J. Bock: Frauenbewegung in Ostdeutschland

Cover
Titel
Frauenbewegung in Ostdeutschland. Aufbruch, Revolte und Transformation in Leipzig 1980–2000


Autor(en)
Bock, Jessica
Erschienen
Anzahl Seiten
480 S.
Preis
€ 48,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Karin Aleksander, Berlin

Wodurch wird die ostdeutsche Frauenbewegung determiniert? Diese Frage stellt Jessica Bock in ihrer Dissertation (2018), die durch ein Stipendium der Bundesstiftung Aufarbeitung gefördert wurde. Ihr Exempel ist die Frauenbewegung in Leipzig. Damit bereichert sie den Forschungsstand um eine neue Lokalstudie samt Einbezug der Jahre bis 2000. Das Anliegen und Verdienst der Autorin ist es, die Leipziger Akteurinnen aus der Unsichtbarkeit in die Stadt- und Frauenbewegungsgeschichte geholt zu haben. Insgesamt recherchierte Bock zu 23 Leipziger Frauengruppen, -vereinen und -institutionen in 10 Archiven, führte 33 Expertinneninterviews, durchforstete acht Privatarchive, dazu Graue Literatur, Bewegungspublizistik und Sekundärliteratur. Dieser Umfang ist beachtlich und anregend für weitere Forschungen. Bock zeigt, dass Frauen nicht nur in gemischten Gruppen aktiv waren, sondern auch in Frauengruppen, die dazu nach 1990 aktiv blieben, sich auflösten oder neu gründeten.

Inhaltlich geht es um die nichtstaatliche Frauenbewegung in Leipzig ab 1980 und die ostdeutsche Frauenbewegung nach 1990. Dafür will Bock im einleitenden Kapitel einen eigenen Frauenbewegungsbegriff formulieren. Ihr Arbeitsbegriff, der mit ihrem Forschungsanliegen kompatibel ist , fasst die „ostdeutsche Frauenbewegung“, angelehnt an Ilse Lenz, als „eine kollektive, mobilisierende Akteurin“, die sich seit den 1980er-Jahren unter DDR-Bedingungen entwickelte, nach 1989/90 transformierte und die patriarchalen Geschlechterverhältnisse mit dem Ziel kritisierte, die herrschenden Geschlechterrollen zu überwinden.

Im zweiten Kapitel widmet sich Bock der DDR-Frauenpolitik, dem Demokratischen Frauenbund Deutschlands (DFD) und dem „Literarischen Feminismus“ in der DDR als „Rahmen und Kontrastfolie“, um zu begründen, was informelle Frauengruppen determinierte.

In den chronologischen drei Hauptkapiteln untersucht Bock die Leipziger Frauenbewegung mit einem empirischen Zugang, indem sie Akteurinnen, Praxis- und Handlungsfelder, Bewegungsräume und Netzwerke aufspürt. Im umfangreichsten dritten Kapitel stellt sie einzelne Gruppen (Lesben, Lila Lady Club, Frauengruppe Grünau, Kirchenkreise) mit deren Themen (Patriarchat, Doppelbelastung, Erziehung, Frieden) und der beginnenden DDR-Vernetzung vor, besonders durch die Gruppe Frauen für den Frieden. Aus Freundinnenkreisen, die sich aus Wohnzimmerkreisen über Philosophie und Literatur herauslösten, bildeten sich Gruppen junger Frauen (25–30 Jahre, mit Hochschul-/Berufsausbildung, auch Mütter). Ihr Wille, auch öffentlich zu diskutieren, wird am Scheitern der Initiativgruppe Frauenzentrum mit Zeitzeuginnen und Akten ausführlich belegt. Aktionen zur Repolitisierung der Frauenfrage führten nicht zur Zusammenarbeit mit dem DFD, sondern zu staatlicher Repression. Wegen fehlender Versammlungsräume kam es zur Kooperation mit Kirchen, obwohl viele Aktive atheistisch waren und dort auch Konflikte entstanden. Zusammenfassend beschreibt Bock die Haltung der Gruppen zum Feminismus als kritisch bis ablehnend, den Sozialismus bejahend und ihre Taten als „ddr-regierungsform-kritisch“ (S. 219).

