L. Hecht u.a. (Hrsg.): Queerness in der Kunst der Frühen Neuzeit?

Cover
Titel
Queerness in der Kunst der Frühen Neuzeit?.


Herausgeber
Hecht, Lisa; Ziegler, Hendrik
Reihe
Studien zur Kunst
Erschienen
Wien; Köln 2023: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
320 S.
Preis
€ 57,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wolfgang Burgdorf, Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München

Aufklärung und Verwissenschaftlichung vollzogen sich insbesondere durch sprachliche Differenzierung und Präzisierung. Hinsichtlich der sexuell basierten Identitäten hat sich dieser Prozess erst in den letzten Jahrzehnten intensiviert. Er findet seinen Niederschlag unter anderem in der Abkürzung LGBTQIA+ für Lesbian, Gay, Bisexual, Transsexual/Transgender, Queer, Intersexual und Asexual, wobei das Pluszeichen für genderfluide und andere sexuelle Orientierungen oder Identitäten steht. In den letzten Jahrzehnten kam es zur Pluralisierung und Diversifizierung der Kategorien und Begrifflichkeiten, die eine differenziertere Wahrnehmung menschlicher Sexualitäten und Geschlechtsidentitäten spiegeln. Eine Sammelbezeichnung für Menschen, die sich durch ihre sexuelle Orientierung oder geschlechtliche Identität von der Heteronormativität abgrenzen, ist queer. Früher im anglophonen Raum im Sinne von sonderbar, suspekt als Schimpfwort verwendet, um Homosexuelle abzuwerten, wird es seit Mitte der 1990er-Jahre international als positive Selbstbezeichnung vor allem von nicht-heterosexuellen Menschen verwendet. Queerness unterläuft demnach die vorgegebene herrschende Normalität im Bereich von Geschlecht und Sexualität und umfasst schwule, lesbische, bisexuelle, transgender, intersexuelle, asexuelle, polyamore, fetischorientierte und anderen Lebensweisen und Begehrensformen. Queerness steht für das Aufbegehren gegen Nivellierungen, Normalitätsdiktate und Zwangsanpassungen. Queerness bedeutet eine Erweiterung von individuellen Handlungsmöglichkeiten und Selbstinszenierungen. Es ist also zunächst eine intellektuelle Entscheidung, wie die eigene Person inszeniert wird, und es geht um eine Sender-Empfänger-Kommunikation. Dabei kann es auch vorkommen, dass jemand oder etwas entgegen seiner eigenen Intention als queer wahrgenommen wird. Manche sind von Natur aus queer, manche entscheiden sich für Queerness, wieder anderen wird sie aufgedrängt.

Damit ist auch das Thema des vorzustellenden Bandes „Queerness in der Kunst der Frühen Neuzeit?“ umrissen. Er geht auf eine Tagung am Kunstgeschichtlichen Institut der Universität Marburg im März 2021 zurück. Die Verlagswerbung fragt: „Sind die lasziven Jünglinge der Renaissance-Kunst Ausdruck einer schwulen∗ Subkultur? Sind bärtige Frauen an europäischen Höfen widerständige Figuren, die sich gegen Genderbinarismen auflehnen? Ist das Spiel mit Maskeraden und Moden ein Beleg für ein fluides Geschlechterverständnis? Können fantasievolle Formenerfindungen in Architektur und Ornament Zeugnisse queerer Ästhetiken in der Vormoderne sein?“ Kann „Queerness“, so ließen sich diese Fragen zusammenfassen, ein produktiver Beobachtungsbegriff für die Kunstgeschichte der Frühen Neuzeit sein? Schließlich eröffnet Kunst von jeher einen Möglichkeitsraum, in dem sich Ambiguitäten und Fluiditäten unabhängig von tatsächlichen soziopolitischen Gegebenheiten entfalten können. „Offenbar war die Kunst der Frühen Neuzeit nicht nur von ungleichheitsgenerierenden Normsetzungen und von ausschließlich binären und hierarchischen Geschlechtsvorstellungen geprägt.“ (so auf dem Buchrücken und in der Verlagsankündigung auf der Verlags-Website).

Nach einer Einleitung der Herausgeber:innen verteilen sich die achtzehn Beiträge auf fünf Sektionen. In der Einleitung „Der Schlaf des ‚Hermaphroditen‘ Oder: Wie queer ist die Kunst der Frühen Neuzeit?“ werden zunächst einige einschlägig bekannte Werke der Frühen Neuzeit besprochen, Caravaggio oder das berühmte Porträt Gabrielle d’Estrées und ihrer Schwester, um dann die Darstellung von ‚Hermaphroditen‘ in Bildern und Texten zu erörtern. Der Begriff ‚Hermaphroditen‘ wird in Anführungszeichen gesetzt, um ihn als historische Fremdzuschreibung von heutigen Identitätsbegriffen und Selbstbezeichnungen zu distanzieren. Im 1765 erschienenen achten Band der Encyclopédie heißt es: „Auch wenn die Natur sich zuweilen bei der Hervorbringung des Menschen verirrt, so geht sie doch nie so weit, Metamorphosen, Vermischungen der Substanzen & vollständige Verbindungen beider Geschlechter zu erzeugen“ (S. 20). Albrecht von Haller schrieb hingegen 1777 im dritten Supplementband: „Aber gegen Tatsachen hilft kein Räsonieren. Es scheint, dass es tatsächlich Menschen gab, denen nichts Wesentliches von beiden Geschlechtern fehlte“ (S. 20).

Das Ein-Geschlecht-Modell, welches auf die Humoralpathologie des antiken Arzt Galenus zurückgeht, wurde von Thomas Laqueur als vormodernes Standardmodell angesehen. Demnach wären Frauen unvollkommene Männer. Aufgrund mangelnder Hitze hätten sich die männlichen Geschlechtsorgane nach innen gestülpt. „Dieser frühneuzeitlichen Vorstellung von Geschlecht wohnte somit ein gewisses ‚queeres‘ Potenzial inne“ (S. 21). Diese medizinische Theorie war jedoch hochelitär und berührte die Masse der Menschen kaum. Seit der Antike mussten intergeschlechtliche Menschen einen Geschlechtseid ablegen und sich für ein Geschlecht entscheiden. Mitunter endeten solche Biographien im Konflikt mit den gesellschaftlichen Vorstellungen im Suizid. Die Wahrnehmung einer angeblichen Monstrosität stand im Kontrast zur queeren ästhetischen Überhöhung in der Kunst.

Änne Sölls Beitrag „Some faggy gestures. Queere Perspektiven der Kunstgeschichte“ eröffnet die Rubrik „Methode“ und behandelt Strategien der Queerness-Forschung, des ‚queer reading‘, des Gegen-den-Strich-lesens der heteronormativen Mainstream-Kultur. Dadurch wird deutlich, dass „für die Darstellung meist adliger Männlichkeiten unterschiedlichste historische Körpercodes gegolten haben, die wir heute mit Weiblichkeit, Effemination und eben mit der abwertenden Bezeichnung ‚fag‘ (‚Tunte‘) assoziieren“ (S. 33).

Barbara Paul konstatiert „What is queer today is not queer tomorrow“ und untersucht die Installation Ahnen (2014) von Ins A Kromminga. Fundamental ist Pauls Feststellung, „dass das Denken an sich heteronormativ geprägt und strukturiert ist und dementsprechend praktiziert wird“ (S. 39). Ob es jedoch zielführend sei, wie in jüngerer Zeit im deutschsprachigen Raum vorgeschlagen und von Barbara Paul referiert, den Terminus ‚queer‘, weil er zu „‚weiß‘, zu wenig intersektional und theoretisch reingewaschen erscheint“ durch den Begriff ‚pervers‘ zu ersetzen (S. 41), kann bezweifelt werden. Ein Bestandteil der Installation Ahnen sind Bildnisse von Medizinern, die „in dem Herm-Diskurs verwickelt sind, insofern sie für Prozesse der Pathologisierung, Gewaltausübung und ‚Menschenrechtsverletzungen‘ mitverantwortlich sind“ (S. 45), aber auch der bzw. des intergeschlechtlichen Herculine bzw. Abel Barbin, der:die sich 1868 im Alter von 29 Jahren umbrachte und die Mitwelt in ihren:seinen Erinnerungen aufforderte: „findet heraus, wie viele Pulsschläge die tödliche Verachtung, die Beschimpfung, die unverschämten Witzeleien, der beißende Spott in diesem Herzen ausgelöst haben, dann werdet ihr das Geheimnis gefunden haben, das der Grabstein unerbittlich hütet!“ (S. 49).

Michel Foucault beginnt seine Schrift „Über den Hermaphroditen“ mit dem Satz „Brauchen wir wirklich ein wahres Geschlecht? Mit einer Beharrlichkeit, die an Starrsinn grenzt, haben die Gesellschaften des Abendlandes dies bejaht“ (S. 50). Paul plädiert für rhizomantisches, d. h. ein poststrukturalistisches Geflecht, das nicht dichotomischen und hierarchischen Bewegungen folgt bzw. für von Hetero- und Homonormativitäten losgelöstes Arbeiten steht (S. 52). Die Sichtbarkeit intergeschlechtlicher Menschen dürfe nicht länger ausschließlich durch die Linse nicht-intergeschlechtlicher Menschen erfolgen. Zudem gebe es unterschiedliche Arten inter∗ zu sein (S. 54 f.). „Queering Kunst/Geschichte?“ fragt Kerstin Brandes und fordert eine „Durchque(e)rung visueller Normalitätsregime“ (S. 61).

Die Sektion „Liebe“ wird mit Elisabeth Priedls Frage „Wie queer war die Renaissance?“ eröffnet. Die Antwort lautet: Sehr queer! Donatellos Bronze-David zum Beispiel hatte von Anfang an ebenso eine „homosexuelle Bedeutung“ wie sie „politische Allegorie“ war. Das passte, denn beides Mal ging es um Selbstbehauptung, was bereits von Zeitgenossen so verstanden wurde, konservative Kunsthistoriker aber empörte. So beklagte John Pope-Hennessy 1984 die Interpretation als homosexuelles Idol habe eine „Schleimspur auf einem großen Kunstwerk hinterlassen“ (S. 69).

Die queere Selbstinszenierung des gleichgeschlechtlich orientierten Borso d´Este (1413-1471), des ersten Herzogs von Modena, im Bildprogramm des Palazzo Schifanoia in Ferrara führt Peter Bell vor. Dabei zeigt sich die Möglichkeit eines, wenn auch leicht chiffrierten, Outings in der Vormoderne, deren Nutzung, wie vielerorts auch heute noch, vorrangig eine Frage der sozialen Position war. Borso d´Este musste ebenso wenig wie Heinrich III. von Frankreich und andere Herrscher befürchten, verbrannt zu werden, wie zehntausende anderer Männer in der Frühen Neuzeit, obwohl diese versuchten, ihre Neigung zu verbergen. Die hochprivilegierte Position eröffnete einen Möglichkeitsraum für Queerness. Bezeichnenderweise erscheint schon 1469 auf einem Fresko, das Borso und seinen Gefährten Teofilo zeigt, eine, entgegen der Konvention, völlig unbekleidete Statue des heiligen Sebastian. Demonstrationen von Androgynie und sexueller Normabweichung waren eine Möglichkeit, Macht zu demonstrieren und zu zeigen, dass man über den üblichen Regeln und Beschränkungen stand.

Bernardino Luinis „Porträt eines [bärtigen] Mannes als hl. Sebastian“, um 1526, wird von Marianne Koos interpretiert. Es trägt die Lateinische Inschrift „Denke daran/erinnere Dich, wie gerne ich aus Liebe zu Dir die süßen Pfeile ertrage“, möglicherweise eine gleichgeschlechtliche Liebeserklärung. Zu widersprechen ist der Aussage, „erst im 20. Jahrhundert wurde die Figur des hl. Sebastians von der Schwulenbewegung vereinnahmt“ (S. 102). Guido Renis Heiliger Sebastian (1615) war schon lange zuvor eine „schwule“ Ikone, das Lieblingsbild unter anderem von August von Platen, Oscar Wilde und Thomas Mann. Der attraktive und attackierte Heilige weckte schon früh erotisches Interesse. Sein Schmerz bot hohes Identifikationspotential für jene, die unter der Missachtung ihrer Sexualität litten. Als Ikone des Widerstandes gegen Ungerechtigkeit ist St. Sebastian eine christliche Hoffnung. Das Leid wird nicht siegen. Gott rettet, ist die Botschaft des Martyriums. Von seinen Kameraden mit Pfeilen penetriert, wurde er von der heiligen Irene gepflegt und genas nach drei Tagen, eine Imitatio Christi, eine queere Christoformitas. Gerichtsakten der Frühen Neuzeit zeigen nicht, sondern widerlegen, dass ‚Homosexualität‘ „so gut wie ausschließlich zwischen einem erwachsenen Mann und einem Knaben praktiziert“ wurde (S. 114). Literarische und künstlerische Quellen zu mann-männlichen Liebesbeziehungen in der Vormoderne stellen das päderastische Standardmodell dar: Älterer aktiver Mann liebt jüngeren passiven Mann oder Knaben, das von der Antike übernommene dominante kulturelle Paradigma für mann-männliche sexuelle Beziehungen. Der passive Jüngere wurde dann oft als „Frau gebraucht“ und erwartete in der Regel eine Gegenleistung in Form von Protektion, Geschenken oder Geld. Dem widersprechen die von Giuseppe Marcocci und Gary Ferguson herangezogenen Quellen, die eine Massenverbrennung von Sodomiten im Rom des Jahres 1578 dokumentieren. Battista zum Beispiel war ein älterer kräftiger Fährmann, ein ehemaliger Söldner, der sich von Jüngeren penetrieren ließ. Andere penetrierten sich gegenseitig. Öfters gab es keine klare Rollenverteilung im Sinne von jung und passiv, älter bzw. mächtiger und aktiv. Versatility, die Flexibilität zwischen aktiver und passiver gleichgeschlechtlicher Sexualität, ist somit keinesfalls allein Ausdruck einer „modernen Sexualität“, vielmehr scheint es, dass das seit der Antike tradierte päderastische Modell nur ein Ideal ist. Die Mehrheit der 1578 verhafteten Männer waren erwachsen und hatten wiederkehrend Sex mit anderen Erwachsenen.

Die Sektion „Religion“ leitet Hendrik Ziegler mit seinem Beitrag „Sexuelle Devianz als Ausweis des Göttlichen“ ein. Michelangelo stellte die Schöpfung als Liebesbeziehung zwischen einem potenten Greis und einem schmachtenden Jüngling dar, Rafael die Muttergottes als Braut ihres eigenen Sohnes. Der christlichen Theologie und Glaubenspraxis war die sexuelle Metaphorik genauso inhärent wie die sexuelle Devianz dem christlichen Glauben und der religiösen Bilderwelt (S. 123), was zum Beispiel die sadomasochistische Dimension vieler Heiligendarstellungen belegt, aber auch die orgiastische Darstellung der Verzückung der hl. Theresia von Avila durch Bernini. Doris Guth untersucht die Darstellung der gekreuzigten bärtigen Heiligen Wilgefortis zwischen Transformation und Reproduktion von Geschlechterbinariät. Der Bart wuchs ihr auf intensives Flehen um sie vor einer Zwangsverheiratung zu schützen. Da in der Vormoderne in allen Schichten arrangierte Ehen üblich waren, konnten sich viele Frauen mit Wilgefortis identifizieren, auch wenn sie selbst eher zur Selbstverstümmelung oder zum Selbstmord schreiten mussten. Circa dreißig Heilige waren Crossdresser. Wilgefortis wurde von ihrem erzürnten Vater gekreuzigt. Durch die Imitatio Christi wurde die geschundene Weiblichkeit gleichzeitig aufgewertet. Dahingestellt sei, ob Geschlechtergrenzen in der Frühen Neuzeit „auf jeden Fall anders betrachtet wurden als heute. Sie waren fluide und hybrid“ (S. 143). Etliche Frauen, die als Männer lebten, wurden, wie Katherina Hetzeldorfer 1477 oder Catharina Margaretha Linck 1721, hingerichtet.

In der Abteilung „Körper und Form“ befasst sich Maurice Saß mit Michelangelos Werk „Leda und der Schwan“. Mit begrifflichem Bombast wird der maskuline Körper Ledas mit den aufgepfropften weiblichen Brüsten pseudophilosophisch überhöht. Alle weiblichen Figuren des gleichgeschlechtlich orientierten Michelangelo sehen genauso aus. Er arbeitete nie mit weiblichen Modellen. „Queere Ornamentik in der Kunst der europäischen Groteske“, also weibliche Hermen und bärtige Männer mit weiblichen Brüsten, stellt Martin Pozsgai vor. Justus Lange interpretiert Porträts bärtiger Frauen in der Frühen Neuzeit. Sie litten in der Regel an einem medizinischen Phänomen, das als Hirsutismus oder Hypertrichosis bekannt ist. Sie wurden ähnlich wie Hofmohren und –zwerge (Liesa Hecht) sowie extrem fettleibige Kinder im Hochadel als interessante Monstrositäten untereinander verschenkt. Diese Menschen mit nicht-normativem Aussehen waren höchsten in ursprünglichen Sinne des Wortes queer. Immerhin lebten sie an den Adelshöfen mitunter viel besser als in ihren Ursprungsgemeinschaften. Manche Kastraten waren prominent und wohlhabend, dem steht jedoch das Elend der Masse ihrer Leidensgenossen gegenüber. Meinrad von Engelberg führt am Beispiel des Lustschlosses Favorite bei Rastatt und der Eremitage bei Bayreuth in die queere Architektur der Frühen Neuzeit ein. Hier fehlt ein Hinweis auf die Villa Palagonia, die Villa dei Mostri, bei Palermo (1715), die Mutter aller queeren Architektur. Hier ist alles schief und unbenutzbar. An der Decke der Kapelle befindet sich ein Kruzifix, wo aus dem Nabel des Gekreuzigten eine Kette herabhängt, woran ein kniend betender Mann in der Luft schwebt: der andächtige Besitzer, der Fürst von Palagonia. Für Goethe zeigte die Villa die „Spitzruten des Wahnsinns“, von Surrealisten wurde sie geliebt.

