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Titel
Reinhard Höhn. Ein Leben zwischen Kontinuität und Neubeginn


Autor(en)
Müller, Alexander O.
Reihe
Biographische Studien zum 20. Jahrhundert
Erschienen
Berlin 2019: be.bra Verlag
Anzahl Seiten
338 S.
Preis
47,30 €
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Nikolas Lelle, Institut für Philosophie, Humboldt-Universität zu Berlin

Reinhard Höhn ist eine der Personen, von denen wir heute weit weniger wissen als seine Zeitgenoss/innen.1 Der Name dürfte nicht allzu vielen noch ein Begriff sein. Und das, obwohl Höhn im „Dritten Reich“ eine wichtige Figur war und die Lebensgeschichten von Carl Schmitt, von Werner Best oder Franz Alfred Six ohne ihn nicht erzählt werden können. Aber auch aus der bundesrepublikanischen Geschichte ist er nicht wegzudenken. Höhns Harzburger Modell gilt als wichtigstes Managementprogramm seiner Zeit, der 1950er- bis 1970er-Jahre.2 Dennoch fehlte bislang eine Gesamtdarstellung seines Lebens. Diese liefert jetzt Alexander Müller mit seiner Dissertation Reinhard Höhn. Ein Leben zwischen Kontinuität und Neubeginn, die in Chemnitz von Frank-Lothar Kroll betreut wurde.

Reinhard Höhn wurde 1904 geboren; mit 17 Jahren begann er sich in rechten Gruppierungen zu engagieren, erst beim antisemitischen Germanenorden Walvater, dann beim deutschvölkischen Schutz- und Trutzbund, schließlich beim Jungdeutschen Orden. Höhn studierte in Kiel und München und promovierte in Jena. Ab 1924 trat er mit rechten und rassistischen Artikeln in die Öffentlichkeit. Anfang der 1930er-Jahre kam es zum Bruch mit dem Jungdeutschen Orden, Höhn lernte Heinrich Himmler kennen und suchte die Nähe zur NSDAP.

Damit begann seine erste steile Karriere. Höhn trat im Mai 1933 der NSDAP bei, im September der SS und war am Aufbau des Sicherheitsdienstes der SS (SD) führend beteiligt. Parallel wurde er einer der „avanciertesten nationalsozialistischen Juristen“ (Franz Neumann).3 1935 folgte die Berufung auf eine außerordentliche Professur an die Berliner Universität. Höhn nutzte seinen Einfluss im SD, um Carl Schmitt, der zu seinem Konkurrenten und Kritiker geworden war, kaltzustellen. Schließlich ereilte aber auch ihn die Denunziation wegen seiner Vergangenheit beim Jungdeutschen Orden, einer in der Weimarer Republik mit dem Nationalsozialismus konkurrierenden rechten Gruppe. Höhn musste seine Posten beim SD räumen. Seiner Karriere schadete das indes wenig. Zum Kriegsbeginn wurde er auf eine ordentliche Professur in Berlin berufen. Er forschte nun vermehrt zur deutschen Militärgeschichte und arbeitete eng mit „SS-Intellektuellen“4 wie Werner Best zusammen. Ihre Großraumtheorie sollte den Überfall auf die Länder im Osten als „,vernünftige‘ Herrschaft“ (S. 99) legitimieren. 1944 wurde Höhn zum SS-Oberführer ernannt.

Zum Kriegsende floh Höhn aus Berlin und tauchte unter dem Alias Rudolf Haeberlein in Lippstadt unter. Für ein paar Jahre lehrte er als Heilpraktiker. Dann stellte er sich den Behörden und wurde erstaunlich schnell als „entlastet“ eingestuft. Später folgten allerdings noch einmal zwei Gerichtsprozesse gegen ihn. In einem wurde er 1958 zu 12.000 DM Geldstrafe verurteilt und zum Kreis der „Hauptschuldigen“ (S. 153) gezählt. Der Prozess gegen ihn „wegen des Mordes an Polen“ (S. 196f.) wurde 1966 eingestellt.

