S. Schütz: Die Konstruktion einer hybriden "jüdischen Nation"

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Titel
Die Konstruktion einer hybriden "jüdischen Nation". Deutscher Zionismus im Spiegel der Jüdischen Rundschau 1902–1914


Autor(en)
Schütz, Sabrina
Reihe
Formen der Erinnerung 68
Erschienen
Göttingen 2019: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
514 S.
Preis
€ 70,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ivonne Meybohm, Berlin

Mit ihrer Studie „Die Konstruktion einer hybriden ‚jüdischen Nation’. Deutscher Zionismus im Spiegel der Jüdischen Rundschau 1902–1914“ hat Sabrina Schütz eine systematische Analyse der im Zentralorgan der deutschen Zionisten vor dem Ersten Weltkrieg geführten Debatten zum Themenbereich Nation und Nationalismus vorgelegt. Ziel der Studie ist es, anhand der Analyse des Begriffsfeldes Nation und Nationalismus in der Jüdischen Rundschau „die Ambivalenz der zionistischen Diskursposition“ (S. 48) herauszuarbeiten. Hybridität gilt der Autorin dabei als „Analysekategorie“ (S. 50), mithilfe derer sie Veränderungen im zionistischen Diskurs nachzeichnet. Methodisch wird die klassische Diskursanalyse mit Ansätzen der postcolonial studies verschränkt und sie verspricht, neben einem Beitrag zur zionistischen Ideengeschichte auch neue Erkenntnisse in der zionistischen Raum-, Kultur- und Pressegeschichte zu liefern (S. 53).

Die Studie gliedert sich in zwei Hauptkapitel, deren erstes und kürzeres sich der Geschichte der Jüdischen Rundschau sowie der beteiligten Redakteure und Geldgeber und den Produktionsbedingungen der Zeitung widmet. Das zweite, ungleich umfangreichere Kapitel ist mit dem Titel „Konstruktion zionistischer Hybridität in der Jüdischen Rundschau“ überschrieben und in Unterkapitel gegliedert, die die folgenden drei Fragen behandeln: „Was ist die jüdische Nation?“, „Was ist Zionismus?“ und „Wo liegt Zionismus?“.

Im ersten Unterkapitel, das die Frage „Was ist die jüdische Nation?“ behandelt, wird der Diskurs zum Spannungsfeld zwischen Nation und Volk rekonstruiert. Die Autorin geht dabei Fragen nach, wie die Zionisten sich zwischen deutscher und jüdischer Nationalität verorteten und wie sie den deutschen Nationalismus rezipierten. Sie rekonstruiert Vorstellungen eines „Volkskörpers“ und die Haltung der Zionisten zu den zeitgenössischen Debatten über das Konzept der „Rasse“. Des Weiteren geht sie auf die zionistischen Versuche ein, narrativ ein Nationalgefühl zu erzeugen, etwa durch die Debatte über eine Nationalkultur und -literatur sowie eine Nationalsprache. Die Auseinandersetzung der Zionisten mit den sie umgebenden Diskursen, die ihren Niederschlag in der Jüdischen Rundschau fanden, war, so belegt die Autorin, stets ambivalent: Rassistisches und rassismuskritisches Gedankengut wurden verwoben, ebenso wie sich scheinbar widersprechende Auffassungen von Volk und Nation. Die Zionisten vertraten eine „Position zwischen Affirmation, Transformation und Negierung“ (S. 237).

Im zweiten Unterkapitel, „Was ist Zionismus?“, geht es um die Bewertung der zionistischen Politik durch die Autoren in der Jüdischen Rundschau, zunächst unter der Präsidentschaft Theodor Herzls (1897–1904), dann während der Präsidentschaft David Wolffsohns (1905–1911) unter den veränderten politischen Rahmenbedingungen, die sich aus der „Jungtürkischen Revolution“ 1908/1909 ergaben. Die zentralen Debatten der frühen Zionistischen Organisation, wie etwa die „Altneuland-Kontroverse“ oder die „Uganda-Kontroverse“ werden rekapituliert, ebenso wie das Herzl-Bild, das in der Zionistischen Organisation vorherrschte. Außerdem geht es um den Diskurs in der Jüdischen Rundschau über das Verhältnis zwischen Zionismus und Kolonialismus.

Das dritte Unterkapitel, „Wo liegt Zionismus?“, unternimmt eine räumliche Verortung des Zionismus, wie er in der Jüdischen Rundschau präsentiert wurde. Hier geht es um die mental maps der deutschen Zionisten ebenso wie um Abgrenzungsdebatten zwischen Zionisten und den Anhängern anderer deutsch-jüdischer Organisationen wie dem Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens oder dem Hilfsverein der deutschen Juden. Ferner werden unter Bezugnahme auf die Debatte zum Orientalismus die Palästinabilder der deutschen Zionisten verhandelt.

