T. Hellmuth: Frankreich im 19. Jahrhundert

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Titel
Frankreich im 19. Jahrhundert. Eine Kulturgeschichte


Autor(en)
Hellmuth, Thomas
Erschienen
Göttingen 2020: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
352 S.
Preis
€ 45,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Frederike Schotters, Seminar für Neuere Geschichte (19. Jh.), Eberhard Karls Universität Tübingen

Spätestens seit der Etablierung einer politischen Kulturgeschichte wissen wir, wie politisch ein Drei-Gänge-Menü sein kann. Die Kulturgeschichte ist inzwischen fester Bestandteil der Historiographie. Ähnliches gilt für Forschungen zum Bürgertum bzw. einem postulierten „bürgerlichen Zeitalter“, die jedoch seit ihrer Hochphase in Deutschland Ende der 80er- und während der 90er-Jahren anschließend anderen Fragestellungen Platz gemacht haben. Die deutsche Bürgertumsforschung hat in anderen Ländern keine Entsprechung gefunden. Nun beschäftigt sich Thomas Hellmuth, Professor für Geschichtsdidaktik an der Universität Wien, in seiner Kulturgeschichte Frankreichs im 19. Jahrhundert mit der Herausbildung und Transformation der bürgerlichen Gesellschaft (S. 11), die in einem engen Zusammenhang mit der Moderne gestanden habe. Diese möchte er jedoch nicht als eine Erfolgsgeschichte verstanden wissen. Vielmehr geht er mit Adorno/Horkheimer und Bauman von einer Ambivalenz der Moderne aus1, deren Weg „auch auf Abwege führen kann, die in autokratischen und diktatorischen Systemen enden“ (7f.).

Eingangs greift der Autor die Kritik an französischer Geschichtspolitik auf, die das Beschwören der „Grande Nation“ als Zivilisation zum Ziel habe. Anstatt auf die Auseinandersetzung mit Geschichte gänzlich zu verzichten, wie Gaston Clémendot es 1923 forderte, plädiert er für einen Perspektivwechsel, um die nationalgeschichtliche Erzählung Frankreichs zu hinterfragen. Für diese „andere[…] Perspektive“ wählt er einen kulturhistorischen Ansatz. Ganz im Sinne einer Kulturgeschichte des Politischen, wird Politik als kulturelles Produkt verstanden, das Teil eines Beziehungsnetzes von Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft ist. Sein Untersuchungszeitraum umfasst das (kalendarische) 19. Jahrhundert mit „Ausflügen“ in das 18. und 20. Jahrhundert. Obgleich er sich der nationalen Einschränkung seiner Perspektive bewusst ist, begrenzt Hellmuth seine Untersuchung auf das metropolitane Frankreich.

In vier Kapiteln arbeitet der Autor heraus, worin das bürgerliche Gesellschaftsmodell bestand, wie es sich herausgebildet und transformiert hat und welche Prägekraft es besaß. Dafür stützt er sich bei der Analyse auf eine breite Quellengrundlage bestehend aus Zeitschriften und zeitgenössischer Literatur deutscher und französischer Dichter:innen, Denker:innen, Aufklärer:innen und Literat:innen und erweitert den Quellenbestand um visuelle Zeugnisse wie Gemälde, Fotos und Karikaturen. Damit trifft der Autor eine Entscheidung, nimmt er hierdurch doch gleichsam die Perspektive gesellschaftlicher Elitendiskurse ein. Die Lebensrealität und Alltagserfahrungen außerhalb bürgerlicher Kreise lassen sich damit weniger rekonstruieren.

Im ersten Kapitel wird das bürgerliche Gesellschaftsmodell als ein System von Werten und Lebensstilen vorgestellt, das es vermocht habe, eine heterogene Gruppenkonstellation zusammenzuhalten. Das bürgerliche Modell konzipiert er weniger als statisch denn als dynamisch, das innerhalb eines spezifischen Koordinatensystems Wandel zuließ: Erstens erlaubte eine „eingezäunte Freiheit“ keine Individualität ohne Einbindung ins Kollektiv. Offener Diskurs ließ zweitens auch „Unerhörtes“ zu und entwickelte die Gesellschaft so produktiv weiter. Drittens basierte es auf einem kulturellen Regelsystem wie Kleidungsgewohnheiten, Kunstinteresse oder Essgewohnheiten und spezifischen Normvorstellungen beispielsweise hinsichtlich von Geschlechterrollen oder Sexualmoral (S. 39-46). Mit der „Erfindung der Pädagogik“ (S. 46) wurde der Erziehung zu Bürger:innen und ihrem Einschwören auf die Nation Sorge getragen. Darin war ein andauernder Widerspruch zwischen individueller Freiheit und Fremdbestimmung bereits angelegt.