Mit seiner Anstellung bei der Volkswirtschaftlichen Gesellschaft und der Gründung der Bad Harzburger Akademie für Führungskräfte begann Höhns zweite Karriere. Er entwarf nun das sogenannte Harzburger Modell, ein Managementmodell, das die „Führung im Mitarbeiterverhältnis“ durch „Delegation von Verantwortung“ lehrte. Die Akademie war außerordentlich erfolgreich. Zahlreiche namhafte Firmen von Karstadt über Thyssen bis Aldi Nord ließen ihr Führungspersonal in Harzburg schulen. In den 1970er-Jahren begann der Niedergang. Höhns nationalsozialistische Vergangenheit wurde zum Politikum, und es erschienen vermehrt kritische Bücher und Gutachten über das Harzburger Modell. Die Akademie versuchte zwar sich zu erneuern, aber sie konnte an ihren Erfolg nie wieder anknüpfen. Ende der 1980er-Jahre wurde sie verkauft. Um Höhn wurde es ruhiger, einige Jahre behielt er aber noch seine Ämter. Im Mai 2000 starb er, ohne sich je öffentlich zu seiner Vergangenheit bekannt, geschweige denn von ihr distanziert zu haben.

Müllers Biographie liefert neue Erkenntnisse. Er besuchte nicht nur dutzende Archive, sondern konnte auch auf Höhns Privatnachlass zugreifen. Müller beleuchtet außerdem Phasen in Höhns Leben, über die bislang wenig bekannt war, etwa seine Zeit als Heilpraktiker oder die Geschichte der Gerichtsprozesse gegen ihn. Diese werden hier akribisch nachgezeichnet. Zugleich wartet Müller mit unglaublichen Geschichten auf. So soll sich Günter Wallraff einmal als Kabelträger eines Fernsehteams, das Höhn interviewen wollte, in die Akademie geschlichen haben und Höhn hat wohl „[k]leinere Beschwerden“ (S. 246) durch das energetische Auspendeln von Obst kuriert.

Müllers Anspruch ist es, eine „Gesamtbiographie“ vorzulegen, die „nach einer politischen Sozialisation und ideologischen Motivation, nach einer Überzeugungswelt, einer Persönlichkeit und ihrer Entwicklung“ (S. 12) fragt. Das ist angesichts eines Lebens, das sich fast über ein ganzes Jahrhundert erstreckt, ein ambitioniertes Unterfangen – umso mehr, wenn es um das 20. Jahrhundert in Deutschland geht. In welchem Verhältnis stehen die Lebensabschnitte von Höhn zueinander? Inwiefern macht es Sinn, hier von Kontinuitäten oder Brüchen zu sprechen? Das ist auch die Hauptfrage, die die politischen wie historiographischen Debatten über das Harzburger Modell seit den 1970er-Jahren umtreibt: In welchem Verhältnis steht dieses Managementmodell zum Nationalsozialismus? Höhns Leben ist der Spiegel, durch den diese Frage betrachtet wurde und wird.

Müller scheint mir bei der Beantwortung dieser Fragen ambivalent zu sein. Er argumentiert zwar explizit für einen Wandel Höhns, es finden sich aber auch etliche Stellen, die eine Kontinuitätsthese stützen. Müller charakterisiert Höhn als „Modell eines Machers, eines patriarchalischen Anführers“ (S. 235), als „politisch und ideologisch zuverlässige[n] Technokrat[en]“ (S. 250) und „gewiefte[n] wie gefürchtete[n] Taktiker“ (S. 250). Sein Beruf sei für ihn Berufung gewesen (S. 182) und ihn habe „Anpassungsfähigkeit“ (S. 255) ausgezeichnet. Diese Charakterisierungen sind nur für bestimmte Lebensabschnitte formuliert, aber es ist unklar, warum sie sich bloß auf diese beziehen sollen. Warum zum Beispiel sollte Höhn erst in der Nachkriegszeit damit beginnen, seinen Beruf als Berufung wahrzunehmen? Gegen den Strich gelesen liefert Müllers Buch hingegen genug Material, um Kontinuitäten zu attestieren. Er selbst schreibt, dass in Höhns Managementmodell „alte Deutungs- und Wertemuster“ (S. 253) fortlebten. Der Eindruck der Ambivalenz des Buches gründet sich darauf, dass Höhns Texte zu wenig systematisch aufeinander bezogen werden, vor allem nicht über die Lebensphasen hinweg. Wieviel von Höhns rechtstheoretischen Überlegungen zum „Führer“ im Nationalsozialismus, so könnte man zum Beispiel fragen, steckt noch in seinen Ausführungen zum Vorgesetzten in der Bundesrepublik?

Bisweilen überlässt es Müller den Leser/innen, den Kontext selbst zu eruieren und die Brisanz der Geschichten zu erkennen. Ein Beispiel: Höhn holte in der Nachkriegszeit alte Bekannte aus dem „Dritten Reich“ in die Akademie, u.a. Franz Alfred Six. Die Passage, in der Müller dessen Anstellung beschreibt, beginnt mit Six‘ Haftentlassung 1952. Dass Six im Nürnberger Einsatzgruppenprozess als Kriegsverbrecher zu 20 Jahren Haft verurteilt wurde, erwähnt Müller nicht. Diese, sagen wir: Zurückhaltung kennzeichnet das Buch auch an anderen Stellen. Müller erzählt etwa Aussagen zu Höhns Verteidigung vor Gericht nach, ohne sie einzuordnen oder nachzuprüfen. Stimmt es denn, dass Höhn dem „vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilten Widerstandskämpfer Johannes Popitz erleichterte Haftbedingungen verschafft“ hat (S. 149)?

Müllers Haupttext endet mit der Feststellung, dass Höhn bis zum Schluss versucht habe, Einfluss darauf zu nehmen, wie seine Lebensgeschichte erzählt wird. Der Schlusssatz bekräftigt diese Intention, wenn er einen Gesprächspartner Höhns mit der Aussage zitiert, Höhn habe einmal zugegegeben, „dass er erst später gesehen habe, dass nichts Gutes an der Zeit gewesen“ (S. 247) sei. Damit wird Höhn das Recht eingeräumt, zu bestimmen, wie er am Ende seiner eigenen Biographie dasteht. Aber Höhn hat nicht das allerletzte Wort. In der Schlussbetrachtung urteilt Müller über Höhns unentwegtes Schreiben bis an sein Lebensende: Das zeuge von „dem Beharren eines Ideologen, doch Avantgarde, doch Vordenker gewesen zu sein und als solcher am Ende doch Recht behalten zu haben“ (S. 256). Müller bezieht den Satz auf Höhns Zeit als alternder Managementlehrer. Er ließe sich aber auf dessen ganzes Leben beziehen.

Anmerkungen:
1 Ronald Car, Community of Neighbours vs Society of Merchants. The Genesis of Reinhard Höhn's Nazi State Theory, in: Politics, Religion & Ideology 16 (2015), S. 1–22, hier S. 1.
2 Vgl. Adelheid von Saldern, Das „Harzburger Modell“. Ein Ordnungssystem für bundesrepublikanische Unternehmen, 1960–1975, in: Thomas Etzemüller (Hrsg.), Die Ordnung der Moderne. Social engineering im 20. Jahrhundert, Bielefeld 2009, S. 303–329; Michael Wildt, Der Fall Reinhard Höhn. Vom Reichssicherheitshauptamt zur Harzburger Akademie, in: Alexander Gallus / Axel Schildt (Hrsg.), Rückblickend in die Zukunft. Politische Öffentlichkeit und intellektuelle Positionen in Deutschland um 1950 und um 1930, Göttingen 2011, S. 254–271.
3 Franz L. Neumann, Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933–1944, Hamburg 2018, S. 542.
4 Ulrich Herbert, Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft, 1903–1989, Bonn 1996, S. 529.

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