G. Budde (Hrsg.): Feldpost für Elsbeth

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Titel
Feldpost für Elsbeth. Eine Familie im Ersten Weltkrieg


Herausgeber
Budde, Gunilla
Erschienen
Göttingen 2019: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
576 S., 40 Abb.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Silke Fehlemann, Historisches Seminar II, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf

Die hundertjährige Wiederkehr des Kriegsbeginns 1914 liegt jetzt schon einige Jahre zurück und nun wird doch deutlich, dass das „Centenaire“ zahlreiche Themenfelder der Weltkriegsforschung noch einmal neu akzentuiert hat. Vor allem die sogenannte Heimatfront hat – auch im Zeichen des emotional turn – große Aufmerksamkeit gefunden. Während die Feldpost von Soldaten schon seit einigen Jahrzehnten zum festen Quellenbestand der Weltkriegsforschung gehörte, sind die Familienkonstellationen, darunter vor allem Eltern-Sohn-Beziehungen erst seit Kurzem in den Blick der historischen Forschung gekommen. Briefe von Familienangehörigen sind allerdings seltener hinterlassen, da die Soldaten sie ja im Feld mit sich tragen mussten. Insofern macht es mehr Mühe, Korrespondenzen zwischen Soldaten und ihren Angehörigen zu finden, aber sie sind auch besonders aussagekräftig, berichten sie doch über den Austausch von Gefühlen, über die Dynamik der familiären Beziehungen im Verlaufe des Krieges, über das Sag- und das Nicht-Sagbare in der Kriegsgesellschaft.

Das gilt für den vorliegenden Band in besonderer Weise. Die Oldenburger Historikerin Gunilla Budde präsentiert hier den Briefwechsel der Arztfamilie Budde aus Herford während des Ersten Weltkriegs, also der Familie ihres Großvaters Gerhard, dessen Eltern Elsbeth und Karl sowie des älteren Bruders Ernst. Sie hat damit ein Andenken an ihre Familie als historische Quellensammlung publiziert. Es ist eine eigenwillige Quellenedition, ähnlich wie der einige Jahre zuvor kommentierte Briefwechsel der Familie Braun durch Dorothee Wierling.1 Die Herangehensweise von Budde ist möglicherweise für die historische Forschung noch ertragreicher, da sie nur zurückhaltend kommentiert und sich jede Leser/in anhand der Briefe ein eigenes Bild machen kann. Die Verfasserin hat in begleitenden Texten einzelne Passagen aus den Briefen noch einmal eingehender eingeordnet und auf Unerwartetes verwiesen. Daneben sind historische Ereignisse, Eigennamen oder unverständliche Verweise in den Fußnoten erläutert und durch neuere Literatur zum Ersten Weltkrieg zurückhaltend ergänzt worden. Davon abgesehen lässt sie aber die Quellen für sich selbst sprechen.

Das Buch präsentiert nicht nur den Briefwechsel, sondern im Falle des ältesten Sohns Ernst auch noch ein zeitweise parallel geführtes Tagebuch. Dessen Inhalt offenbart an einigen Stellen, wie Ernst seine Erfahrungen für sich selbst formulierte und wie er sie wiederum an seine Eltern kommunizierte.

Was lernen wir über die Kriegserfahrungen der Familie Budde aus Herford? Die Buddes waren typische Vertreter des Bildungsbürgertums und wie viele in ihrer Schicht von der Notwendigkeit des Krieges überzeugt. Von einer bedingungslosen Kriegsbegeisterung ist aber in der Korrespondenz vergleichsweise wenig zu finden. Wie in vielen ähnlichen Selbstzeugnissen auch stand die Pflicht gegenüber dem Vaterland und die familiäre Ehre an erster Stelle. Der Briefwechsel ist Zeugnis eines lebhaften Austausches und einer innigen Verbindung zwischen dem älteren Sohn Ernst und seiner Mutter, zugleich dokumentiert er auch eine zunehmende Distanzierung zwischen den beiden. Diese Entfremdung war zum einen ganz profan durch die Widrigkeiten der Feldpostorganisation verursacht, zum anderen aber auch durch die unterschiedlichen Erfahrungswelten. Der Sohn imaginierte sein Zuhause weiterhin als heile Vorkriegswelt, während Vater und Mutter unter den Belastungen zunehmend litten und auch erkrankten. Immer wieder ging es in Ernsts Briefen um ausbleibende Pakete von zu Hause. Während Elsbeth der Ansicht war, keine Mutter könnte mehr schicken als sie selbst, schrieb der Sohn Ernst in einem ärgerlichen Brief nach Hause, da solle sie doch mal Zeugin bei der Paketausgabe sein, dann würde sie sehen, was die anderen Soldaten bekämen. Später stellte sich heraus, dass der Herforder Kutscher wohl zahlreiche Päckchen auf dem Weg zur Post unterschlagen hatte. Diese Korrespondenz mit den beiden Söhnen stärkt eigentlich die älteren Thesen der historischen Forschung über eine zunehmende Entfremdung zwischen Front und Heimat im Verlauf des Krieges. Darüber hinaus wird deutlich, wie Ernst Budde seine ersten lebensbedrohlichen Kriegserfahrungen an seine Eltern verharmlosend kommunizierte, aber in seinem Tagebuch dagegen durchaus seine Ängste und Albträume thematisierte. Die Erwartungen an eine militärische Männlichkeit wurden also nach außen erfüllt, aber nicht vollständig verinnerlicht.