Am Beispiel der Fraueninitiative Leipzig zeigt Bock im vierten Kapitel den grundlegenden Wandel der nichtstaatlichen Frauenbewegung 1989/90: Akteurinnen reisten aus oder engagierten sich in Bürgerrechtsgruppen, die Themen wechselten von Reformierung der DDR, über kritische Haltung zur Einheit bis zur Demokratisierung der Geschlechterverhältnisse. Netzwerken bedeutete nun Zusammenarbeit mit dem Unabhängigen Frauenverband und mit Westfrauen, neue Handlungsräume bildeten das Neue Forum, der Runde Tisch und die Frauenpresse.

Den Zeitraum 1990 bis 2000 kennzeichnen die geschlechtsspezifischen Transformationsfolgen für die Fraueninfrastruktur in Leipzig, geprägt durch Aufbruch und Überlebenskampf: Aufbruch mit neuen Vereinen, mehr soziokulturellem Programm und frauenpolitischem Kampf für Kinderbetreuungs- und Arbeitsplätze, Überlebenskampf ab Mitte der 1990er-Jahre gegen Auflösungserscheinungen („Party, Spaß und […] Ruhe“, S. 409) sowie Finanznot bis zur Niederlage, dem Abriss des Henriette-Goldschmidt-Hauses.

Dieser empirischen Fülle stehen methodische und inhaltliche Schwächen gegenüber. So trägt z.B. der geografische Gebrauch von Ostdeutschland/ostdeutsch für den gesamten Untersuchungszeitraum von 1980 bis 2000 dazu bei, die DDR sprachlich zu entsorgen. Das erschwert das historische Einordnen von Ereignissen, z.B. in Interviews (S. 63). Es widerspricht auch dem Anliegen der Autorin, das die Frauengruppen determinierende Bedingungsgefüge als politisches, sozialökonomisches und soziokulturelles System jeweils historisch-konkret zu analysieren. Außerdem rücken die Implosion der DDR und ihr Beitritt zur BRD als Systemwechsel in den Hintergrund.

In diesem Sinne ist Bocks zweites Kapitel entsprechend ihrer Forschungsfrage wichtig, um die Bedingungen zu kennen, die die nichtstaatliche Frauenbewegung ermöglichten. Gerade weil es methodisch als „Rahmen und Kontrastfolie“ wirkt, um die Inhalte in Interviews und Dokumenten zu verstehen, ist es bedauerlich, dass hier Fakten ungenau oder unzulässig verkürzt wiedergegeben werden und damit ein teilweise verzerrtes bis verfälschtes Bild entsteht. Dabei liegt zur DDR-Frauenthematik eine Reihe von Forschungen vor, die die widersprüchliche Entwicklung differenzierter darstellen.1

Bocks Ausgangspunkt zum Thema Gleichberechtigung von Frauen in der DDR ist das „Definitionsmonopol“ der SED (S. 38). Ihrer Aussage, dass die SED-Frauenpolitik niemals statisch war, folgt sie selbst leider ohne Stärke zur Differenzierung. Sie will sich auf die 1970er-/1980er-Jahre beschränken, blickt aber mit der Berufs- und Qualifizierungsoffensive für Frauen auf Jahre davor. Einerseits verweist sie auf die emanzipatorische Tradition der Arbeiter- und sozialistischen Frauenbewegung (S. 39), andererseits folgt sie dem undifferenzierten Narrativ, dass die Frauenerwerbstätigkeit primär dem Mangel an Arbeitskräften und der Massenflucht in den Westen geschuldet war (S. 40). Die Doppelbelastung als Folge stellt sie einseitig dar, obwohl im „Zuge der Entwicklung aus der Doppelbelastung des weiblichen Geschlechts zugleich ein Doppelanspruch“2 erwuchs. Analoge Interviewaussagen bleiben unkommentiert, ohne zu erwähnen, dass es sich um Erfahrungen von Frauen verschiedener Generationen handelt (was leider nur eine Insiderin wissen kann, denn es gibt keine biografischen Informationen zu den Interviewten). Auch Fehler von Interviewten werden nicht korrigiert, z.B. die Fristenlösung in der alten BRD 1972 (S. 47) oder das Arbeitsamt in der DDR (S. 109). Maßnahmen zur Geburtenförderung begannen bereits Mitte der 1970er-Jahre und nicht Anfang der 80er (S. 44), und verglichen mit Belgien, Irland, Rumänien oder der alten BRD ist die Wertung falsch, dass bis 1972 „in der DDR eines der restriktivsten Abtreibungsgesetze im geteilten Europa“ herrschte (S. 46), weil seit 1965 eine soziale Indikation mit Beratungspflicht möglich war.

Auch zum DFD gibt es Ungenauigkeiten, die durch Weglassen oder Überbetonen entstehen: Obwohl sich in allen vier Besatzungszonen spontan Frauenausschüsse bildeten und 1947 zum DFD als gesamtdeutsche Organisation und neue Form der Frauenbewegung zusammenschlossen, werden sie auf die Sowjetische Besatzungszone begrenzt (S. 54). Der DFD verantwortete – entgegen der Aussage auf S. 55 – eigene frauenpolitische Initiativen, wie die Unterschriftensammlung zur Ächtung der Atombombe, seine maßgebliche Mitarbeit am Gleichberechtigungsartikel der Verfassung und an den ersten DDR-Gesetzen (Mutterschutz, Familie). Die Schwangeren-/Mütterberatungsstellen gehörten nicht zum DFD, sondern zum Gesundheitswesen und existierten schon vor 1970 (S. 56f.).

Der Abschnitt zum „Literarischen Feminismus“ erhellt, wie sich viele Frauen angeregt durch Christa Wolf, Irmtraud Morgner, Maxi Wander, dazu Anja Meulenbelt, Alice Schwarzer u.a. mit ihren realen Lebensbedingungen und Idealen beschäftigten. Auch hier gibt es Ungenauigkeiten: Die Frauenzeitschrift der 1970er-/1980er-Jahre war die „Für Dich“ (S. 60). Die Bücher von Helmecke (1979) und Worgitzky (1982) zum Thema Schwangerschaftsabbruch (S. 64) widersprechen der Aussage in der Fußnote 130: „Erst nach der Wiedervereinigung erschienen Bücher, in denen Frauen über ihren Schwangerschaftsabbruch berichten.“ (S. 48)

Vor dem fünften Kapitel (1990–2000) vermisse ich methodisch „Rahmen und Kontrastfolie“ zur Geschlechterpolitik der BRD, die wie im Teil zur DDR, die neue Realität zeigen, in die DDR-Frauen durch die Einheit geraten waren. Transformation erscheint bei Bock als „fundamentale Wandlung“ der Bedingungen, die sie z.B. damit illustriert, dass Telefon und Räume nicht mehr kostenfrei waren (S. 419).

Leider fehlte dem Buch ein stilsicheres Lektorat. Es hätte z.B. die im Literaturverzeichnis vergessenen Autorinnen (aller belletristischen Werke und z.B. Hörz und Marx-Ferree) ergänzen, v.a. die leseunfreundlichen Rechtschreib- und Grammatikfehler oder den inkonsistenten Gebrauch von Abkürzungen und Anführungszeichen mildern können. Bei einem historischen Thema ist auch das Erscheinungsjahr von Publikationen in der Fußnote wichtig. Selbst Bock führt das zu falschen Aussagen, wie: eine Autorin knüpft 1995 an eine von 1998 an (S. 16). Interessant für weitere Forschungen wäre ein Hinweis zum Verbleib der Interviewtranskripte (etwa 700 Seiten) und Privatarchive.

Das Anliegen der Dissertation, Leipziger frauenbewegte Akteurinnen aus der Vergessenheit zu holen, ist erfüllt. In der Vielfalt des Dokumentierten besteht die Stärke dieser Lokalstudie. Weitere Forschungen sollten die empirischen Ergebnisse problematisieren, z.B.: Was wurde auf dem Weg aus dem sozialistischen in das kapitalistische Patriarchat verloren, was muss neu erkämpft werden?

Anmerkungen:
1 Vgl. Ursula Schröter / Renate Ullrich / Rainer Ferchland, Patriarchat in der DDR, Berlin 2009; Ursula Schröter / Renate Ullrich, Patriarchat im Sozialismus?, Berlin 2005; Hannelore Scholz, Die DDR-Frau zwischen Mythos und Realität, Schwerin 1997.
2 Jutta Gysi / Dagmar Meyer, Leitbild: berufstätige Mutter, in: Gisela Helwig / Hildegard Maria Nickel (Hrsg.), Frauen in Deutschland 1945–1992, Bonn 1993, S. 139–166, hier S. 141.

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