Titel
Dominare tempi inquieti. Storia costituzionale, politica e tradizione europea in Otto Brunner


Autor(en)
Consolati, Isabella
Erschienen
Bologna 2020: Il Mulino
Anzahl Seiten
216 S.
Preis
€ 21,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Brigitte Mazohl, Institut für Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie, Universität Innsbruck

Schon mit Titel des vorliegenden Bandes wird – in Anlehnung an ein Zitat von Fernand Braudel (S. 7) – der Hauptfokus angedeutet, auf den die Verfasserin ihr Augenmerk richtet: Sie interessiert sich weniger für den Historiker Otto Brunner als für sein politisches Denken; dafür, wie seine jeweilige Gegenwart dieses Denken geprägt hat, da sich Brunner über alle Brüche hinweg stets der Gegenwart verpflichtet fühlte. Die „unruhigen Zeiten“, die er durchlebte und als Historiker zu bewältigen versuchte, spiegelten sich in seinem Werk deutlich wider.

Seit den Übersetzungen der wichtigsten Schriften Brunners durch Pierangelo Schiera und Giuliana Nobili-Schiera in den Publikationsreihen des Istituto Storico Italo-Germanico in Trient in den 1970er-Jahren, ist in Italien das Interesse an diesem – im deutschen Sprachraum bis heute umstrittenen – Historiker und, wie man nach der Lektüre von Consolatis wegweisender Studie behaupten darf, politischen Denker nicht erloschen.1 Für die Autorin, Professorin für Storia delle dottrine politiche an der Universität Bologna, die sich bereits mit ihrer Dissertation über die Anfänge der deutschen geographischen Wissenschaften einen Namen gemacht hat2, geht es darum, Brunners „vero volto“ (wahres Gesicht), das für sie ein politisches ist, zu erkennen und zu analysieren (S. 7). Dennoch und wohl auch dank ihrer italienischen „Außenperspektive“ ist es ihr gelungen, sich von den kontroversen Debatten um die Einschätzung von Brunners NS-Zugehörigkeit in wohltuender Distanz zu halten, nicht ohne dabei die „nodi cruciali“ (die entscheidenden Knotenpunkte) von Brunners politischem Denken kritisch zu sehen. Denn Brunners Reflexionen über die Persistenz von Herrschaft in der Geschichte verdankten sich, so Consolati, trotz seines unbestrittenen Verdienstes für das Denken über das Politische in der Geschichte einer systematischen Leugnung des Aktionsraumes und der historischen Legitimität („lo spazio di azione e la legittimità storica“) jener „Subjekte“, die gegen diese Herrschaft angekämpft haben und ankämpfen und damit verhindern, dass sich diese Herrschaft als Struktur ein für allemal festigt (S. 14). Damit ist – über die Zäsur von 1945 hinweg, die sie in seinem Werk trotz zahlreicher äußerlicher Neuorientierungen nicht zu erkennen vermag – Brunner als politischer Denker beschrieben, dessen Idealisierung einer „alteuropäischen“ Ordnung mit ihrem universal-christlichen Ethos sich einer durchwegs elitären Grundhaltung verdanke. Dabei spielte es kaum eine Rolle, dass er diese Herrschaftsordnung vor 1945 im Deutschen Reich und im germanischen Recht, nach 1945 in „Alteuropa“ verwirklicht sah.

Auch wenn Brunner keine explizit politologischen Schriften verfasst hat, so weisen ihn doch seine Auseinandersetzungen mit wichtigen Theoretikern seiner Zeit wie Max Weber, Carl Schmitt, Hans Freyer und Otto Giercke sowie seine Historisierung des Politischen (und seiner Begriffe) als bedeutenden und einflussreichen politischen Denker aus. Es greife daher zu kurz, Brunner nur auf das Mittelalter und die von ihm insbesondere in „Land und Herrschaft“3 entwickelte Methodologie zu reduzieren.