Ernst Budde wurde schließlich im April 1915 in der Nähe von Warschau erschossen und nun wird die tiefe Trauer der Mutter in ihren verzweifelten Briefen deutlich, mit denen sie sich um die Heimführung des Leichnams bemühte. Das deckt sich mit den aktuellen Forschungen zur Kriegstrauer, in denen die Heimführung der toten Soldaten für die meisten Hinterbliebenen als besonders wichtig erkannt wurde. Kurz nach Ernsts Tod meldete sich auch der jüngere Sohn Gerhard zum Kriegsdienst, er kam damit einer Einziehung zuvor – auch das entspricht neueren Untersuchungen, die gezeigt haben, dass viele Freiwilligenmeldungen weniger aus überschäumender Kriegsbegeisterung stattfanden, sondern um einer Zwangsrekrutierung zuvorzukommen. Mit einem solchen Engagement eines Sohnes schuf sich die gesamte Familie soziales Kapital.

Im zweiten Teil des Buches sind schließlich die Briefe zwischen den Eltern und dem jüngeren Sohn Gerhard dokumentiert. Interessanterweise sind nun auch gelegentlich Briefe vom Vater an den Sohn zu finden, das war beim älteren Ernst nicht der Fall. Wie in vielen Familien üblich, hatte er zunächst die Korrespondenz mit dem Soldatensohn seiner Ehefrau überlassen. Ob er nun bereute, seinem ersten Sohn so wenig geschrieben zu haben, oder ob er zu Gerhard eine engere Bindung hatte, wird nicht deutlich, Gunilla Budde vermutet Letzteres. Obwohl die Mutter sich um diesen verbliebenen Sohn ganz furchtbar sorgte, eskalierten die Konflikte zwischen Mutter und Sohn über angemessenes Verhalten zunehmend – vor allem über eine respektvolle Kommunikation mit den Eltern –, manchmal standen beide kurz vor einem Abbruch der Beziehung. Dann griff der Vater vermittelnd ein. Gerhard überlebte den Krieg knapp, er wurde schwer verwundet und verlor die Sehkraft des linken Auges. Die Leserin erfährt am Schluss, dass er nach dem Krieg noch Medizin studierte, die Praxis des Vaters übernahm und mit seiner späteren Frau Gertrud vier Söhne bekam.

Die Familienkorrespondenz gibt einen vertieften Einblick in zahlreiche Themenfelder der Sozial- und Kulturgeschichte des Ersten Weltkriegs, von der Nahrungsmittelknappheit (die ländliche Arztfamilie hatte es vergleichsweise gut, da der niedergelassene Arzt oft mit Naturalien bezahlt wurde) über die Kriegstrauer bis hin zu den zunehmend „dick rot angehauchten“, also sozialdemokratisch orientierten, „Dienstmädchen“ (S. 540). Beide Söhne waren Einjährig-Freiwillige, waren also potentielle bürgerliche Offiziersanwärter, insofern geben die Briefe eher die Erfahrungen einer privilegierten Arztfamilie als die der sogenannten einfachen Soldaten wieder. Es sind Innenansichten aus dem Bürgertum und als solche müssen sie gelesen werden. Sie eignen sich besonders, um emotionale Normen und Regime in der Kriegsgesellschaft zu identifizieren.

Die Briefe sind weitgehend wortgetreu wiedergegeben, die Herausgeberin hat nach eigenen Angaben nur die Schreibweise etwas angepasst.

Insgesamt liegt hier sowohl ein historisches Lesebuch als auch eine kommentierte Quellensammlung vor, die Briefe sind gut lesbar präsentiert, die Korrespondenz wird durch Zeichnungen und Photographien der Familie und der verschiedenen Aufenthaltsorte illustriert. Dies ist ein sehr produktiver Umgang mit familiären Selbstzeugnissen und sogenannten Dachbodenfunden. Es ist zu hoffen, dass weitere kommentierte Editionen ähnlicher Art folgen werden.

Anmerkung:
1 Dorothee Wierling, Eine Familie im Krieg. Leben, Sterben und Schreiben 1914–1918, Göttingen 2013.

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