Wie bereits diese grobe Skizze der Inhalte zeigt, ist das Themenspektrum der Studie sehr breit angelegt. Auch die Menge der von der Autorin rezipierten Sekundärliteratur ist beeindruckend. Hervorzuheben ist an dieser Stelle auch, dass ein systematisch erschlossenes Quellenkorpus zur Jüdischen Rundschau fehlt: Wenn auch die Zeitung selbst vollständig digitalisiert vorliegt1, so ist dies bei der dazugehörigen Korrespondenz, Protokollen und Verträgen mitnichten der Fall. Diese sind auf zahlreiche Nachlässe von Privatpersonen und Organisationen verteilt und mitunter fragmentiert. Die Autorin hat deshalb auf private Nachlässe der beteiligten Redakteure und anderer Protagonisten zurückgegriffen und diese Dokumente mit solchen aus dem Zionistischen Zentralbüro ergänzt. Besonders erkenntnisreich sind dabei die Akten zur Jüdischen Rundschau aus dem Berliner Landesarchiv, die die von den Zionisten verfassten Dokumente um eine Außenperspektive ergänzen und vor allem in Bezug auf die „Nachgeschichte“ der Jüdischen Rundschau nach 1945 von besonderem Interesse sind. Mithilfe dieser und entsprechender Akten aus den Central Zionist Archives in Jerusalem kann die Autorin einen spannenden Ausblick auf die Restitutionsgeschichte der Jüdischen Rundschau geben.

Ob Hybridität die geeignete Analysekategorie ist, mit der die Auswertung der Debatten in der Jüdischen Rundschau zu bewältigen ist, sei jedoch dahingestellt, zumal Hybridität hier ebenso Analysekategorie wie -ergebnis zu sein scheint, wenn etwa in der Schlussbetrachtung konstatiert wird, in der Jüdischen Rundschau sei ein „widersprüchlicher (hybrider) nationaler Diskurs“ (S. 449) geführt worden.

Während die Analyse der in der Jüdischen Rundschau vor dem Ersten Weltkrieg geführten Debatten durchaus eine Forschungslücke darstellte, die nun geschlossen werden konnte, war die Wochenzeitung freilich nicht der einzige Ort, an dem die Diskussion über zionistische Vorstellungen von Nation und Nationalismus geführt wurde. Vielmehr bildete die Jüdische Rundschau die innerzionistischen Diskurse ab und bot ihnen ein Forum. Dies bedeutet aber zugleich, dass dieselben Diskussionen auf den Zionistenkongressen, den Delegiertentagen der Zionistischen Vereinigung für Deutschland (ZVfD), in der übrigen zionistischen Presselandschaft sowie in privater Korrespondenz zwischen Zionistinnen und Zionisten in ähnlicher Weise geführt und dementsprechend in anderen wissenschaftlichen Publikationen zum Zionismus bereits erforscht worden sind. Die deutlich zu lang geratenen Paraphrasierungen der Sekundärliteratur, die in einem augenfälligen Ungleichgewicht zu den knappen Analysen der Debatten in der Zeitung selbst stehen, belegen diese Tatsache ebenso wie die hohe Anzahl von 2.464 Fußnoten. Dass einzelne Autoren der Sekundärliteratur im Index deutlich mehr Raum einnehmen als etwa die Autoren der Jüdischen Rundschau, verdeutlicht ebenfalls, dass die untersuchten Debatten bereits umfassend in anderen Zusammenhängen ausgewertet worden sind. Zugegeben – es ist nicht ganz leicht, der umfassenden Studie von Stefan Vogt aus dem Jahr 2016 noch etwas hinzuzufügen.2 Aber die in beiden Studien auf Basis teils unterschiedlicher Quellen untersuchten Diskurse gleichen sich inhaltlich und im Ergebnis doch so sehr, dass man sich als Leserin etwas mehr Abgrenzung gewünscht hätte, zumal selbst die Schlussbetrachtung der vorliegenden Studie mit demselben Zitat eingeleitet wird, das auch der Einleitung von Vogts Studie programmatisch vorangestellt ist.

Hinzu kommt, dass 2018 eine umfassende und gut recherchierte Biographie Heinrich Loewes (1869–1951), des leitenden Redakteurs der Jüdischen Rundschau in den Jahren 1902 bis 1908, erschienen ist3, sodass auch im Themenfeld des ersten Kapitels viele Erkenntnisse bereits vorliegen. Ein stärkerer Fokus auf die in der Jüdischen Rundschau verhandelten Themen, die noch nicht an anderer Stelle bearbeitet wurden, hätte der Studie mehr Erkenntnispotential gebracht. Nichtsdestotrotz bietet die Studie Leserinnen und Lesern einen guten Ein- und Überblick über die Geschichte der Jüdischen Rundschau und die zentralen Diskurse, die in ihr geführt wurden.

Anmerkungen:
1http://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/cm/periodical/titleinfo/2651273 (12.04.2021).
2 Stefan Vogt, Subalterne Positionierungen. Der deutsche Zionismus im Feld des Nationalismus in Deutschland 1890–1933, Göttingen 2016.
3 Frank Schlöffel, Heinrich Loewe. Zionistische Netzwerke und Räume, Berlin 2018.