M. Braun: Von Menschen und Mikroben

Cover
Titel
Von Menschen und Mikroben. Malaria und Pest in Stalins Sowjetunion 1929–1941


Autor(en)
Braun, Matthias
Reihe
Forschungen zur osteuropäischen Geschichte 87
Erschienen
Wiesbaden 2019: Harrassowitz Verlag
Anzahl Seiten
291 S.
Preis
€ 39,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Florian Mildenberger, Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung, Stuttgart

Die Geschichtsschreibung über die Sowjetunion ist im Umbruch begriffen. Narrative einer emanzipatorischen Gesellschaftspolitik befinden sich seit einigen Jahren in der Defensive. Stattdessen rückt der Terror als immanenter Teil sozialistischer Politik in den Mittelpunkt, was wiederum Auswirkungen auf die Interpretation administrativer Handlungen hat. Die Bekämpfung von Malaria und Pest kann so – je nach Standpunkt des Betrachters – Teil einer neuen Sozialpolitik, Fortsetzung eines zaristischen Imperialismus oder aber ein Aspekt der Dominanzstrategie sein, welche die Sowjetunion entfesselte, um nichtrussische Teile der UdSSR stärker an die Zentralmacht zu binden. Matthias Braun geht bereits in der Einleitung auf diese Aspekte und Interpretationsfallen ein, wobei er die Standardwerke der jeweiligen Sichtweisen benennt. Auch macht er deutlich, dass „Pest“ oder auch „Malaria“ mehr waren als bloße Krankheiten – sie dienten je nach Position des Betrachters als Brille zur Erkennung und Benennung von Lebensgewohnheiten, Bildung oder Lebensstandard.

Das Buch ist in vier Hauptkapitel gegliedert: „Diskurse und Diagnosen“ ist der Erkennung und Deutung der beiden Seuchen in Russland vor und nach 1917 gewidmet, „Menschen und Mikroben“ schildert den wechselvollen Kampf von Ärzten und Bürokraten gegen die Erkrankungen, während „Kader und Krankenhäuser“ das eigentliche Hauptproblem im (lange vergeblichen) Kampf von Experten gegen Malaria und Pest benennt: die ständigen Einmischungen durch paranoide Kader in der Stalinära. An dieses Kapitel schließt sich ein kurzer Exkurs an, in welchem dem Leser die zeitgenössische Malariabekämpfung in anderen Ländern vorgestellt wird. Im Epilog wird dann noch einmal die Frage aufgeworfen, ob und wie Hygienepolitik Teil einer „zivilisatorischen Mission“ gewesen war. Der umfangreiche bibliographische Apparat, der u.a. darüber Auskunft gibt, welche Quellenstudien Braun in russischen und aserbaidschanischen Archiven unternommen hat, rundet den Band ab.