Das zweite Kapitel erzählt, wie sich der Prozess bürgerlicher Vergesellschaftung im 19. Jahrhundert vollzog, bei der es sich keineswegs um einen konfliktfreien Vorgang handelte. Die Nation sollte zum Inklusionskonzept einer zunehmenden sozialen Binnendifferenzierung Gesellschaft werden und der Aussöhnung regionaler Traditionen mit der neuen Ordnung dienen. Im Zuge der französischen Revolution entstand das Verständnis von Geschichte als gerichtetem, linearem Prozess, der schließlich in der französischen Nation und damit in der „Zivilisation“ gemündet habe. An die Vorstellung einer „zivilisierten“ Nation war ein Sendungsbewusstsein gekoppelt: die französische Nation und die bürgerlich-liberale Freiheit sollten Europa und der Welt als Modell dienen (S. 73). Durch „ideologische Infiltration“ in Schulen, republikanischen Organisationen, dem Militär oder Repräsentationen im öffentlichen Raum sollte die Bevölkerung – im „wilden“ ländlichen wie im kolonialen Raum – eingeschworen und „zivilisiert“ werden (S. 76, S. 83). Im Alltag geschah dies beispielsweise durch den Ausbau des Verkehrsnetzes, das ein Vordringen der bürgerlichen Gesellschaft erst ermöglicht habe. Ebenso förderlich war die Demokratisierung der Schriftkultur durch medialen Wandel und Alphabetisierung. Das Ergebnis war jedoch weniger eine homogenere Gesellschaft als vielmehr eine starke Binnendifferenzierung. Die Integration der Peripherie in die Republik blieb schwierig, wie Hellmuth an Widerständen gegen die „bürgerliche ‚Unterjochung‘“ (S. 97) zeigt. Vollzogen wurde sie schließlich, indem die Region zum integralen Bestandteil der Nation stilisiert wurde sowie durch eine Vermischung religiöser Traditionen mit bürgerlicher Republik. Allerdings – und das tritt in Helmuths Darstellung etwas in den Hintergrund – waren diese Prozesse keineswegs gewaltfrei, bedenkt man die mitunter heftigen Auseinandersetzungen zwischen Kirche und Staat sowie die teils gewaltsame Unterdrückung des regionalen Patois.2

Widerstände gegen die Verbürgerlichung begreift Hellmuth indes nicht als Gegenkulturen, sondern als Teile innerhalb des „offenen Diskurses“, denn letztlich, so der Autor, hätten auch Konservative und Gegner der Republik sich den Regeln und Instrumentarien der Republik nicht entziehen können, sondern sich ihrer bedienen müssen. Das dritte Kapitel ist daher überschrieben mit „Vielfalt in der Einheit“ (S. 143) und illustriert den „offenen Diskurs“ an den Beispielen Kunst und Literatur. Gegenentwürfe zum bürgerlichen Regel- und Normenkorsett wurden innerhalb des Diskurses verhandelt und trugen so zu einer Diskurserweiterung bzw. einer Evolution bei, die das bürgerliche Gesellschaftsmodell vor Stillstand bewahrt habe. Die „eingezäunte Freiheit“ gewährte der Avantgarde gewisse Handlungsspielräume, denn neue Kunststile überschritten Grenzen und stellten Normen in Frage. Gleichwohl deutet Hellmuth Kulturkämpfe als Ausdruck von offenem Diskurs und Kunstschaffende damit als Protagonisten einer Weiterentwicklung des bürgerlichen Gesellschaftsmodells.

Auf die Widersprüche, die das bürgerliche Gesellschaftsmodell barg, geht Hellmuth in Kapitel 4 expliziter ein. Die Umsetzung des Modells wurde erschwert durch eine starke gesellschaftliche Differenzierung und politische Bewegungen. Gleichwohl habe gerade die Fragmentierung und Verflüchtigung des „Ganzen“ das Modell ausgemacht. Sie begründeten Widerspruch und Erfolgsrezept zugleich, denn der Allgemeinheitsanspruch ließ das Modell zwar statisch erscheinen, während es doch durch den „offenen Diskurs“ gleichzeitig dynamisch blieb (S. 210). Der ausschweifenden Pracht stand auf der anderen Seite eine hoffnungslose Armut gegenüber. Die „soziale Frage“ barg eine enorme Sprengkraft und führte dazu, dass im Zuge einer Verbürgerlichung Unterschichten beispielsweise Hygieneregeln unterworfen werden sollten. Gewiss stieß die Verbürgerlichung immer wieder an Grenzen, wie die unmögliche Übernahme bürgerlicher Geschlechterrollen für Arbeiter:innen zeigt (S. 219f.). Doch aus der bürgerlichen Gesellschaft habe es kein Entkommen gegeben: Die Suche nach dem „Ganzen“ führte stattdessen zu unterschiedlichen Lösungen und der Herausbildung politischer Lager – also letztlich in ein Paradoxon zunehmender Fragmentierung. In den 1870er-Jahren habe sich immerhin die Republik stabilisieren und ein umfassendes gesellschaftliches Modernisierungsprogramm angestoßen werden können. Die Spaltung der französischen Gesellschaft offenbarte und entlud sich beispielsweise in der Boulanger sowie der Dreyfus Affäre – die extreme Rechte stand dabei nicht am gesellschaftlichen Rand, sondern war politischer Mainstream. Anhand der politischen Entwicklungen zeigt Hellmuth auf, dass das bürgerliche Gesellschaftsmodell einer Konkurrenz der Meinungen bedurfte, das gesuchte „Ganze“ jedoch ein Ideal, man könnte auch sagen eine Utopie blieb. In pädagogischem Duktus stellt der Autor abschließend klar, dass ein Unterbinden von offenem Diskurs zu Stillstand führe und damit den Weg direkt in die Diktatur weise.

