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Titel
Ein(ver)nehmen. Sexualität und Alltag von Wehrmachtssoldaten in den besetzten Niederlanden


Autor(en)
Fahnenbruck, Laura
Reihe
L'Homme Schriften. Reihe zur Feministischen Geschichtswissenschaft 24
Erschienen
Göttingen 2018: V&R unipress
Anzahl Seiten
474 S.
Preis
€ 55,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Regina Mühlhäuser, Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur

Welche Bedeutung hatten Sexualität und sexuelle Gewalt für die deutsche Kriegsführung im Zweiten Weltkrieg? Wie verhielten sich die Soldaten gegenüber einheimischen Frauen und Mädchen in den besetzten Gebieten? Und welche Interessen verfolgten Wehrmacht, „Schutzstaffel“ (SS) und zivile Besatzungsbehörden, die das Verhalten der Männer – je nach Situation – tolerierten, förderten oder bestraften? Solche Fragen sind in den letzten Jahren verstärkt in den Blick der Forschung gerückt. Bisherige Ergebnisse legen nahe, dass sich die Praktiken der Soldaten wie auch die sexuellen Politiken der militärischen und zivilen Besatzungsbehörden zum Teil deutlich unterschieden – abhängig von der jeweiligen Akteurskonstellation, den situativen Bedingungen und den nationalsozialistischen „Rasse-“ und „Volkstums“-Vorstellungen in Nord-, West-, Süd- und Osteuropa.1

Laura Fahnenbrucks Studie fügt diesem Bild einen zentralen Baustein hinzu, indem sie einen bisher kaum beachteten Besatzungsraum zum Gegenstand macht: die Niederlande, die während des Zweiten Weltkriegs durch eine für große Bevölkerungsschichten vergleichsweise friedliche Besatzungspraxis charakterisiert waren. Am 10. Mai 1940 marschierten Soldaten der 6. und 18. Armee in den Niederlanden ein. Nach einem 5-tägigen Krieg, der mit der Bombardierung Rotterdams endete, wurde die deutsche Besatzung etabliert. Aus Sicht der Soldaten stellte sich dies vor allem als Geschichte einer Annäherung zwischen Deutschen und Niederländern dar, zwischen Heimat und Front. Wie können wir die sexuellen encounters deutscher Soldaten und niederländischer Frauen in dieser vergleichsweise friedlichen Etappensituation verstehen?

Fahnenbruck verfolgt diese Frage in drei Hauptkapiteln: 1. Einvernehmlicher Sex; 2. Prostitution; 3. Sexuelle Gewalt. In allen Bereichen, so ein zentrales Ergebnis, trugen sexualpolitische Entscheidungen des Wehrmachtsbefehlshabers – etwa über den Umgang mit Heiratsgesuchen oder die Einrichtung von Militärbordellen – entscheidend dazu bei, den deutschen Soldaten ebenso wie der einheimischen Bevölkerung ein Gefühl von Normalität im Besatzungsalltag zu vermitteln. Wie wirkmächtig diese Politik war, zeigt sich etwa im bis heute Bestand habenden „Liebesnarrativ“ – „wo die Liebe hinfällt …“ (S. 35). Dieser Entpolitisierung stellt Fahnenbruck eine dichte Beschreibung entgegen, die deutlich macht, dass jeder sexuelle Kontakt überhaupt nur durch die asymmetrischen Machtverhältnisse zustande kam, die die Handlungsräume der Soldaten wie der Frauen prägten.

Hilfreich für zukünftige Forschungen ist auch Fahnenbrucks Zuspitzung, ob man einvernehmliche Verhältnisse und Prostitution nicht als Kriegsstrategien in der Etappe begreifen sollte (S. 36). Während bisher nur darüber diskutiert wird, ob und wann sexuelle Gewalt eine Kriegswaffe darstellt, weitet Fahnenbruck die Debatte aus und eröffnet so neue Verständnismöglichkeiten.

Das Forschungsobjekt der Studie sind Soldaten der deutschen Wehrmacht, Fahnenbruck fragt aber auch nach der Perspektive der Bevölkerung. Durch die Auswertung einer breiten Quellenbasis (auch bisher unbeachteter Materialgattungen wie Tornisterschriften, Heiratsanzeigen oder Kameradenbüchern) erlaubt die Studie neue Einsichten in die Praktiken und Sichtweisen deutscher Soldaten. Aus alltagsgeschichtlicher Perspektive beleuchtet die Autorin, wie sich die Männer vor Ort die zum Teil widersprüchlichen Regeln aneigneten. Dabei beschreibt sie die Wehrmacht nicht als militärische top-down-Hierarchie, sondern fragt, inwiefern die Praktiken der Soldaten wiederum Einfluss auf die Sexualpolitik der Wehrmacht hatten. So interpretiert sie die Tatsache, dass die Männer Kontaktanzeigen in niederländischen Zeitungen aufgaben, als Eigeninitiative, mit der die Soldaten ihre persönlichen Hoffnungen verfolgten. Dass das NS-Regime Eheschließungen mit Niederländerinnen erlaubte, nahmen die Soldaten als Anreiz, an ihrem privaten Glück in der imaginierten Nachkriegszeit zu arbeiten. Die Wehrmacht entschied, diese Eigeninitiative der Männer zu tolerieren. Letztlich war sie „eine privatisierte Reklame für die ‚Neue Ordnung‘“ (S. 128).