Die letzte Sektion „Kleidung und Identität“ leitet Catarina Zimmermann-Homeyer mit „Narr oder Mönch? Der Eunuchus des Terenz in der Buchillustration um 1500“ ein. Der als Eunuch verkleidete Vergewaltiger wurde oft als Narr, also als jemand, der in der Vormoderne nicht heiratsfähig war, als Mönch, quasi als sozialer Eunuch und zuweilen mit jüdischen Kleidungsattributen dargestellt. Sex von Christen mit Juden galt in der Frühen Neuzeit als Sodomie, ein todeswürdiges Verbrechen. Ob zwangskastrierte Eunuchen als „nicht-binäre“ Personen anzusehen sind (S. 233), bleibt sehr fraglich. Hier geht es weniger um Queerness als um primitiven Humor, der sich auch an kleinwüchsigen oder adipösen Menschen belustigte. „Maskeraden der Macht. Verkleidung als Bildaufgabe am französischen Hof des 16. Jahrhunderts“ ist das Thema von Cornelia Logemann. Auf höfischen Festen, Einzügen und im Theater wurden Frauen grundsätzlich von Männern oder Knaben dargestellt. Das galt auch noch in Österreich des 17. Jahrhunderts wie Margit Kopp am Beispiel eines Rollenporträts des jungen Paul Esterházy als Judith ausführt. Er hatte sie um 1650 anlässlich einer Theateraufführung in einem Jesuitenkolleg dargestellt. In Frankreich kam solche Geschlechtergrenzen transzendierenden Rollenspiele jedoch nach der Regentschaft Heinrichs III. aus der Mode und wurden skandalisiert. Heinrich und seine entzückenden Mignons hatten es hier etwas übertrieben. Die Porträts Heinrichs III. wären ein dankbares Thema für den Band gewesen. Hinsichtlich Paul Esterházys heißt es abschließend: „Eine explizite queere Lesart seiner Porträts als alttestamentarische Heldin kann aufgrund der Entstehungsumstände […] der Werke nicht bestätigt werden“ (S. 280). Ekaterini Kepetzis fragt nach „Normierungsprozesse(n) und Repräsentationen von Männlichkeit im 18. Jahrhundert“ anhand der Bildsatiren William Hogarths. Sie waren Ausdruck des Kampfes einer neuen bürgerlichen Elite gegen eine ältere am Modell des französischen honnête homme orientierten, angeblich effeminierten Form der Männlichkeit sowie gegen die damals „Macaronis“ genannten Kunst- und Kulturexperten, die von der Grand Tour aus Italien zurückgekehrt waren. Hierbei handelte es sich jedoch um Karikaturen. „Gerade aufgrund derartig dezidierter Abwertungen erscheint eine Einstufung solcher Repräsentationen unkonventioneller Männlichkeit unter dem Begriff des ‚Queeren‘ als nicht angemessen“ (S. 306). Hier hätte man einen Hinweis auf die einschlägigen Veröffentlichungen Bernd Krysmanskis zu Hogarth erwartet. Der Band schließt mit einer kurzen Betrachtung Lisa Hechts zu zeitgenössischen Darstellungen des Chevaliers d´Eon, der bzw. die in der zweiten Hälfte seines bzw. ihres Lebens in Frauenkleidern lebte und Fechtturniere bestritt, als Kompositfigur halb männlich, halb weiblich gekleidet. Solche Darstellungen waren als Kostümentwürfe seit Beginn der Frühen Neuzeit üblich. Catharina Margaretha Linck bzw. Anastasius Lagrantinus Rosenstengel wurde nach der Hinrichtung 1721 jedoch als zwei Personen männlich und weiblich auf Flugblättern dargestellt.

Auch wenn einige der Beiträge das Thema des Bandes verfehlen und der Rezensent mit vielen Analysen der Autoren und Autorinnen nicht übereinstimmt, ist der besprochene innovative Band doch sehr lesenswert, weil er eine Vielzahl neuer teils sehr erhellender Perspektiven eröffnet.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension