M. Kotalík: Rowdytum im Staatssozialismus

Cover
Titel
Rowdytum im Staatssozialismus. Ein Feindbild aus der Sowjetunion


Autor(en)
Kotalík, Matěj
Reihe
Kommunismus und Gesellschaft 10
Erschienen
Anzahl Seiten
399 S.
Preis
€ 50,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sebastian Stude, Verbundprojekt "Landschaften der Verfolgung", Stiftung Gedenkstätte Lindenstraße, Potsdam

Nicht zum ersten Mal behandelt ein Buch „Rowdytum“ in staatssozialistischen Regimen.1 Doch Matěj Kotalík nähert sich dem Thema in seiner 2019 veröffentlichten Dissertation mit einem methodischen Ansatz, der neue Erkenntnisse verspricht: Kotalík liefert eine transnationale – genauer: osteuropäische – Diskursgeschichte des Phänomens. Sie geht vom russischen „chuliganstwo“-Begriff aus und schlägt den Bogen zu einer vergleichenden Perspektive auf Adaption, Akkulturation und praktische Verwendung in den Sowjet-Satelliten Tschechoslowakei und Deutschen Demokratischen Republik. Über die Begriffsgenese hinaus beschreibt Kotalík Unterschiede und Gemeinsamkeiten im historischen Wandel von juristischer Normierung, sicherheitspolitischer Praxis und gesellschaftlicher Konsequenz. Er geht dabei von der These aus, dass weniger das soziale Phänomen jugendlicher Devianz als vielmehr der offizielle Diskurs und die repressive Reaktion darauf typisch für staatssozialistische Regime gewesen seien (S. 11–15).

Der Untersuchungszeitraum konzentriert sich auf die Zeit zwischen 1956 und der Mitte der 1970er-Jahre. Kotalík erklärt dies mit einem doppelten Argument: erstens mit der historischen Zäsur des XX. Parteitags der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) sowie den Protestbewegungen in Ungarn und Polen 1956, zweitens in der Sache mit der strafrechtlichen Reform des „chuliganstwo“ in der Sowjetunion und dem Aufkommen des Begriffs in den Strafrechtssystemen der Tschechoslowakei und der DDR. Das und der Hinweis, die 1980er-Jahre aus arbeitspragmatischen Gründen und aufgrund der asymmetrischen Quellenlage nur kursorisch zu behandeln, erscheint plausibel.

Die Auswahl seiner Fallbeispiele Tschechoslowakei und DDR begründet Kotalík mit deren historischer Vergleichbarkeit: Beide Staaten seien bereits am Anfang ihrer sowjetischen Subordination industrialisierte und urbanisierte Gebilde ähnlicher Struktur gewesen, in denen Konflikte zwischen staatlichen Sicherheitsideen und nonkonformen gesellschaftlichen Verhaltensweisen bestanden. Und beide Regime seien insbesondere in den 1970er- und 1980er-Jahren zu den eher konservativen Sowjet-Satelliten zu zählen. Den Erschütterungen des Prager Frühlings 1968 beziehungsweise den relativ liberalen frühen 1970er-Jahren in der DDR misst Kotalík offenbar wenig Relevanz bei.

In sechs Kapiteln widmet sich Kotalík der Genese des „chuliganstwo“-Begriffes in der Sowjetunion (S. 39–80), den historischen Hintergründen (S. 81–104), der Adaption und der Akkulturation (S. 105–232) sowie der sicherheitspolitischen Praxis der darauf gründenden Strafrechtsnormen in der Tschechoslowakei und der DDR vom Ende der 1950er- bis in die 1980er-Jahre hinein (S. 233–346). An das Ende eines jeden Kapitels setzt Kotalík transnationale Vergleiche sowie Zwischenfazits.

Im ersten Kapitel rekonstruiert Kotalík den russischen „chuliganstwo“-Begriff, bis ins späte Zarenreich als Etikett für vielgestaltige Verhaltensweisen, die eher spontan als geplant sowie durch Ablehnung und Feindseligkeit gegenüber Autoritäten geprägt waren. Bereits vor 1917 wurden dem „chuliganstwo“ Merkmale zugeschrieben, die für „Rowdytum“ später wesensbildend wurden: Akteure waren junge Männer, die Arena ihres ungehorsamen Handelns bildete der öffentliche Raum „an der unscharfen Grenze zwischen Fabrik und Straße“ (S. 42). Die gesellschaftliche Stellung der „Grenzgänger“ zwischen Arbeit und Verbrechen deutet Kotalík weniger als politischen denn als kulturellen Konflikt. Einen politischen Kontext umrahmte den Strafvorhalt seit der Stalin-Ära, als sich „der Pendelschlag hin zur politisierten Wahrnehmung des Verbrechens und zur Klassifizierung und Hierarchisierung der Verbrechen nach deren potentieller Bedrohung für den Staat“ verschob (S. 55).

Im Anschluss rekonstruiert Kotalík, wie die Figur „chuliganstwo“ mit unterschiedlichen Etiketten bis in die 1960er-Jahre in der Tschechoslowakei als „výtrznictví“ / „chuligánství“ und in der DDR als „Rowdytum“ strafrechtlich novelliert wurde. Ähnlich war in beiden Fällen eine umgangssprachliche Vorgeschichte jenseits von Justiz und Politik. Und ähnlich waren beiden Fällen eigene Traditionen, äußere Einflüsse und je spezifische Ausformungen. Kotalík betont dabei die „Persistenz des jeweils Eigenen“ gegenüber der „Akkulturation des Fremden“. Ähnlich waren in beiden Ländern auch die Transferkanäle und Vermittler der Figur. Und ähnlich waren in beiden Ländern schließlich zentrale Wesensmerkmale der Figur – „Missachtung“, Gruppenbildungen und Gewaltpraktiken. Für die DDR präzisiert Kotalík den Befund von Thomas Lindenberger, Mitte der 1950er-Jahre seien zunächst polnische, nicht sowjetische Einflüsse maßgeblich gewesen (S. 166–169).