Dies bedeutete aber nicht, dass die Soldaten in der Etappe zu Privatmännern wurden, betont Fahnenbruck. Kontakte mit einheimischen Frauen und Mädchen boten ihnen die Gelegenheit, ihre Machtposition als Besatzer auszubauen. Wenn Kneipenwirte Soldaten wegschickten, weil diese in Begleitung minderjähriger Frauen waren, widersetzten sich die Soldaten, mitunter mit Waffengewalt. Die Wehrmacht mahnte zwar, die Autorität der niederländischen Polizei nicht zu unterminieren, um die Besatzungspolitik stabil zu halten, fand jedoch wenig Gehör.

Für den Großteil der Bevölkerung stellten Verhältnisse zwischen niederländischen Frauen und deutschen Besatzungssoldaten eine Provokation dar. Man fühlte sich durch solche Paare gestört, es gab Schlägereien zwischen deutschen Soldaten und einheimischen Männern und Eltern schalteten die Polizei ein, um ihre Töchter suchen zu lassen. Wie Fahnenbruck anhand niederländischer Polizeiakten zur „Jugendverwahrlosung“ zeigt, nutzten zahlreiche junge Frauen und Mädchen die Situation ihrerseits, um sich Handlungsräume zu erobern. Mit den Soldaten auszugehen, bot ihnen neue Möglichkeiten, sich auszuprobieren und sich von ihren Familien abzugrenzen.

Hier zeigt sich allerdings auch eine Schwäche der Arbeit, denn Fahnenbruck verliert sich mitunter in der Fülle ihrer Quellen und lässt eine konzeptuelle Rahmung und eine eigene Argumentation vermissen. So schildert sie etwa im Kapitel „Einvernehmlicher Sex“ einen Fall, in dem die Mutter den sexuellen Kontakt ihrer 16-jährigen Tochter bei der Polizei als Gewaltakt anzeigt. Die junge Frau war anfangs gern mit dem Deutschen spazieren gegangen, aber als er zudringlich wurde, bekam sie Angst. „Ich hab ihm gesagt, dass er [...] aufhören sollte, und ich hab ihn auch weggedrückt, aber er war stärker als ich.“ Die niederländische Polizistin wies die Anzeige dennoch ab. Fahnenbrucks Fazit folgt ihr, wenn sie schreibt, die Aussage des Mädchens lasse „kein eindeutiges Bild zu. Womöglich veränderten sich seine Empfindungen im Laufe des Ereignisses mehrfach.“ (S. 152) Hier vermisst man als Leserin eine differenzierte Einordnung. Denn die Tatsache, dass die junge Frau neugierig und von der Aufmerksamkeit des etwas älteren Soldaten geschmeichelt war, ist kein schlüssiges Argument dagegen, dass es sich hier um sexuelle Gewalt handelte. Um den Fall besser zu verstehen, wäre es hilfreich, Literatur zu gender, age und consent hinzuzuziehen. Zudem gilt es, die Position des Deutschen zu hinterfragen. Selbst wenn er selbst jung und eher unsicher gewesen sein mag, scheint er sich zugestanden zu haben, die junge Frau zu bedrängen. Was gab ihm das Gefühl, dieses Recht zu haben?

Auch an anderen Stellen hätte man sich eine stärkere Kontextualisierung gewünscht, etwa wenn Fahnenbruck mehrere Fälle von Vergewaltigung durch turkmenische Soldaten beschreibt (S. 378f., 389ff.). Die Leserin erfährt nicht, wer die Männer waren oder welche Stellung das turkmenische Bataillon innerhalb der Wehrmacht hatte. Auch wird nicht gefragt, warum diese Fälle vergleichsweise häufig zur Anzeige gebracht wurden. Dies ist besonders misslich, weil es das verbreitete Klischee unterstützt, Vergewaltigungen seien vor allem von „Fremden“ verübt worden.

Durch die fehlende Einordnung von Quellen und einige Redundanzen ist das Lesen des Buches mitunter etwas beschwerlich. Gleichwohl lohnt es sich sehr. Die Bandbreite des Quellenkorpus erlaubt neue Einsichten in die Ambivalenzen und Widersprüche, die die Verwobenheit von Sexualität, Macht und Gewalt im Besatzungsalltag hervorbrachte. Zudem kommt die Vielschichtigkeit der sexuellen Praktiken in den Blick (etwa das bisher unbearbeitete Thema sadomasochistischer Prostitution). Indem Fahnenbruck viele Fallbeispiele heranzieht, ermöglicht sie einen vielschichtigen Blick, wer wann wie und warum Sex zum Thema machte.

Anmerkung:
1 Vgl. u.a. Insa Meinen, Wehrmacht und Prostitution während des Zweiten Weltkriegs im besetzten Frankreich, Bremen 2002; Birgit Beck, Wehrmacht und sexuelle Gewalt. Sexualverbrechen vor deutschen Militärgerichten 1939–1945, Paderborn 2004; Regina Mühlhäuser, Eroberungen. Sexuelle Gewalttaten und intime Beziehungen deutscher Soldaten in der Sowjetunion, 1941–1945, Hamburg 2010; Maren Röger, Kriegsbeziehungen. Intimität, Gewalt und Prostitution im besetzten Polen 1939 bis 1945, Frankfurt am Main 2015; Kjersti Ericsson, Love and War. Norwegian Women in Consensual Sexual Relationships with German Soldiers, in: dies. (Hrsg.), Women in War. Examples from Norway and Beyond, Farnham 2015, S. 147–163; Stacy Hushion, Intimate Encounters and the Politics of German Occupation in Belgium, 1940–44/45, unveröffentlichte Dissertation, Toronto 2015; Fabrice Virgili, Rapes committed by the German army in France (1940–1944), in: Vingtième siècle 130 (2016), S. 103–120.

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