Ein erstes Hauptkapitel kreist daher auch um die Kernfrage, wie Brunner als Zeitgenosse vor und nach 1945 das Politische (als Herrschaftsbeziehung) in Geschichte und Gegenwart (in ihrer Wechselwirkung) interpretiert hat („Sulla storia del politico´“). Consolati betont, dass die Kritik an den modernen, im 19. Jahrhundert und dann vor allem von der Soziologie um 1900 entwickelten Begriffen für Brunner über die Zäsur von 1945 hinaus ein zentrales Thema blieb. Während er jedoch in den 1940er-Jahren gehofft hatte, der NS-Staat werde die Kontinuität zum „alten Deutschland“ über den „Irrweg“ des 19. Jahrhunderts hinweg wiederherstellen, erkannte er 1945 die gewandelte Gegenwart an, hielt deren Begrifflichkeit aber immer noch für ungeeignet, das Phänomen der Grundherrschaft in der Frühen Neuzeit, die eben – im Gegensatz zum modernen Staat auf Gegenseitigkeit beruht habe – zu erklären. Beispielhaft dafür wird eine Passage aus „Land und Herrschaft“ der unterschiedlichen Ausgaben von 1939 und 1959 angeführt, in der Brunner an Stelle der (zuvor ungeeigneten) Begriffe von „Klassenkampf“ und „Volksgemeinschaft“ (1939) die (nun ebenso ungeeigneten) Begriffe von „Gesellschaft“ und „Gemeinschaft“ setzte, um erneut zu betonen, dass es sich bei der Grundherrschaft um eine Form von „Herrschaft“ handele, „die ihre eigenen Strukturgesetze hat“ (S. 67).

Wie schwierig bei all diesen Reflexionen die Übersetzungsfrage ist, zeigt sich allein an den von Consolati synonym verwendeten Begriffen „signoria“ und „dominio“ für „Herrschaft“, während in der Übersetzung von „Land und Herrschaft“ auch der Begriff „potere“ verwendet wurde.4 Consolati handelt diese wichtige Übersetzungsproblematik lediglich in einer kurzen Fußnote ab (Anm. 9, S. 19), ohne zu thematisieren, dass sich hinter der mangelnden Eindeutigkeit der italienischen Begrifflichkeit auch die Tatsache unterschiedlicher historischer Herrschaftsphänomene verbirgt. Falls Übersetzungen vorliegen, zitiert sie diese im italienischen Original mit Verweis auf die entsprechende Belegstelle in den deutschen Ausgaben. Sie scheut aber auch nicht vor der eigenen Übertragung aller nur in deutscher Sprache vorliegenden Zitate zurück, was für eine – zu empfehlende – künftige Übersetzung wohl einige Schwierigkeiten mit sich bringen wird.

Überzeugend wird bereits in diesem ersten Kapitel ein Grundwiderspruch im Brunnerschen Werk sichtbar: Die „Alterität“ des Mittelalters, der man sich mit den modernen Begriffen nicht annähern könne, ziehe sich als roter Faden durch „Land und Herrschaft“, gleichzeitig sei die Kenntnis dieser „Alterität“ Voraussetzung dafür, die jeweilige Gegenwart zu verstehen (S. 21). In diesem Spannungsfeld bewegt sich Brunners ganzes Werk, das nun – nach 1945 – nicht mehr auf eine „germanische“ Vergangenheit, sondern auf „Alteuropa“ ausgerichtet gewesen sei. Auf die kontroverse Debatte um die politische Einordnung Brunners geht Consolati nur insofern ein, als sie ihn einerseits in einer groß-/gesamtdeutschen Tradition verortet, zugleich aber betont, wie stark er sich auch von der Volkstumspolitik des „Dritten Reiches“ hatte in Dienst nehmen lassen (S. 29f.). Dennoch bleibe es sein Verdienst, jenseits des modernen Staates gedacht und damit den Staatsbegriff insgesamt historisiert zu haben. Ausführlich wird in diesem Kapitel auf die Auseinandersetzung mit Hans Freyer und seinen Konzepten vom „politischen Volk“ (als Alternative zur Nation) und von „Wirklichkeitswissenschaft“ eingegangen, da Brunner bei anderen soziologischen Denkern den „konkreten“ Bezug zur Geschichte vermisste. In der kritischen Auseinandersetzung mit Carl Schmitt hingegen habe Brunner dessen „Verfassungs“-Begriff in umfassenden Sinne erweitert: Hier zitiert Consolati eine der seltenen Brunnerschen Definitionen des – nicht in unterschiedliche Sphären zu separierenden – „Politischen“ aus einer (später eliminierten) Fußnote der Ausgabe von „Land und Herrschaft“ von 1939 (S. 46).

Im zweiten Hauptkapitel („Storia e struttura della razionalità europea“) wird Brunners Nachkriegsverhältnis zum soziologischen Paradigma des europäischen Rationalisierungsprozesses behandelt, als Brunner anstelle des Begriffs „Volksgeschichte“ den Strukturbegriff einführte. Consolati sieht darin nicht nur einen opportunistischen Schachzug, sondern den Schlüssel dafür, wie Brunner das Verhältnis von Politik und Geschichte nach dem Krieg neu dachte. Jetzt trat angesichts des europäischen Einigungsprozesses Europa in den Vordergrund, und trotz aller nötigen Distanzierung von der Zeit des Nationalsozialismus blieb Brunner seinen Grundkonzepten treu. Nun gewann das Alte Reich vermehrt Interesse, obwohl Consolati zeigt, dass sich Brunner in seinen unpublizierten Schriften bereits früh mit dem Reich und seinem „ordinamento sovranazionale“ (seiner supranationalen Ordnung) (S. 77) auseinandergesetzt hat, ohne dass dieser Thematik in „Land und Herrschaft“ breiter Raum eingeräumt worden wäre. Das Alte Reich habe nun gewissermaßen eine „europäische Mission“ für ein „postnationales Europa“ zu erfüllen (S. 78), nachdem die Nationalstaaten (und deren Zerfall) das Volk (im Sinne von Hans Freyer als „politisches Volk“) zur „Nation“ hatten verkommen lassen. Ausführlich setzt sich Consolati in diesem Kapitel mit Brunners Kritik an Max Weber im Zusammenhang mit dessen Kapitalismustheorie, mit dem Einfluss von Freyer auf die Gründung des „Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte“ (1956) und mit seinem Verhältnis zu Vertretern des Ordo-Liberalismus wie Alfred Müller-Armack und Walter Eucken auseinander. Wilhelm Heinrich Riehl, dem Brunner die Metapher vom „ganzen Haus“ verdankte, ist ihr dabei überraschenderweise keine Erwähnung wert (S. 103ff.).

Das dritte Kapitel thematisiert Brunners idealisiertes alteuropäisches Adelsethos („Ethos, Ideologia, Tradizione“), das im Gegensatz zu den modernen Ideologien eine historische Kraftquelle gegen die fragmentierten Gesellschaften der Gegenwart sein könne – ebenso wie gegen die katastrophale „Mythologisierung des Volkes“, wie er sich nach 1945 kritisch gegenüber der NS-Ideologie äußerte. Grundlage für Consolatis Analysen sind Brunners wichtigste Werke in ihren unterschiedlichen Auflagen, aber auch unpublizierte Schriften, die die Autorin im wissenschaftlichen Brunner-Nachlass in Hamburg eingesehen hat. Die Fülle des Materials und die Gründlichkeit der Analysen sind beeindruckend, die Gliederung ist nicht immer ganz einsichtig, weil ähnliche Themen immer wieder in neuen Kontexten aufgegriffen werden. Ein gravierender Nachteil ist das Fehlen von Bibliografie und Quellenverzeichnis: Der überaus dichte Text erschließt sich nur durch ein Namenregister. In der knappen Einführung (S. 7-14) werden allerdings die wichtigsten Ergebnisse zusammengefasst.

Anmerkungen:
1 1970 erschien die italienische Übersetzung von „Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte“ (nach der ersten Auflage 1956), 1972 diejenige von „Adeliges Landleben und Europäischer Geist“ (1949) und 1983 – nach der Auflage von 1965 – „Land und Herrschaft“. 1987 wurde eine internationale Tagung über Brunners Werk am Institut in Trient organisiert, deren Ergebnisse in den Annali / Jahrbuch des Instituts 13 (1987) veröffentlicht wurden.
2 La prospettiva geografica. Spazio e politica in Germania tra il 1815 e il 1871, Roma 2016 (Studi sulla comunicazione politica, 8).
3 In Anm. 9 (S. 19) erläutert Consolati genauer, auf der Grundlage von welchen Auflagen ihre Analyse beruht. Sie arbeitet mit den (deutschsprachigen) Ausgaben von 1939 und 1943, sowie mit der italienischen Übersetzung von 1983 auf der Grundlage der deutschsprachigen Ausgabe von 1965, die mit der Ausgabe von 1959 identisch ist.
4 Terra e potere. Strutture pre-statali e pre-moderne nella storia costituzionale dell´Austria medievale, Milano 1983.

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