Nun sind sowohl Kulturgeschichte als auch Bürgertumsforschung inzwischen etwas in die Jahre gekommen. Angesichts dieser breiten Forschungslandschaft und des gewählten Ansatzes mag es verwundern, dass insbesondere die Studien zum „bürgerlichen Wertehimmel“ in Deutschland vom Autor nicht rezipiert werden3 und er sich stattdessen auf überwiegend ältere Forschungsbeiträge stützt. Insgesamt entwirft Hellmuth ein facettenreiches Panorama der französischen Politik, Gesellschaft und Kultur im 19. Jahrhundert. Allerdings werden nicht alle Fragen am Ende auch gänzlich geklärt. Auf zwei kritische Punkte soll daher etwas näher eingegangen werden, betreffen sie doch die Grundanlage des Buchs. Zwar begegnet der Autor gleich zu Beginn mögliche Kritikpunkte an der räumlichen Einschränkung seiner Untersuchung, indem er auf Schwierigkeiten verweist, die eine Befreiung von einer „Bevormundung der nationalen Territorialisierung“ (Christophe Charle) berge (S. 10). Gleichwohl stellt sich hier die Frage, wie sich ohne transnationale und koloniale Bezüge Hellmuths Anspruch einlösen lässt, am Beispiel Frankreichs einen Einblick in das „bürgerliche Zeitalter“ als zentralem Bereich der „Kulturgeschichte des Okzidents“ (S. 12) zu leisten. Einer Essentialisierung des „Westens“ würde sich der Autor vielleicht noch erwehren. Aber wird Frankreich hier zum Prototyp und Vorreiter „der“ Moderne? Zweitens kommen die eingangs angekündigten Abwege – oder wenn man so möchte die Abgründe – in „der“ Moderne etwas zu kurz. So überzeugt es zwar, dass dem bürgerlichen Gesellschaftsmodell und dem französischen Sendungsbewusstsein ein unauflösbarer Widerspruch inhärent waren. Die Gewalt und Grausamkeit vermeintlicher „Zivilisierungsmissionen“ – im Hexagone aber insbesondere in den Kolonien – bleibt indes unscharf.

Somit bleibt am Ende ein gemischter Leseeindruck zurück. Insgesamt handelt es sich um eine etwas einseitige, aber nichtsdestoweniger detailreiche und materialgesättigte Einführung in die Geschichte Frankreichs im 19. Jahrhundert, die in gelungener Weise Kultur, Politik, Gesellschaft und Wirtschaft zusammendenkt.

Anmerkungen:
1 Max Horkheimer / Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt am Main 1969; Zygmunt Bauman, Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit, Hamburg 1992.
2 Siehe zum Beispiel Timothy Verhoeven, Sexual Crimes, Religion and Masculinity in Fin-de-Siècle France. The Flamidien Affair, Cham 2018; Lisa Dittrich, Antiklerikalismus in Europa. Öffentlichkeit und Säkularisierung in Frankreich, Spanien und Deutschland (1848–1914), Göttingen 2014; Silke Mende, Ordnung durch Sprache. Francophonie zwischen Nationalstaat, Imperium und internationaler Politik, 1860–1960, Berlin 2020.
3 Siehe stellvertretend dazu Manfred Hettling / Stefan-Ludwig Hoffmann (Hrsg.), Der bürgerliche Wertehimmel. Innenansichten des 19. Jahrhunderts, Göttingen 2000; für einen historischen Überblick siehe: Manfred Hettling, Bürger, Bürgertum, Bürgerlichkeit, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 04.09.2015, https://docupedia.de/zg/Hettling_buerger_v1_de_2015 (10.12.2021).

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