Titel
Berlin. Aufstieg einer Kulturmetropole um 1810


Autor(en)
Ziolkowski, Theodore
Erschienen
Stuttgart 2002: Klett-Cotta
Anzahl Seiten
326 S.
Preis
€ 22,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Flemming Schock, Fachbereich Geschichte, Universität Essen

Berlin ist mit den Thesen der Weltstadtwerdung und unabgeschlossener Identitätssuche wieder ein beliebtes Objekt der Stadtbiografen, zumal der ausländischen. Erst im vergangenen Jahr legte der amerikanische Historiker David Clay Large sein viel gelobtes Portrait der Stadt vor. Mit Theodore Ziolkowski zieht nun ein Germanist aus Princeton und namhafter Kenner der deutschen Kultur- und Geistesgeschichte nach. Sein Fokus ist ein anderer. An die Stelle einer klassischen Biografie tritt die zeitlich eng umrissene Momentaufnahme der Jahre 1810/11. Die politischen Umwälzungen werden nur am Rande berührt. Schon der Klappentext macht keinen Hehl aus Ziolkowskis Berlin-Begeisterung, spricht vollmundig von der „Metropole des Geistes und der Kultur“, von einer „Geniezeit der Geistesgeschichte“, erst ermöglicht durch das „hochkultivierte Berlin“. Bereits hier und dann in der Einleitung wird die gebeutelte Analogie vom „Spree-Athen“ bemüht. Das regt den Verdacht eines verklärenden Rückblickes, wo Begeisterung auch wieder einmal die Konstruktion des Preußen-Mythos bedeutet.

„Und es soll eine andere Ordnung der Dinge werden, da die alte sich überlebt hat […] Wir sind eingeschlafen auf den Lorbeeren Friedrichs des Großen“, zitiert Ziolkowski Königin Luise von Preußen. Damit geht es dem Germanisten nicht um den üblichen Fokus auf die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Reformen der Stein-Hardenbergschen Zeit, also um das vorwiegend Wahrgenommene zwischen den Polen von 1806/07 sowie der „glorreichen Erhebung“ (Ziolkowski) von 1812/13. Es geht hier vielmehr um die Jahre 1810/11 als geradezu einmalige historische Konstellation. Ziolkowski sieht das Berliner Geistesleben dieser Monate und die neuartigen Wege seiner Kommunikation als eine Art Inkunabel der Moderne. Erst sie habe „die Dekadenz von Jena“ überwunden und schließlich den nationalpatriotischen Geist der Befreiungskriege durch die Herausbildung einer „ästhetisierten communitas“, einer neuen Form von kollektivem Selbstbewusstsein möglich gemacht.

Die These des kulturellen Frühlings ist nun keine neue. Jedes der Zentralereignisse, anhand derer Ziolkowski eine geistige Topografie der Metropole entwirft, ist nicht nur einmal erzählt worden: ob es nun Heinrich von Kleists ‚Berliner Abendblätter’ sind, der Tod und mystische Kult Luises von Preußen, der freiheitliche Geist der neuen Universität oder das illustre Literatenduo von Arnim und Brentano – das sind lang gewälzte Themen. Ziolkowskis dezidiert kulturhistorische Perspektive macht sie uns in neuen Titeln schmackhaft. So ist in fünf Hauptkapiteln von „Bild und Wirklichkeit“, von der „Ästhetisierung des Todes“, der „Journalisierung der Kunst“, von der „Metaphorisierung des Wissens“ und von der „Literarisierung der Geselligkeit“ die Rede. Das klingt recht prätentiös und zeigt Ziolkowskis literaturwissenschaftlichen Hintergrund.

Aus dem Anspruch dieser leicht kryptischen Titel nun jedoch zu schließen, Ziolkowskis Bewusstseinsskizze der intellektuellen Elite Berlins würde nur ein Fachpublikum adressieren, ist irrig. Denn schon die Tatsache, dass „Berlin“ im Traditionsverlag Klett-Cotta erscheint, deutet an, was das Buch wirklich vorteilig umzusetzen vermag: es handelt von der literarisierten Öffentlichkeit zwischen Spätaufklärung und Frühromantik und es will sich auch ein breites, mentalitätsgeschichtlich interessiertes Publikum richten. Der Autor verfasste das Buch selbst in deutscher Sprache. Sie ist unprätentiös erzählend und mit Genuss zu lesen. So zeichnet sich die anschauliche Darstellung des amerikanischen Germanisten auch durch literarischen Rang aus.

