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Titel
Hinterlassenschaft. Texte 1972 bis 2022


Autor(en)
Höhne, Reinhard Günter
Erschienen
Berlin 2023: verlag am park
Anzahl Seiten
507 S.
Preis
€ 20,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Bernd Lindner, Leipzig

Wer sich für Design aus der DDR und dessen wechselvolle Geschichte interessiert, kommt um Günter Höhne nicht herum. Seit den 1990er-Jahren hat der Autor allein zu diesem Themenkomplex zwölf Bücher und zahlreiche Aufsätze sowie Artikel in Katalogen, Fachzeitschriften, Zeitungen etc. veröffentlicht – meist illustriert mit Fotos aus seiner tausende Motive umfassenden DDR-Designfotothek. Als Vorlage dafür dienten ihm vor allem Objekte aus der eigenen Sammlung von Produkten und Dokumenten zur Geschichte der industriellen Formgestaltung in der DDR (so die dort übliche Bezeichnung für den allzu westlich geprägten Design-Begriff), die er nach 1990 mit seiner Frau Claudia (wiederholt neu) aufgebaut hat. Denn von ihrem Sachverstand profitierten bereits mehrere deutsche Museen: So 2004 das GRASSI Museum für Angewandte Kunst in Leipzig und ab 2007 die Neue Sammlung des Design Museums München in der Pinakothek der Moderne. Tausende Objekte gingen dorthin, wo bis dato ostdeutsches Design kaum vertreten war. Nicht ohne dass Höhne sie zuvor in selbstkuratierten Ausstellungen wie „gebrauchs gut. Ostdeutsches Design mit Tradition“ deutschlandweit über 60.000 Besucherinnen und Besuchern präsentiert hatte.

Der 2023 zu seinem 80. Geburtstag erschienene umfangreiche Sammelband mit Texten von ihm belegt eindrücklich, dass Höhne jedoch mehr als nur ein Kenner von DDR-Design und ausgewiesener Bautheoretiker ist. Als Autor der „Weltbühne“ und des „Sonntag“ (Wochenzeitung des DDR-Kulturbundes) bis 1990 und danach der „Neuen Zeit“, der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, der „Berliner Zeitung“, des „Tagespiegels“, der „taz“ und anderen Tageszeitungen veröffentlichte er auch Theater-, Ausstellungs- und Musikrezensionen. Eine Auswahl davon ist hier ebenso nachzulesen (S. 281–342) wie seine Texte zu Begegnungen mit Schriftstellern und literarischen Betrachtungen (S. 343–406) oder zu den kulturellen Umbrüchen im Osten Deutschlands nach 1989/90 (S. 407–440). Versprengt erschienene Kolumnen und Glossen (S. 441–499) runden das Bild des 1943 in Zwickau geborenen, vielseitigen Autors ab. Dabei hat er sein Berufsleben Anfang der 1960er-Jahre als Unterstufenlehrer begonnen, wurde aber bald „wegen ideologischer Unreife zur Bewährung in die Produktion geschickt“ (S. 7). Zwar durfte er nach einem Jahr zurück in den Schuldienst, wechselte aber – zwischenzeitlich mit ersten Artikeln in der Presse hervorgetreten – 1968 zum Rundfunksender „Radio DDR“, wo er über zehn Jahre als Redakteur, Moderator und Reporter tätig war. Das Journalisten-Diplom erwarb er 1975 im Fernstudium.

Im vorliegenden Buch, dessen Artikelauswahl der Autor mit getroffen hat, durchschreitet er in jedem der Themenfelder einen weiten Kreis. So auch bei der Literatur. Hier reicht er von seinen Erinnerungen an den „ersten Schriftsteller“, den er mit 15 „wirklich er-lebte“ (den Ethnologen und Autor zahlreicher Reisebücher von Lappland bis zu den „Indianerstämmen“ des Amazonas, Erich Wustmann, den er 1982 für den „Sonntag“ erneut aufsuchte; S. 353–359) bis zu Günter Grass' Erzählung über das fiktive „Treffen in Telgte“ im Jahr 1647, indem der Schriftsteller seine Leser „ins offene Schlachtfeld der Weltläufte“ kurz vor Ende des Dreißigjährigen Krieges führt und doch die Menetekel der Jetzt-Zeit meint: „Der Erzähler zeigt, dass da eines unweigerlich ins andere geht, dass (Dicht-)Kunst von dieser Welt ist, in der sie lebt – wen sie lebt“ (S. 365–368). Und sie lebt durch ihre Sprachgewalt. Weshalb Höhne andernorts von der Literaturkritik fordert, sich „nicht aufs Auseinanderglauben und Bewerten von Geschichten (zu) beschränken, sie hat auch Notiz zu nehmen von der sprachkünstlerischen Substanz eines Werkes“ (S. 371; unter Bezug auf Jurij Kochs Novelle „Der Kirschbaum“). Beide Rezensionen erschienen 1985 in der „Weltbühne“.

Fünf Jahre später fragte er sich besorgt: „Verschwindet mit dem DDR-Staat auch die DDR-Literatur? Welche Chance haben Verlage und Autoren, eine eigene Identität zu bewahren?“ Nicht gemeint sind damit einst „hochkarätige Staatsschreiber“, wie etwa Erik Neutsch, deren Werke nun unverkäuflich sind. Höhne begrüßt, dass es „für Konformismus […] keine Adressaten“ mehr gibt, „jedenfalls keine mächtigen.“ Aber selbst „die schriftstellerische Opposition hat ihre Stimme vorerst verloren“ und die „Ignoranz westdeutscher Verleger“ würde dafür sorgen, dass es dort weitgehend unbekannte, im Osten aber hochgeschätzte Autoren wie Jurij Brêzan, Jurij Koch oder die Strittmatters auch bleiben. Chancen sieht Höhne dagegen für „das Feld der Aufklärung über den Stalinismus […] seine Opfer, den Widerstand, die Folgen. Das wird sicher breit bestellt werden jetzt – was kommt danach?“ Prognostizierte er noch im Frühjahr 1990 im Berliner Stadtmagazin „tip“ für die ostdeutsche Literatur „eine Chance zum Überleben […] über den Jahrgang 1990 hinaus“ (S. 413–417), sieht er ein Jahr später – an selber Stelle – unter der Überschrift „Lizenz zum Töten“ die Situation einst renommierter DDR-Verlage wie Volk und Welt oder Neues Leben schon kritischer: Vieles „wird auf der Strecke bleiben“ angesichts der „radikal gestrichenen Mitarbeiterstellen“ – wie zum Beispiel die „geschätzte akribische und autorenfreundliche Lektoratskultur“ (S. 418–421). Auch würden Autoren, die ihre in der DDR verbotenen Bücher bisher bei Westverlagen publizieren mussten (Stefan Heym und andere), es künftig nur noch dort tun.

Den weitaus größten Teil des Sammelbandes nehmen jedoch Höhnes Aufsätze und Artikel zu „Design – Bauen – Umweltgestaltung“ (S. 6–280) ein. Seit seiner Rundfunkzeit dem Thema Formgestaltung verbunden, war er von 1984 bis 1989 Chefredakteur von „form+zweck“, der einzigen Design-Fachzeitschrift der DDR. 1996 gründete er dann die Theoriezeitschrift „form diskurs“ in Frankfurt am Main mit und war bis 2000 einer ihrer Herausgeber. Seit 2006 betreibt er mit Claudia Höhne die Internetseite https://www.industrieform-ddr.de und ihren lesenswerten „Newsletter Industriekulturbrief OST“. Anlass dazu war auch der 2000 erschienene Deutschland-Band der Design-Lexikon-Reihe des DuMont Verlags Köln, der mit „verbissener Ignoranz“ eine „Totaloperation des DDR-Designs“ aus der deutschen Gestaltungsgeschichte vornahm (S. 90). Diesem gezielten Vergessen setzt er sein Engagement für das Design und die Designer aus der DDR entgegen, die sich dort „überhaupt keinen Namen machen“ konnten, da über 95 Prozent von ihnen „als Kollektivmitglieder in den Betrieben angestellt“ waren (S. 22). „Alles war ‚volkseigen‘, auch die Kreativität der Designerinnen und Designer. Nicht zuletzt deshalb ‚gab es kein Design‘ in der DDR, jedenfalls in der westlichen Wahrnehmung“ (S. 17). Und wenn doch, dann wird Höhne vor allem nach den Unterschieden zwischen DDR- und Westprodukten gefragt, „seltsamerweise“ aber nie „nach den Gemeinsamkeiten ost- und westdeutschen Designs. Und gerade hier gibt es eine bemerkenswerte Substanz.“ Denn beiderseits wurde „ein schlüssiges Verhältnis von Zweckbestimmung und Gestaltlösung“ (S. 20) gesucht. Spezifisch für die Produkte aus der DDR war dagegen, dass sie „meist für den dauerhaften und zuverlässigen Gebrauch entworfen“ wurden und „reparaturfreundlich, funktionell wie ästhetisch auf Komplexität angelegt, eher praktisch als modisch orientiert“ (S. 21) waren. Höhne wird nicht müde, dies anhand konkreter Entwürfe und ihren industriellen Umsetzungen zu zeigen; stets unter den namentlichen Verweis auf ihre Schöpfer. Immer wieder hebt er in Laudationen zu runden Geburtstagen oder bei Ausstellungseröffnungen wie -kritiken deren Leistungen hervor; leider immer öfter auch in Form von Nachrufen. Der Band enthält eine große Zahl dieser meist in Höhnes Newsletter publizierten Texte. Das schließt würdigende Beiträge über (die wenigen) westdeutschen Museumsleiter und Designhistoriker, die sich um die Bewahrung des ostdeutschen Erbes und die Zukunft ihrer Zunft verdient gemacht haben (wie Florian Hufnagel und Michael Erlhoff) ein; ebenso wie seine bereits verstorbenen Vordenker und Mitstreiter im Osten (zum Beispiel Heinz Hirdina, Karl-Heinz Hüter oder Bruno Flierl).

Wie sie hat er erste berufliche Durststrecken nach dem Kollabieren des „Staatsterrarium DDR“ (S. 73) zielstrebig überwunden, um unter dem Motto „Privat sammeln – öffentlich arbeiten“ (so der Titel seiner Rede vor der Gesellschaft für Designgeschichte 2013; hier S. 13–19) im fortgeschrittenen Alter neu durchzustarten. Befragt vom Magazin „Design-Report“, ob die Tätigkeit als Chefredakteur von „form+zweck“ bis 1989 seine „schönste Zeit“ gewesen sei, antwortete Höhne 14 Jahre später: „Nein, aber die aufregendste, weil erkenntnisreichste Phase meines Arbeitslebens. Die schönere lag davor, die erfolgreichste kam danach“ (S. 8). Dafür stehen auch die ihm seitdem zahlreich verliehenen Auszeichnungen – nachzuvollziehen anhand des vorliegenden opulenten Bandes. Unverständlich nur, warum der Verlag diesen unter der vollständigen Vornamenfolge des Autors – Reinhard Günter Höhne – herausgebracht hat, wo der alle seine verdienstvollen Bücher und Publikationen allein mit Günter Höhne überschrieben hat.

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