R. Herz, Die "Reise ins gelobte Land" Hans Tuchers d. Ä.

Cover
Titel
Die ,Reise ins Gelobte Land' Hans Tuchers des Älteren 1479-1480. Untersuchungen zur Überlieferung und kritische Edition eines spätmittelalterlichen Reiseberichts


Autor(en)
Herz, Randall
Reihe
Wissensliteratur im Mittelalter 38
Erschienen
Wiesbaden 2002: Reichert Verlag
Anzahl Seiten
XVIII + 794 S.
Preis
€ 63, -
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jacob Klingner, Germanistisches Seminar, Freie Universität Berlin

Die 1482 erstmals im Druck erschienene ‘Reise ins Gelobte Land’ des Nürnberger Ratsherrn Hans Tucher des Älteren (1428-1491) ist einer der bedeutendsten spätmittelalterlichen Reiseberichte. Als praktisches Reisehandbuch konzipiert, erreichte das Werk, das noch zu Lebzeiten des Autors in sechs Ausgaben erschien, den „Rang eines mittelalterlichen Baedeker“ (XIV). Umso verwunderlicher ist daher die bisher ungenügende wissenschaftliche Erschließung des Textes.1

Das vorliegende Buch schließt die Forschungslücke gleich in zweifacher Hinsicht. Zum einen gibt Randall Herz in seiner Dissertation einen Abriss der Überlieferung und geht im Speziellen auch auf die Umstände der Textentstehung ein. Zum anderen stellt er der Forschung erstmals eine kritische Textausgabe zur Verfügung (S. 327-794).2

Der erste Teil der Arbeit (S. 1-336) beginnt mit einem knapp gehaltenen Forschungsüberblick. Es folgt die ausführliche Verzeichnung und Beschreibung der Überlieferungszeugen, getrennt nach Handschriften und Drucken. Die handschriftliche Überlieferung zerfällt demnach in mehrere Gruppen: Fünf der Handschriften sind autornah entstandene „Vorfassungen“ des wohl von Beginn an für den Druck bestimmten Berichts, weitere sechzehn sind spätere Abschriften der Inkunabeldrucke, der Exzerptdrucke oder der Drucke des „Reyßbuch deß heyligen Lands“, die im 16. und 17. Jahrhundert den Tucherschen Bericht in den Rahmen einer größeren Textzusammenstellung einfügen. Zwei Handschriften bieten eigentümliche Mischtexte aus Tuchers Bericht und dem seines Reisegefährten Sebald Rieter d. J. Herz verzeichnet deshalb auch die gesamte (ausschließlich handschriftliche) Rieter-Überlieferung. Aus der hier skizzierten Überlieferungslage wird deutlich, dass eine (disziplinär begründete) Trennung von Handschriften- und Drucküberlieferung dem Tucherschen Bericht nicht gerecht werden kann. Herz hält sich dennoch an handschriftenkundliche Konventionen und sortiert zunächst alle Handschriftenbeschreibungen alphabetisch nach Sigle. Druckabschriften stehen so vermischt mit den Arbeitsmanuskripten des Autors und den synthetisierenden Tucher-Rieter-Mischtexten, allen Handschriften wird die selbe ausführliche Behandlung zuteil. Dabei hätte sich aus der Einsicht der grundsätzlichen Unterschiede zwischen den autornahen handschriftenabhängigen und den druckabhängigen Textzeugen auch methodisch eine klare Trennung und gegebenenfalls auch Hierarchisierung angeboten. Warum wurden die Druckabschriften nicht knapper zusammen mit der jeweiligen Drucküberlieferung erfasst? Weit übersichtlicher, weil chronologisch und systematisch gruppiert, stellt Herz anschließend die Tucher-Drucke vor. Ein methodischer Pluspunkt sind die Exemplarnachweise für jede Ausgabe, denn auch bei der Drucküberlieferung ist ja zunächst einmal von der Individualität jedes einzelnen überlieferten Exemplars auszugehen. Herz unterstreicht diesen Punkt nicht zuletzt dadurch, dass er einige „bibliographische Erfindungen“ (S. 190) als solche entlarvt und eine bisher unerkannte Zweitauflage eines Tucher-Exzerpts identifiziert.

Es muss als besonderer Glücksfall gelten, dass sich fünf autornahe und zum Teil autographe Handschriften des Tucherschen Reiseberichts erhalten haben. Wie bei kaum einem anderen Werk der Inkunabelzeit erlauben sie eine detaillierte Rekonstruktion des Redaktionsprozesses, der der Drucklegung vorausging und sie begleitete. Herz stellt die Entstehungsgeschichte aber nicht nur auf der Basis der einzelnen handschriftlichen Redaktionsstufen dar, sondern beschreibt auch die Textveränderungen, die in der von Tucher bemängelten ersten Druckauflage zu finden sind und die zur zweiten, der emendierten Nürnberger Druckausgabe führten (S. 195-250). Damit gewinnt die Untersuchung exemplarischen Wert für die Erforschung redaktioneller Vorgänge im anbrechenden Druckzeitalter und stellt einen Fall spätmittelalterlichen marktorientierten Produktdesigns vor.

Herz setzt als Beginn der konzeptionellen und redaktionellen Arbeit am Reisebericht einen neu aufgefundenen Brief Tuchers an seinen Bruder, geschrieben und abgeschickt in Jerusalem 1479, also noch während der Pilgerreise. Schon kurz nach der Rückkehr 1480 liegt eine erste Redaktion des Gesamttextes vor. Sie basiert - hier bestätigt Herz frühere Forschungen - in weiten Teilen auf dem Bericht seines Reisegefährten Sebald Rieter d. J. Tucher arrangierte diesen Text jedoch neu und montierte eigene Aufzeichnungen wie auch Elemente fremder Quellen ein. Deutlich ist bereits in diesem Stadium die neuartige Konzeption des Berichtes als Reisehandbuch, das nachfolgenden Pilgern praktische Reiseinstruktionen vermitteln sollte.
In einer zweiten Redaktionsstufe fügte Tucher weitere Exzerpte und praktische Hinweise aus eigenen und fremden Quellen ein, wie Rezepte oder einen Muster-Schiffsvertrag. Im Manuskript dieser Bearbeitungsstufe sind umfangreiche autographe Korrekturen erhalten, die zeigen, wie Tucher sich etwa um eine konsequente Verdeutschung arabischer oder italienischer Fachbegriffe und folglich um eine Anpassung des Berichts an ein breiteres, nicht vorgebildetes Publikum bemühte.
In der Handschrift der dritten Bearbeitungsstufe (Sigle N) liegt schließlich das Druckmanuskript vor. An ihr weist Herz nicht weniger als vier Korrekturvorgänge nach. Neben Tucher kann Herz eine weitere Korrekturhand dem Nürnberger Ratsschreiber Jörg Spengler zuordnen, der sich - wohl im Auftrag Tuchers - um die stilistische und sprachliche Glättung des Textes kümmerte. Besonders aufschlussreich sind Spenglers kritische Anmerkungen zu Passagen, die den Verständnishorizont des intendierten Publikums überfordern, z.B. „Hie ist diß dem gemeynen mann unverstendig“ (S. 222). Neben Spengler scheint noch ein weiterer Korrektor problematische Stellen im Manuskript gekennzeichnet zu haben. Schließlich sind auch letzte kleinere Hinzufügungen Tuchers zu finden.
Als eine der wenigen heute noch erhaltenen Druckvorlagen der Inkunabelzeit bietet N darüber hinaus die Seiten- und Lagenkennzeichnungen, die der Augsburger Erstdrucker Johann Schönsperger zur Vorausberechnung des Druckumfangs und als Vorgabe für den Setzer in das Manuskript eingetragen hat. Zudem finden sich auch die entsprechenden Markierungen des Druckers der zweiten Ausgabe, Konrad Zeninger. Herz macht wahrscheinlich, dass der Nürnberger Zeninger sowohl die Handschrift N als auch ein von Tucher korrigiertes Handexemplar des Druckes als Setzervorlage benutzte.

Nachdem Herz den Redaktionsprozess des Reiseberichts vom ersten Entwurf bis zur „Ausgabe letzter Hand“ nachgezeichnet hat, beschäftigt er sich nur noch recht knapp mit den weiteren Druckausgaben. Herz bespricht in einem weiteren eigenen Kapitel das Verhältnis der Reiseberichte von Tucher und Rieter und betont Tuchers Autorleistung (S. 250-256). Dabei war durch den Aufweis der aufwändigen, konzeptionell konsistenten Korrekturvorgänge die in der älteren Forschung häufig diskutierte Frage nach der eigenständigen Leistung Tuchers bei der Entstehung des Textes eigentlich schon beantwortet.

Ein letzter, größerer Abschnitt des Untersuchungsteils gilt der Auswertung der druckabhängigen handschriftlichen Überlieferung im Hinblick auf Rezeption und Gebrauchssituation. Es ist der am wenigsten überzeugende Teil der Arbeit, weil unklar bleibt, welchen Stellenwert die druckabhängige Überlieferung im Rahmen der Gesamtüberlieferung hat. Tuchers Reisebericht war als Druck konzipiert und als solcher äußerst wirkungsmächtig. Eine Auswertung, die sich nur auf die druckabhängigen Handschriften bezieht, kann nur sehr eingeschränkte Aussagen zu Rezeptionsinteresse und Gebrauchszusammenhängen machen - das sieht auch Herz (S. 276). Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn Herz sich diesen Untersuchungsteil für eine spätere, eigenständige Behandlung aufgehoben hätte. Das entsprechende Material zur Drucküberlieferung wird wohl die „Studie zur Drucküberlieferung des Tucherschen Reiseberichts“ enthalten, die Herz im Literaturverzeichnis als in Vorbereitung befindlich ankündigt (S. 711). 3

Als Anhänge sind Diagramme und Stemmata beigegeben, auf die allerdings im Text an den entsprechenden Stellen nicht hingewiesen wird. Ein Provenienzverzeichnis, Sachregister, Autoren und Mitüberlieferungsregister beschließen den Untersuchungsteil der Arbeit.

Der Editionsteil bietet den diplomatisch transkribierten Text der Leithandschrift N. Herz begründet sein Festhalten an der Handschrift damit, dass hier das Ergebnis der Textentwicklung in der von Tucher dem Drucker übergebenen Form vorliegt. Man könnte einwenden, dass erst die Nürnberger Ausgabe von Zeninger die Reihe der von Tucher begleiteten Redaktionen beschließt, sie folglich als „Ausgabe letzter Hand“ zu gelten hat (die überdies, das ist ein Ergebnis der vorangehenden Untersuchung, nicht ausschließlich auf N basiert).
Indem er N zur Grundlage wählt, erleichtert sich Herz aber die Darstellung der Textgenese in den Apparaten. In einem ersten Apparat sind die redaktionellen Vorstufen zu N verzeichnet. Der zweite Apparat enthält die Setzer- und Druckermarkierungen, der dritte bringt schließlich die Druckvarianten der ersten beiden Drucke (diese Varianten sind auch noch einmal im Register zum Editionsteil aufgeführt). Die Grundlagen zu der im Untersuchungsteil gebotenen Textgeschichte lassen sich also vollständig - wenn auch mühsam - der Ausgabe entnehmen. Der vierte Apparat ist ein hilfreicher Stellenkommentar zum Reisebericht.

Die vorliegende Textausgabe ist ein großer Gewinn für die germanistische und kulturhistorische Forschung. Die Dissertation überzeugt darüber hinaus vor allem in der akribischen Auswertung der „Arbeitsmanuskripte“ und der Darstellung der Entstehungsgeschichte des Textes. Leider wirkt der Untersuchungsteil im Aufbau nicht immer ausgewogen. Im Überlieferungskapitel, besonders aber im letzen Viertel der Arbeit scheint Herz zu sehr an der Ausbreitung seines Materials interessiert, anstatt eine strukturierende, im Interesse des Lesers straffende Form zu suchen. Etwas unglücklich ist, dass im letzten Kapitel zur Einordnung der handschriftlichen Überlieferung deutlich hervortritt, wie dringlich hier eine Einbeziehung der Drucküberlieferung gewesen wäre. Es versteht sich, dass diese Herkulesaufgabe im Rahmen der Dissertation nicht zu leisten war. Nicht nur in dieser Hinsicht ist jedoch der weiteren Beschäftigung mit Tuchers Reisebericht durch das vorliegende Buch der Weg gebahnt: Es darf als Grundstein einer neuen „Tucher-Philologie“ gelten.

Anmerkungen:
1 Vgl. als jüngsten Versuch einer Auswertung den Artikel von Ulrike Bausewein, Randall Herz et. al., Deutsche und niederländische Pilgerberichte von Palästinareisenden im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit, in: Wissensliteratur im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Bedingungen, Typen, Publikum, Sprache (= Wissensliteratur im Mittelalter 13), hsg. v. Horst Brunner; Norbert Richard Wolf, Wiesbaden 1993, S. 132-155, hier S. 142-155.
2 Bisher stand - neben den Druckexemplaren des 15.-17. Jahrhunderts - nur ein fehlerhaftes Faksimile der fehlerhaften Straßburger Ausgabe von 1484 bereit: Erhard Pascher (Hg.), Das Reisebuch des Hans Tucher (= Armarium. Beiträge zur Kodikologie und den Historischen Hilfswissenschaften 3), Klagenfurt 1978.
3 Vgl. auch die Ankündigung auf <http://www.stadtarchiv.nuernberg.de/Publ_Vorb.htm> unter dem Titel: Studien zur Drucküberlieferung der &#8218;Reise ins gelobte Land&#8217; Hans Tuchers d. Ä. Bestandsaufnahme und historische Auswertung der Inkunabeln unter Berücksichtigung der späteren Drucküberlieferung (= Quellen und Forschungen zur Geschichte und Kultur der Stadt Nürnberg), voraussichtlich Nürnberg 2002.

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