Diese Qualität spiegelt sich auch auf der Einleitungsebene über die „literarisierte Topographie“ Berlins. Denn wenn Ziolkowski nach der Wirkung „ästhetischer“ Öffentlichkeit des damaligen Berlins fragt, hat er auf einer reflektierenden Metaebene auch darzulegen, wie und worin sich diese Wirkung bis heute artikuliert – „inwiefern die ‚Literarisierung’ mit der ‚Wirklichkeit’ korrespondiert“. Er fragt erhellend, ob das Bewusstsein des 21. Jahrhunderts überhaupt noch fähig sei, Städten „unvermittelt“ zu begegnen, wo doch mehr poetische Fiktion und „literarische Images“ am Werk seien und Blicke lenken. So lebt Berlin „seit zweihundert Jahren im Bewusstsein durch Künstler wie Schinkel“, Schriftsteller und weitere Kommentatoren der Zeit. Sie pilgerten nach der Katastrophe von Jena nach Berlin, bezeichnenderweise überwiegend in den von Ziolkowski behandelten Jahren: Fichte, Arnim, Adam Müller, Brentano, Schleiermacher, Savigny, Wolf und Niebuhr. Sogar der Hof kehrte aus dem Exil zurück.

Bevor Ziolkowski die Protagonisten des geistigen Netzwerkes auch in ihrem sozialen Sein auf die Bühne bringt, referiert er die bekannten Schlaglichter, die zur Voraussetzung zur ‚inneren Erneuerung’ Preußens wurden: das Bewusstsein für die Agonie des Alten, Fichte, sein „Projekt der Nationalerziehung“, der „Chor von Reformen“ und überhaupt der Willen, durch den Geist neu aufzusteigen und die Unterdrücker zu bekämpfen. So habe das alte, das aufgeklärte Preußen Friedrichs II. mit der Niederlage gegen Napoleon gar seinen „Peleponnesischen Krieg“ und mit dem „entehrenden“ Tilsiter Vertrag sein Ende in Asche gefunden. Mit antiker Größe stirbt ein preußischer Prinz Louis Ferdinand dann den „Heldentod“ bei Jena. Um damit die Chiffre des „Spree-Athens“, von dem bereits zur Mitte des 18. Jahrhunderts die Rede war, zu erklären, entwirft Ziolkowski die reizvolle, aber fragwürdig überdehnte Analogie zum Untergang Athens und dessen „intellektuelle Wiedergeburt“ aus der Asche.

Geschickt eingebunden in die These von der erziehenden Funktion der Dichtung als Charakteristikum der Epoche 1810/11 sind allgemeine Bemerkungen über die intellektuelle Variationsbreite der Zeit. Ziolkowski spricht über die „Ablösung der Hof- und Salonkultur durch neue Kollektive“ und über ein Bewusstsein, das die „nach innen gerichtete“ Dichtung der Klassik hinter sich ließ und Öffentlichkeit, „Gemeinschaftssinn“ nicht mehr in Salons, sondern in öffentlichen Räumen und Liedervereinen erlebte. Adam Müller protokolliert lapidar „eine[n] verbreiteten Antheil an den öffentlichen Angelegenheiten“. Bevor Ziolkowski mit der Aufregung um Luise von Preußen ein Zentralmotiv seines Buches als „Ästhetisierung des Todes“ genüsslich ausweidet, gibt er im äußerst lesenswerten Kapitel „Bild und Wirklichkeit“ Auskunft, wie Berlin, die „Sandstreubüchse des Heiligen Römischen Reiches“, als Landschaft vor den Augen des Zeitgenossen entsteht. Gefiltert werden selbst kleinste und kuriose kulturhistorische Details wie die Beschaffenheit des Straßenpflasters. In der „Stadt der jungen Leute“ kursierte Mystizismus, aber auch das Problem der Prostitution.

Das alles ist nur kurz belichtet, wird aber auf wenigen Seiten sprachlich derart gewandt und mit pointierten Zitaten entworfen, dass Ziolkowski das plastische Bild einer ruhelosen Stadt vermittelt. Streng folgt er der Chronologie der Monate und fängt Stimmungen, gerade auch bei der Rückkehr der toten Königin im Juli 1810, minutiös und glaubwürdig ein. Etwas fragwürdig wird Ziolkowskis Kategorie der „Kulturmetropole“ jedoch letztlich, wenn er sich seitenlang in der erschöpfenden Beschreibung des Rituals des Leichenzuges aufhält. Da er sich anschließend noch aufs Breiteste über die Formen der poetisierten Trauer und der „literarischen Verklärungen“ der Luise auslässt und die allgemeine Sentimentalität nach ihrem Tod als „gemeinschaftliche Katharsis des Volkes“ stilisiert, rutscht die übermäßig betonte „Königin der Herzen“ letztlich in den Kitsch. Was dann im Berlin jener Tage als die vom Titel doch nahe gelegte eigentliche ‚Hochkultur’ firmiert, poetische Koryphäen wie Arnim und Brentano, macht Ziolkowski wiederum am Luisen-Mythos fest, denn sie schrieben Trauerkantaten.

Mit literaturwissenschaftlicher Genauigkeit seziert Ziolkowski jene Kantaten, vergleicht im überzogenen Maße ihre poetischen Qualitäten und meint sogar in einem weiteren „literarischen Nachspiel“, in Kleists „Prinz Friedrich zu Homburg“ einen Reflex auf den Tod Luises zu erkennen. Ein stilistisches Merkmal des Buches ist die Aneinanderreihung der Lebensabrisse von Arnim, Brentano und Kleist und anderer. Durch diese biografischen Exkurse versäumt Ziolkowski zuweilen jedoch die Rückbindung an das Thema Berlin, wo es doch, wie Arnim meldet, „von Poeten geradezu wimmelte“. Nachdem der Kulturbegriff des Buchs anfangs eine weitläufige Perspektive für alle Lebenswelten der Stadt hat, verengt sie sich hier zusehends auf die altbekannten Helden der germanistischen Forschung. Aber Kleist wird uns im Kapitel „Journalisierung der Kunst“ mit seiner Gründung der ‚Berliner Abendblätter’ im Oktober 1810 als quasirevolutionärer Zeitungsmacher und Begründer der Berliner Boulevardpresse nahe gebracht: „etwas bisher Unerhörtes im deutschen Zeitungswesen“.

Im Unterkapitel der „Kunstausstellung von 1810“ sieht Ziolkowski ein „Vorzeichen unter besserer Zukunft“, sinniert unnötigerweise über Schwierigkeiten des Porträtmalens und stilisiert die Ausstellung als weiteres Zentralereignis öffentlicher Aufmerksamkeit. Es geht hier im Grunde wieder um die Bühne, auf der um der Namen willen von Clausewitz über Schinkel bis zum preußischen Kronprinz alle vertreten sind. Auch Letzterer entgeht einer Charakterisierung nicht, wobei sich Ziolkowski in fragwürdig psychoanalytischen Spekulationen ergeht: „Durch die Ästhetisierung des Todes und seiner eigenen Trauer erreicht er mit Hilfe der Kunst, was er von seinen Lehrern und seinem Vater nie bekommen konnte: Trost über den Verlust der Mutter“. An gravitätischen Wendungen spart Ziolkowski nicht. Neben den Protagonisten der literarischen Szene, um die sich die Unteren der Stadt wohl kaum geschert haben dürften, ruft Ziolkowski mit Fichte, Schleiermacher, Wolf, Niebuhr und Savigny die unverzichtbaren akademischen Leuchten auf den Plan und referiert im Schnelldurchgang ihre Lehren und Bedeutungen im Kapitel mit dem unerklärten Titel „Metaphorisierung des Wissens“.

