanden war (staatliche Anbindung, Zentralisierung der eigenen Organisation, Einsatz für den ärztlichen Nachwuchs, „Krise der Medizin“, Zwangssterilisation, Rassenhygiene, Eugenik, Schwangerschaftsabbruch/Empfängnisverhütung, Sexual- und Eheberatungsstellen). 3 All diese Forschungsfragen sind bereits vielfach erarbeitet und veröffentlicht worden. Antisemitismus spielte dabei immer eine wichtige Rolle. Deswegen hätten diese Themenkomplexe bei Beate Waigand (etwa 200 Seiten) sehr viel kürzer ausfallen sollen; man mag nicht umfangreiches Rezipieren lesen, wenn es bereits hinlänglich bekannt ist.

Um nun die Fragen nach den geduldeten Außenseitern des Ärztestandes, nach antisemitischen Tendenzen innerhalb der deutschen konservativen Ärzteschaft der Weimarer Zeit, nach okkultem Einsickern antijüdischer Elemente in die Meinungsäußerungen der standespolitisch aktiven Ärzte zu beantworten, muss ein anderer Weg gegangen werden, wenn das Standesblatt antisemitische Tendenzen nicht so ohne weiteres aufdeckt: Man muss biografisch arbeiten. Dies hat Beate Waigand auch getan. Am Beispiel des Wirkens von (leider nur) vier jüdischen Medizinern, „von denen im Ärzteblatt die Rede war“, hat sie „die Haltung der Standespolitiker zu diesen Kollegen beleuchtet“. (S. 205) Auf 40 Seiten werden der Sozialpädiater Dr. Arthur Schlossmann, der bereits gut bekannte Sozialdemokrat und Sozialhygieniker, Dr. Julius Moses, der Sozialdemokrat Dr. Hermann Weyl, der Schriftleiter des hier untersuchten Standesblattes, Dr. Siegmund Vollmann, sowie der Psychologe, Mediziner und Schriftleiter der „Ärztlichen Mitteilungen“, Prof. Willy Hellpach ausführlich dargestellt.

Wie die „verklausulierte antisemitische Grundhaltung der Ärzteschaft Erwähnung“ (S. 231) gefunden hat, soll am Beispiel Hermann Weyls kurz dargestellt werden. 1925 wurde Weyl in den Landesgesundheitsrat des preußischen Landtages berufen, was die konservative Ärzteschaft wohl in erster Linie auf Grund der sozialdemokratischen Vorstellungen Weyls (Ausweitung der Versicherungspflicht, Ausbau des Fürsorgewesens) missbilligte. Auf dem 44. Deutschen Ärztetag im September 1925 verkündete der Vorsitzende des Ärztevereinsbundes, Dr. Hugo Dippe, es sei ihm von einer großen Anzahl von Kollegen „zur schleunigsten Erledigung“ angetragen worden, dass die Ärzteschaft „mit Befremden“ von der Berufung Weyls Kenntnis genommen habe. Der Ärztetag bedauere, dass eine „solch´ bedeutungsvolle Berufung einem Arzt zuteil geworden ist, der als Persönlichkeit in keiner Weise das Vertrauen der Aerzteschaft geniesst“.4 Es folgten Bravo-Rufe der anwesenden Ärzte. Offiziell hat die Ärzteschaft das Misstrauen Weyl gegenüber nicht mit seiner politischen Orientierung begründet, sondern mit dessen Persönlichkeit. „Die wenig taktvolle Formulierung“, so Beate Waigand, „die die Ärzte hier für angebracht hielten, lässt vermuten, dass neben der Parteipolitik auch noch andere Voreingenommenheiten eine Rolle spielten. Diese könnten nicht zuletzt antisemitischer Natur gewesen sein.“ (S. 232) Dieses Urteil ist denkbar, wenn man die antisemitischen Tendenzen gerade in der bürgerlichen Gesellschaft des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts betrachtet. Dass aber solche Schlussfolgerungen vage bleiben, zeigt gerade dieses Beispiel. Möchte man diese Gedankenkette stichhaltig darlegen, ist es notwendig, breitflächiger biografisch zu arbeiten. Hier reicht es nicht, einige jüdische Vertreter der deutschen Medizinerschaft zu untersuchen; hier ist es notwendig, die ärztlichen Standesfunktionäre, und gerade auch die nichtjüdischen, biografisch aufzuarbeiten. Dies könnte geschehen, indem man die einzelnen Ortsverbände des Hartmannbundes untersucht. Sicherlich ein lohnenswertes und noch ausstehendes Desiderat der Forschung.

Anmerkungen:
1 Vgl. beispielsweise: Baader, Gerhard; Schultz, Ulrich (Hgg.): Medizin und Nationalsozialismus. Tabuisierte Vergangenheit - Ungebrochene Tradition?, Berlin 1985; Bleker, Johanna; Jachertz, Norbert (Hgg.): Medizin im „Dritten Reich“, Köln 1993; Bleker, Johanna; Schmiedebach, Heinz-Peter (Hgg.): Medizin und Krieg. Vom Dilemma der Heilberufe 1865 bis 1985, Frankfurt a.M. 1987; Jütte, Robert (Hg.): Geschichte der deutschen Ärzteschaft. Organisierte Berufs- und Gesundheitspolitik im 19. und 20. Jahrhundert, Köln 1997; Kudlien, Fridolf (Hg.): Ärzte im Nationalsozialismus, Köln 1985; Leibfried, Stephan; Tennstedt, Florian (Hgg.): Berufsverbote und Sozialpolitik 1933. Die Auswirkungen der nationalsozialistischen Machtergreifung auf die Krankenkassenverwaltung und die Kassenärzte, 3. Aufl., Bremen 1981; Schwoch, Rebecca: Ärztliche Standespolitik im Nationalsozialismus. Julius Hadrich und Karl Haedenkamp als Beispiele (= Abhandlungen zur Geschichte der Medizin und Naturwissenschaften, Bd. 95), Husum 2001; Wuttke-Groneberg, Walter (Hg.): Medizin im Nationalsozialismus. Ein Arbeitsbuch, Rottenburg 19822.
2 Vgl. beispielsweise: Jochmann, Werner: Gesellschaftskrise und Judenfeindschaft in Deutschland 1870-1945, Hamburg 1988; Rürup, Reinhard: Emanzipation und Antisemitismus. Studien zur „Judenfrage“ der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1987; Strauss, Herbert A. (Hg.): Hostages of Modernization. Studies on Modern Antisemitism 1870-1933/34. Germany – Great Britain – France, Bd. 1, Berlin 1993.
3 Vgl. beispielsweise: Schwoch, Rebecca: Ärztliche Standespolitik im Nationalsozialismus. Julius Hadrich und Karl Haedenkamp als Beispiele, Husum 2001, S. 92-132; Roth, Karl Heinz (Hg.): Erfassung zur Vernichtung. Von der Sozialhygiene zum „Gesetz über Sterbehilfe“, Berlin 1984. Weindling, Paul: Health, race and German politics between national unification and Nazism, 1870-1945, New York 1989; Czarnowski, Gabriele: Das kontrollierte Paar. Ehe- und Sexualpolitik im Nationalsozialismus (= Ergebnisse der Frauenforschung, Bd. 24), Weinheim 1991.
4 O.N.: Stenographischer Bericht über die Verhandlungen des 44. Deutschen Ärztetages am 9. und 10. September 1925 in Leipzig in der Aula der Leipziger Universität. Offizielles Protokoll, 2. Verhandlungstag, Hugo Dippe, ohne Titel, in: Ärztevereinsblatt 52 (1925), S. 61.

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