Was Kotalík mit der Kapitelüberschrift „Verständnisse und Verwirrungen des Begriffs“ beschreibt, gibt einen wichtigen Hinweis auf politische, juristische und gesellschaftliche Konsequenzen: So vage die inhaltlichen Bestimmungen der Begriffe „výtrznictví“ / „chuligánství“ und „Rowdytum“ blieben, bewegten sich die auf diese Weise etikettierten Akteure an der Grenze des in Politik, Jurisdiktion und Gesellschaft mehrheitlich Akzeptierten. Das galt mit Blick auf Einstellungen zu geregelter Arbeit, Achtung staatlicher Sicherheitsideen, Rezeption äußerer (also westlicher) Kultureinflüsse, praktizierter Gewalt und so weiter. Die Oszillation zwischen Bagatelldelikt und veritabler Kriminalität erleichterte den Staaten einerseits die Etikettierung missliebiger Personen, löste allerdings andererseits Abwehrreaktionen der Jurisdiktion und der Sicherheitsapparate gegenüber dieser uneindeutigen „heißen Kartoffel“ aus (S. 229–232).

Mit Blick auf konzeptionelle Adaption und strafrechtliche Praxis bis in die 1970er-Jahre erkennt Kotalík eine doppelte Gemeinsamkeit: In der Tschechoslowakei und in der DDR fanden poststalinistische Begrifflichkeiten Verwendung; in der praktischen Umsetzung treten in beiden Beispielfällen staatliche Misserfolge zu Tage. Während der tschechoslowakische Staat in den 1970er-Jahren – als Reaktion auf die 1968er- Ereignisse – verstärkt auf Repression setzte, übte sich der ostdeutsche Staat – aufgrund seiner Bemühungen um internationale Anerkennung – in größerer Zurückhaltung. Interessanterweise erzeugte das unterschiedliche Vorgehen beider staatssozialistischer Regime je eigene Ambivalenzen: In der Tschechoslowakei provozierte es die Frage nach überzogener staatlicher Repression; in der DDR hegte die Mehrheitsgesellschaft Zweifel an der Durchsetzungskraft des staatlichen Sicherheitsapparats. Die Konsequenz war in beiden Fällen ähnlich, nämlich die wachsende Infragestellung der Herrschaftslegitimation. Kotalík erkennt hier die „ersten, fatalen Risse“ bei einer „jener wenigen ‚Brücken‘ zwischen SED und DDR-Bevölkerung (Thomas Lindenberger)“ – dem staatlichen Ordnungs- und Sicherheitsversprechen gegenüber der Mehrheitsgesellschaft (S. 303–306).

Mit seiner Arbeit präsentiert Matěj Kotalík einen aufschlussreichen transnationalen Blick auf das Thema zu „chuliganstwo“, „výtrznictví“ / „chuligánství“ und „Rowdytum“ – wobei „transnational“ die Entstehungsgeschichte der begrifflichen Figur und der Vergleich seiner jeweiligen praktischen Verwendung in den staatssozialistischen Regimen der Tschechoslowakei und der DDR meint. Die Arbeit ist klar strukturiert, operiert mit präzisen Begriffen und argumentiert plausibel. Künftige Auseinandersetzungen mit dem Thema werden um dieses Buch nicht herumkommen. Und Kotalíks Arbeit weckt beim Leser die Neugierde auf weitergehende Fragen. Können die gewählten Fallbeispiele sinnvollerweise um andere (staatssozialistische) Regime erweitert werden? Mit Blick auf die von Kotalík selbst betonten Einflüsse auf die DDR läge das Fallbeispiel Polen auf der Hand. Kotalík verweist zudem auf die Relevanz eines weitergehenden Systemvergleichs, nämlich wie sich staatssozialistische und nichtsozialistische Regime gegenüber jugendlicher Devianz verhielten (S. 15). Die Erweiterung des Untersuchungszeitraumes insbesondere mit Blick auf die 1980er-Jahre erscheint in mehrfacher Hinsicht spannend: Welchen Einfluss hatten etwa rechtsextremistische Einstellungen und Verhaltensweisen ostdeutscher Jugendlicher auf die Begriffsdefinition sowie die juristische und sicherheitspolitische Anwendung des „Rowdytums“? Schließlich wäre ein Perspektivwechsel vom herrschaftsorientierten Begriffsdiskurs in Politik, Jurisdiktion und Sicherheitsapparat hin zu gesellschaftlichen Akteuren und Praktiken von „chuliganstwo“, „výtrznictví“ / „chuligánství“ und „Rowdytum“ interessant, um Antworten auf die Frage nachzugehen: Was verstehen wir, wenn wir jugendliche Devianz in staatssozialistisch formierten Gesellschaften beobachten?

Anmerkung:
1 Vgl. u.a. Thomas Lindenberger, Volkspolizei. Herrschaftspraxis und öffentliche Ordnung im SED-Staat 1952–1968, Köln 2003; Marc-Dietrich Ohse, Jugend nach dem Mauerbau. Anpassung, Protest und Eigen-Sinn (DDR 1961–1974), Berlin 2003; Wiebke Janssen, Halbstarke in der DDR. Verfolgung und Kriminalisierung einer Jugendkultur, Berlin 2010; Brian LaPierre. Hooligans in Khrushchev’s Russia. Defining, Policing, and Producing Deviance During the Thaw, Wisconsin 2012; Bodo Mrozek, Jugend – Pop – Kultur. Eine transnationale Geschichte, Berlin 2019.

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