Der Rückbezug auf die bemühte Luise kommt selbst im Kapitel über den ‚Geist’ der Universität nicht zur Ruhe. Die Eröffnung am Geburtstag des Kronprinzen soll ihr zur Ehre gefeiert worden sein. Wiederum lesenswert, weil übersichtlich und prägnant, gibt Ziolkowski Auskunft über die Gründungsphase der Universität, über „Stimmen der Opposition“, natürlich über den „Geist der Bildungsreform“ und Schleiermachers wie Humboldts Universitätskonzepte, aber selbst über Einzelheiten wie das Vorlesungsverzeichnis der ‚akademischen Stars’. All das verknüpft er auf elegante Weise mit der kommentierenden Reaktion in den ‚Abendblättern’ und der über das akademische Feld hinausgehenden Kontroverse, ob die neue, freiheitliche Universität nun dem Staat zu dienen habe oder nicht. Zusammen mit der trotz der beschneidenden Kürze lebendigen Porträtierung der „Helden des Katheders“ glückt ein Panorama der akademischen Kreise und des universitären Geistes, der nach Ziolkowski immer auch Kritik an der Gegenwart war.

Im vorletzten Kapitel „Die Literarisierung der Geselligkeit“ scheint Ziolkowski eine blamable Fehde zwischen Kleist und dem berühmten Iffland ebenso unter seinem variierenden Kulturbegriff zu summieren wie die Verlobung von Achim von Arnim mit Bettine Brentano. Hier zitiert Ziolkowski, wie in vielen anderen Passagen auch, sehr treffend aus Briefzeugnissen, die die jeweilige Szenerie lebendig machen. Schließlich wird der Bogen über die Beerdigungszeremonie der Königin, der erneut mit leicht redundanter Detailverliebtheit nachgezeichnet ist, zurück zum Kernanliegen des Buches geschlagen, die differenzierte Entdeckung der Öffentlichkeit nachzuzeichnen: „Auch wenn man nicht gerade die ‚Berliner Abendblätter’ las, die Kunstausstellung besuchte, einer Vorlesung beiwohnte, ins Theater ging oder sich die […] Weihnachtsaustellungen ansah, litt man im Berlin von 1810 – jedenfalls wenn man zur intellektuellen und kulturellen Elite gehörte – keinen Mangel an Unterhaltungsmöglichkeiten“. Schließlich habe Niebuhr ja nicht umsonst ausgerufen: „Hier ist das wahre Land der Besuche und Gesellschaften“.

Konzis benennt Ziolkowski die Merkmale dieser vielfältigen Gemeinschaftslandschaft, führt ein in die Kontroverse um die berühmt-berüchtigte „Deutsche Tischgesellschaft“, möchte sie im Kontext der anderen Gesellschaften sehen und konzediert schließlich: „die Bedeutung der Deutschen Tischgesellschaft besteht vor allem darin, dass sie […] alle bedeutenden Persönlichkeiten Berlins in dieser Zeit zusammenbrachte“. Geselligkeit, neue Formen der Öffentlichkeit, der geistige Transfer, eingebettet in anekdotenhafte kulturhistorische Details von Berlin – Ziolkowski gelingt es trotz genannter Kritik erfolgreich, auf nicht einmal dreihundert Seiten aus dem etwas willkürlich gewählten Zeitraum der eineinhalb Jahre ein fruchtbares, farbiges Buch vorzulegen. Das Anhangskapitel „Fiktionalisierung der Geschichte“ reflektiert literaturgeschichtlich aufschlussreich über die poetische Aneignung der Achsenjahre 1806/07 und 1812/13. Es nimmt auch Rückbezug auf Ziolkowskis Anfangsüberlegungen, wenn er nach der Mittelbarkeit des Bildes von Berlin fragt und die Faszination der oft unterbelichteten Jahre 1810/11 in den vielfachen Literarisierungen der damaligen Zeitgenossen sieht. Ziolkowski wird kaum Neues bieten, aber wie „Berlin“ es bietet, das ist empfehlenswert.

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