K.-H. Spieß: Das Lehnswesen in Deutschland

Cover
Titel
Das Lehnswesen in Deutschland im hohen und späten Mittelalter.


Autor(en)
Spieß, Karl-Heinz; unter Mitarbeit von Thomas Willich
Reihe
Historisches Seminar N.F. 13
Erschienen
Anzahl Seiten
188 S.
Preis
€ 18,30
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sven Kriese, Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt, Magdeburg

Als der jüngst zu Ende gegangene 73. Deutsche Archivtag in Trier endete, er hatte seinen thematischen Schwerpunkt auf dem Feld „Archive und Forschung“, durften zum Abschluss drei Historiker ihre Forderungen und Angebote an die Archive vorstellen. Gefolgt von Gerhard Fouquet und Rainer Hudemann eröffnete diesen Reigen der Bonner Mediävist Theo Kölzer, bekanntlich ein ausgewiesener Fachmann für Historische Hilfswissenschaften. Was er zu sagen hatte, war zum einen die Laudatio auf ‚sein’ Archiv - ein Archiv, das ihm, dem bekannten Mediävisten, offenbar so manche Sonderbehandlung einräumte und einräumt. Kölzer forderte in seinem Vortrag eine solche Sonderbehandlung für sich und andere Fachwissenschaftler vehement ein, hat er, der sich einst über die Urkundenfälschungen des Klosters St. Maximin vor Trier habilitierte, doch wiederholt den befruchtenden wissenschaftlichen Austausch mit ‚seinem‘ Archivar gepflegt: Datierungsfragen wurden diskutiert, paläographische und landesgeschichtliche Kenntnisse getauscht, Forschungsarbeiten gemeinsam betreut ...

Theo Kölzer, der leider nicht verriet, welches ‚sein’ Archiv ist, dozierte zudem über die in heutiger Zeit ungenügende hilfswissenschaftliche Ausbildung der angehenden wissenschaftlichen Archivare an der Archivschule Marburg. Besondere Schelte musste sich dabei ein fiktiver oder realer ehemaliger Referendar des Bundesarchivs gefallen lassen, welcher in einer Lehrveranstaltung des Gastdozenten Theo Kölzer der paläographischen Mühen unwillig war. Spott hatte Kölzer zudem für ein nordamerikanisches archivwissenschaftliches Projekt übrig, die Integrität von elektronischen Akten mit Hilfe von Erfahrungen aus der Diplomatik zu bewahren. Kölzer forderte schließlich die Anbindung zumindest der hilfswissenschaftlichen Ausbildung von angehenden wissenschaftlichen Archivaren an die universitäre Lehre. Die Notwendigkeit und die Chance für eine solche Rückkehr bzw. Hinwendung von Teilen der Archivarsausbildung an eine Hochschule sollen hier nicht diskutiert werden. An eines allerdings sei erinnert: Noch immer haben nahezu alle wissenschaftlichen Archivare, bevor sie ihr zweijähriges Referendariat zur Ausbildung für den höheren Dienst beginnen, einen Abschluss als Historiker erworben und sind promoviert bzw. arbeiten an ihrer Dissertation. Ist somit Kölzers Plädoyer für eine bessere hilfswissenschaftliche Ausbildung der wissenschaftlichen Archivare nicht auch eine Kritik an der eigenen Fachwissenschaft?

Wie man trotz abnehmender Lesefähigkeit der deutschen Geschichtsstudenten deren Interesse am Studium mittelalterlicher Quellen wecken könnte, haben überzeugend Karl-Heinz Spieß und Thomas Willich in dem vorliegenden Band „Das Lehnswesen in Deutschland im hohen und späten Mittelalter“ gezeigt, der weit mehr als nur eine Quellensammlung ist. Teil A bietet auf 45 Seiten eine ausgewogene Einführung in den Forschungskomplex Lehnswesen (begleitet von drei Bildzeugnissen, einer Grafik und zwei Karten), Teil B besteht aus der Wiedergabe der (bisweilen gekürzten) mittelalterlichen Textzeugnisse, Teil C enthält eine Auswahl von 11 Thesen, die verschiedene Meilensteine, aber auch jüngere Erkenntnisse des Forschungsfeldes memorieren. Eine Auswahlbibliographie (mit fast 250 Titeln) beschließt den Band.

Allein wegen des Teils A darf der Band zukünftig in keinem Proseminar zum Lehnswesen (oder allgemein zur mittelalterlichen Herrschaft) fehlen. Neben einem knappen Abriss zur Forschungsgeschichte skizziert Spieß die wichtigsten Elemente des Lehnswesens (besondere Beachtung - nicht zuletzt für die ausgewählten Quellen - verdient der Abschnitt mit den Sonderformen: Auftragslehen, Rentenlehen und Pfandlehen sowie Burglehen), stellt den König als Lehnsherrn vor, beschreibt das Lehnswesen als Stütze der Landesherrschaften und wagt schließlich einen Ausblick auf die sozialen und kulturellen Komponenten des Systems. Natürlich kann dieser Text die berühmte Einführung in das Lehnswesen aus der Feder von François Louis Ganshof nicht ersetzen - schon deshalb nicht, weil sich Spieß und Willich auf das deutsche Gebiet beschränken -, jedoch wird er sie hervorragend ergänzen: Stärker als in Ganshofs rechtssystematischer Darstellung treten neben die Erläuterung der Normen ‚Wirklichkeiten’ des Systems; anders als bei Ganshof liegt das Gewicht des Text- und des Quellenteils auf dem Spätmittelalter, wodurch erst das Lehnswesen in den Territorien mit seinen spezifischen Charakterzügen in den Blick gerät. Eine solche Fokussierung ist nicht zuletzt deshalb besonders zu begrüßen, weil doch gerade das spätmittelalterliche Lehnswesen jene Fülle urkundlicher Überlieferung hervorgebracht hat, deren Masse die meisten Urkundenarchive dominiert und genügend Raum für hilfswissenschaftlich orientierte Arbeiten zur Mittelalterforschung bietet.

Teil B, der Hauptteil des Bandes, für den vornehmlich Thomas Willich verantwortlich zeichnet, besteht aus der chronologisch geordneten Wiedergabe von 73 mittelalterlichen Textzeugnissen zu 67 ausgewählten Lehnsakten (fast vier Fünftel dieser werden durch Urkunden präsentiert). Lateinische und deutsche Texte halten sich in etwa die Waage, den lateinischen ist jeweils eine Übersetzung beigegeben. Diese hat Willich entweder einschlägigen Veröffentlichungen entnommen (und mitunter nachgearbeitet), so den beiden Quellensammlungen Lorenz Weinrichs zur Verfassungsgeschichte in der Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe (Bände 32 und 33). Vor allem aber hat er für den Großteil Übersetzungen erst angefertigt, wobei er bemüht war, nahe an der Vorlage zu bleiben. Natürlich werden die Quellen nicht als kritische Editionen dargeboten, dies wäre dem Anliegen des Bandes auch nicht angemessen, jedoch enthält jeweils ein knapper Einleitungsteil neben dem Kopfregest einen Verweis auf die maßgebliche Edition (zudem finden sich vier Ersteditionen) sowie - bei Bedarf - ein Regest und den Urheber der Übersetzung. Eine weitere, nahezu durchgängige Rubrik enthält Hinweise „zur Sache“, die in unterschiedlicher Intensität geboten werden: Zumeist handelt es sich um flankierende Literatur, bisweilen liefert Willich knappe sachbezogene Erläuterungen.

Bei der Auswahl der Quellen wurde vermieden, eine Zusammenstellung der bekanntesten Textzeugnisse zum Vasallen- bzw. Lehnswesen zu publizieren. Gerade darin aber, insbesondere in der starken Beachtung weniger bekannter urkundlicher Belege liegt die Stärke des Bandes für eine Nutzung in der universitären Lehre. Natürlich finden sich einige der berühmtesten urkundlichen Akte bzw. Aufzeichnungen zum Lehnswesen: So wird die Sammlung eröffnet durch Konrads II. Gesetz über die Rechtsverhältnisse der (norditalienischen) Lehnsträger von 1037 (Q 1), es folgt die Wormser-Konkordatsurkunde Calixts II. von 1122 (Q 2), Lothars I. Gesetz von Roncaglia 1136 über die Entfremdung von Lehen (Q 3), das Privilegium minus von 1156 (Q 4), Friedrichs I. Lehnsgesetz von Roncaglia aus dem Jahre 1158 (Q 5), Barbarossas Gelnhäuser Urkunde von 1180 (Absetzung Heinrichs des Löwen) für Erzbischof Philipp von Köln (Q 8), desselben Kaisers Vertrag von 1184 mit Balduin von Hennegau zur Errichtung der Markgrafschaft Namur (Q 10), Auszüge aus dem Lehnsbuch Werners II. von Bolanden (Q 12), die chronikalischen Belege zu Heinrichs VI. ‚Erbreichsplan’ von 1196 (Q 13), Auszüge aus dem Sachsenspiegel (u.a. die ‚Heerschildordnung’; Q 15), schließlich Auszüge aus der Goldenen Bulle (Q 40) sowie dem Privilegium maius (Q 41) etc.

Ohne die großen Ereignisse der Geschichte des Lehnswesens außer Acht zu lassen, durchbrechen Spieß und Willich im Verlauf ihrer Auswahl zunehmend die Beschränkung auf die königlich-fürstlichen Beziehungen. Nunmehr berücksichtigen sie verstärkt Texte (zumeist urkundliche aus den ihnen besonders vertrauten Räumen Südwestdeutschlands, Norddeutschlands und Österreichs), welche die Vielfalt der Lehnsbeziehungen des spätmittelalterlichen Landesherren mit seinen Untertanen bzw. Vasallen beleuchten: Auflassung und Lehnsnahme, Burglehen und Burgmannschaft, After- und ligische Lehen, Lehen und Erbrecht, Pfandlehen, Renten- und andere Geldlehen, Lehen von Bürgern etc.

Eine Auswahl von 11 zumeist berühmten Thesen zum Komplex Lehnswesen beschließt den Band. In Form von (zusammengezogenen) Textzitaten kommen zu Wort: Heinrich Mitteis (zweimal), Marc Bloch, Wilhelm Ebel Werner Goez, Karl-Friedrich Krieger, Wolf-Rüdiger Berns, Susan Reynolds, Steffen Schlinker, Bernhard Diestelkamp sowie Karl-Heinz Spieß selbst.

Der Band wird mit seinem straffen Textteil in einführenden Seminaren des Mittelaltersstudiums für den Bereich Lehnswesen die Arbeit von Ganshof ergänzen. Er kann mit seinen Materialien erste entsprechende Quellenstudien unter Anleitung eines Universitätslehrers ermöglichen und jenen Studenten, die nur ihren ‚Schein’ in der Mediävistik machen wollen, exemplarisches Quellenmaterial für eine theoretische Auseinandersetzung mit einer der 11 Thesen bieten. Vor allem aber dürfte der Band in seiner Gesamtheit interessierten Studenten Appetit machen, sich verstärkt der Mediävistik oder speziell dem Lehnswesen zu widmen: verwandte Quellen im Kontext der Forschungsschwerpunkte auszuwerten (und selbst zu übersetzen oder, nicht minder schwierig, im spätmittelalterlichen Deutsch verstehen zu lernen), sich dabei regionale oder thematisch gewichtete Schwerpunkte zu setzen und so zu einer quellenbasierten Belegarbeit zu gelangen. Solches wird den einen oder anderen Studenten fesseln und zu einem angehenden Historiker machen, der schon früh Erfahrungen mit der Quellenarbeit gesammelt hat. Und es ist zu hoffen, dass einige der Auszubildenden dabei neugierig auf das Quellenmaterial werden und sich nicht mehr nur mit der Auswertung von Editionen zufrieden geben, sondern das erste Mal den Weg in ein Archiv wagen. Sicher wird nicht jeder der so begeisterten Studenten ein neuer Ganshof, ein neuer Kölzer, ein neuer Spieß oder ein neuer Willich. Aber vielleicht wird Theo Kölzer, sollte er dereinst noch einmal in die Ausbildung von Referendaren des Archivwesens eintreten, erstaunt feststellen können, dass die hilfswissenschaftliche Vorbildung der Referendare so gut ist, dass diese trotz des stetig sich ausweitenden Unterrichtsanteils der verwaltungswissenschaftlichen Fächer an der Archivschule Marburg auch hervorragende Hilfswissenschaftler sind.

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