Malaria und Pest waren in Transkaukasien so sehr Teil der Lebenswelt, dass die Einheimischen die wiederkehrenden Epidemien nicht als vermeidbare Katastrophen auffassten – ganz im Gegensatz zu russischen Bürokraten, die im späten 19. Jahrhundert die Erfahrung machen mussten, dass zur Kolonisation deportierte Bauern, stationierte Soldaten und russische Händler reihenweise erkrankten, starben oder desertierten. Sowohl zaristische Ärzte als auch muslimische Reformer nahmen an, dass eine Hebung des Bildungsniveaus die Bekämpfung der Krankheiten begünstigen werde, doch konnten sich beide Seiten nicht auf eine Aufteilung von Kompetenzen und Mitteln einigen. Die Gesundheitspolitik der Sowjetunion der frühen 1920er Jahre stand ganz im Bannkreis einer westlichen Sozialhygiene, die der zuständige Volkskommissar Nikolai Semaschko (1874–1949) verkörperte (S. 67). Aufklärungskampagnen vor Ort, breite Anwendung von Chinin, mobile Ärzteteams und eine generationenübergreifende statistische Erfassung der Bevölkerung wurden eingesetzt. Semaschkos langfristig angelegte Politik kollidierte jedoch mit den Ansprüchen der Fünfjahrespläne und sie verhinderte auch nicht den Ausbruch der Pest im Jahre 1931. Stattdessen sollte nun ein engmaschiges, in die Kampagnen zu Landerschließung und Industrialisierung eingebundenes Bekämpfungsprogramm treten, das sich durch Zusammenwirken von Ministerien und Geheimpolizei auszeichnete. Die aserbaidschanische Parteiführung tat sich durch besonderen Eifer hervor, denn eine erfolgreiche Bekämpfung der Malaria (und nachrangiger, der Pest) schuf die Grundlage für höhere Erträge in der Landwirtschaft (S. 121f.). Zugleich führten die umfänglichen Kultivierungsmaßnahmen zu einer Zerstörung überkommener Dorf- und Machtstrukturen und stellten eine Demonstration der Überlegenheit des Sozialismus dar. Gleichwohl funktionierte die Modernisierung nicht so wie geplant: zwar gelang es breite Bevölkerungsschichten für Strategien zur Krankheitsvermeidung zu sensibilisieren, aber die Versorgung mit Ärzten und Krankenhäusern blieb weit hinter den Planungen zurück. Schließlich erreichte der „Große Terror“ Ende 1936 Transkaukasien und ließ durch willkürliche Verhaftungen, Verurteilungen und die Ausweitung des Denunziantenwesens die bislang durchaus erfolgreiche Arbeit der Gesundheitsbehörden kollabieren. Erfolgreiche Ärzte wurden verurteilt und durch willfährige, aber oftmals völlig ungeeignete Kader ersetzt. Die Bevölkerung wurde erneut verunsichert und der immer gewaltsamer agierenden Sowjetmacht sukzessive entfremdet. Dass es ohne zu offensichtlichen Zwang bei ähnlicher medizinisch-technokratischer Vorgehensweise besser hätte funktionieren können, lässt der Hinweis des Autors auf die Türkei oder Italien deutlich werden (S. 233, 237).

Leider lässt Matthias Braun in seinem Epilog nicht erkennen, wie es der Sowjetunion schließlich doch gelang, die Malaria niederzukämpfen: durch Import des „kapitalistischen“ DDT in den 1950er Jahren. Der flächendeckende Einsatz des Giftes begünstigte auch das Ausbleiben neuer Pestwellen, da Krankheitsüberträger dezimiert wurden. Gleichwohl handelt es sich bei dem vorliegenden Buch um eine wertvolle Studie, die nicht nur Einblicke in Denkwelten und Anspruchsdenken sowjetischer Bürokraten gewährt, sondern auch erkennen lässt, wie eng die unterschiedlichen Interpretationsmöglichkeiten sowjetischer Gesundheitspolitik miteinander verwoben sind: ohne die Erkenntnisse (und die Kenntnis der Misserfolge!) zaristischer imperialer Strategien hätten die sowjetischen Kampagnen niemals Erfolg haben können. Die Zentralisierung unter Stalin führte Landerschließung, Überwachung, Zerstörung überkommener Strukturen und die Gewährung von Gesundheit für alle „Sowjetbürger“ zusammen – jedenfalls bis zu dem Moment, als das auf Zwang und Paranoia aufgebaute System die eigenen Spitzenkräfte eliminierte. Kritisch bleibt anzumerken, dass die Rezeption der Forschungsliteratur bisweilen lückenhaft ist. So wird beispielsweise das Werk von Polianski1 nicht aufgeführt. Das Fehlen eines Registers ist ebenfalls zu bedauern.

Anmerkung:
1 Igor Polianski, Das Schweigen der Ärzte. Eine Kulturgeschichte der sowjetischen Medizin und ihrer Ethik, Stuttgart 2015.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension