W.J. Bulman: The Rise of Majority Rule in Early Modern Britain and Its Empire

Titel
The Rise of Majority Rule in Early Modern Britain and Its Empire.


Autor(en)
Bulman, William J.
Erschienen
Anzahl Seiten
294 S.
Preis
£ 24.99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Lars Behrisch, Universität Utrecht

Richard Shuttleworth, Unterhausabgeordneter für Clitheroe, Lancashire, war im Alter von etwa 27 Jahren noch ein recht junges Mitglied des Parlaments. (Er verdankte seinen Sitz vor allem seinem gleichnamigen Vater, Abgeordneter für das benachbarte Preston). Shuttleworth war gleichwohl kein Novize mehr, war er doch schon im Frühjahr 1640 im „Short Parliament“ gesessen und dann im November desselben Jahres in das „Long Parliament“ gewählt worden. Dennoch erwies er sich im März 1641 den Herausforderungen nicht gewachsen. In einem mit außergewöhnlichen 379 Anwesenden über alle Maßen vollen, ja überfüllten Unterhaus – trotz einer nominellen (nie annähernd erreichten) Sollstärke von gut 500 Abgeordneten wurden bei über 200 Anwesenden die Sitzplätze knapp – wurde eine sogenannte „division“ durchgeführt, also eine genaue Zählung der „ja“- und „nein“-Stimmen, wie sie nach einem unklaren (oder in Frage gestellten) Urteil nach Gehör der nur gerufenen „yea“- und „noe“-Stimmen anstand. Eine der beiden Gruppen musste dabei die Kammer verlassen, so dass sie getrennt gezählt werden konnten; Enthaltungen waren nicht vorgesehen. Doch als Shuttleworth sich entscheiden musste, ob er hinausging oder nicht, blieb er „sitting still saying nothing“ (nach S. 73). Man war unschlüssig: „Some said he must be an aye, some said a no, but it was concluded that he must be a no” (ebd.) (die Antragsteller hatten, wie meist üblich, die Kammer verlassen). Die Situation war besonders pikant, da diese eine Stimme den – wiederum ungewöhnlich – extrem knappen Ausgang von 190 Nein- gegen 189 Ja-Stimmen entschied. Ein Abgeordneter notierte, hier sehe man denn auch „the danger of admitting infants into the House, when it may come to a single vote to overthrow any law“ (ebd.).

Doch nicht nur war dieser kuriose Moment ein ungewöhnlicher Extremfall einer „division“: Vielmehr war eine derartige Auszählung der Stimmen bis 1642 – also bis zum Bürgerkrieg – selbst die Ausnahme, denn von 1614 bis 1642 mussten lediglich 3,4% aller Abstimmungen so entschieden werden (S. 27). Fast immer machte die „voice vote“, also die Abstimmung durch bloßen Zuruf, das Stimmengewicht deutlich; in der Regel verzichtete die „gehörte“ Minderheit anschließend auf eine Zählung. Zugrunde lag ein starkes allgemeines Streben nach Einigkeit: Minderheiten fügten sich dem als kollektiv gefundene „Weisheit“, ja „Wahrheit“, betrachteten Mehrheitsvotum (S. 36, 49). Das bedeutet nicht, dass grundsätzlich Einmütigkeit in wichtigen Fragen bestand; doch um knappe, also unklare „voice votes“ und eine dann nötige Auszählung zu vermeiden – und damit das offene Zutagetreten eines Mangels an Konsens und „Weisheit“ – wurde oft lange debattiert, zum einen, um den Gegner zu überzeugen, zum anderen, da man so schließlich ein Meinungsbild gewinnen konnte, das für eine „sichere“ Abstimmung deutlich genug war. Überdies wurde eine Reihe prozeduraler Kniffe eingesetzt: Eine Frage konnte an eine Kommission verwiesen werden, die dann einen Vorschlag vorlegte – womöglich nach einer internen und damit weit weniger kompromittierenden „division“ – oder der „Sprecher“ stellte nicht „the question“ selbst, sondern „the previous question“: Die Frage, ob man über die inhaltliche Frage abstimmen solle. Auch hier konnte es dann, wie in einer Kommission, gewissermaßen stellvertretend zu einer weniger Anstoß erregenden „division“ kommen; ihr Ausgang entschied dann zugleich über die inhaltliche Frage selbst (S. 39 f.). In den seltenen Fällen, in denen es doch zu einer „division“ über eine inhaltliche Frage kam, war diese von geringem Gewicht oder betraf nur Einzelpersonen (so auch im eingangs geschilderten Fall).

Die Praxis und Logik des Konsenspostulats bei gleichwohl bestehendem Mehrheitsprinzip – und die geschickte Austarierung beider durch solch geschickt genutzte Verfahren indirekter Mehrheitsfindung – wurde in den Anfangsjahren der Revolution, zwischen Ende 1640 und Ende 1642, allmählich ausgehöhlt, um zuletzt – und für immer – einer explizit und offensiv praktizierten Mehrheitslogik zu weichen. Die Zahl an Auszählungen oder „divisions“ nahm erst seit Ende 1642, nach Beginn des Bürgerkriegs, signifikant zu – doch zeichnete sich der Weg dorthin schon während der zwei vorausgehenden Jahre klar ab, in denen der Konflikt zwischen Unterhaus und Karl I. schrittweise eskalierte. Zunächst lässt sich beobachten, dass jene prozeduralen Kniffe, mit denen man bisher nach außen Einmütigkeit gewahrt hatte, nun taktisch eingesetzt wurden, um eine Mehrheitsentscheidung zugunsten der eigenen Position herbeizuführen. Oft ging es darum, den günstigsten Moment für eine Abstimmung zu nutzen – also den Moment, in dem die eigene Seite sie zu gewinnen versprach – indem man diese, je nach Mehrheitslage, entweder hinauszögerte oder aber sie umgekehrt noch am selben Tag zu erzwingen suchte. So kam es im Dezember 1641, als sich die Debatte einmal in den Abend hineinzog – „[it was] growing so dark as the clerk could not see to write“ (nach S. 104) – zu einer „division“ darüber, ob man Kerzen in den Sitzungssaal bringen solle: Solches forderten jene, die sich ihres Sieges in der anstehenden Abstimmung sicher waren. Die Gegenseite, die die Dunkelheit als Argument anführte, um die Sitzung abzubrechen, verlor erst diese taktische Abstimmung; dann eine „division“ über die („previous“) Frage, ob über die Frage abgestimmt werden solle oder nicht; schließlich, spät am Abend, die Abstimmung über die Frage selbst.

Das Suchen nach dem „richtigen“ Moment war auch daher eine Option, weil Abstimmungen bei nur wenig Anwesenden (mitunter kaum mehr als 50) gültig waren. Die informelle Regel, dass in einem „thin house“ keine Abstimmungen abgehalten werden sollten, wurde zwar des Öfteren – natürlich von der unterlegenen Seite – eingeklagt, doch führte man auch jetzt kein wirksames quorum ein. Das Fehlen einer solchen Regel machte die Ausnutzung momentaner Anwesenheits- und Mehrheitsverhältnisse möglich – und führte in den Jahren 1641/42 zu stets bewussten und ungeniert betriebenen Praktiken geschickter Majorisierung des Opponenten. Folge davon wiederum war eine Delegitimierung von Mehrheitsentscheidungen an sich. Sie äußerte sich unter anderem darin, dass eine „division“ nun von der unterlegenen Minderheit herbeigeführt werden konnte, um so ihre abweichende Position zu unterstreichen. Eben dies war auch bei der geschilderten Abstimmung über das Hereinbringen von Kerzen geschehen: Obwohl jene, die dies zu verhindern suchten, sich unterlegen wussten – eben deshalb wollten sie die Sitzung ja abbrechen – bestanden sie auf einer Stimmauszählung, um ihre ablehnende Haltung auch nach außen hin zu markieren. „Though the yeas by the very sound appeared to be more than the noes“, so ein Abgeordneter, “yet the noes would divide” (nach S. 104).

Von solchen „minoritarian divisions“ (S. 93) war es dann nur noch ein kurzer Schritt hin zum Wunsch nach formalen „protestations“. Darüber kam es Ende November 1641, im Anschluss an das knappe Votum (159 zu 148 Stimmen) für die „Grand Remonstrance“ – einem an Karl I. gerichteten umfassenden Klage- und Forderungskatalog – zu einer nicht weniger komplexen als langwierigen Auseinandersetzung. Überschattet war sie von einer zumindest angedeuteten Gewaltdrohung der in der Entscheidung über die „Remonstrance“ unterlegenen Partei, die vor einer anschließenden Abstimmung darüber, ob der Text im Druck veröffentlicht werden solle, lauthals und mit aus dem Gürtel (wenn nicht aus der Scheide) gezogenen und auf den Boden gestampften Schwertern eine „protestation“ für den Fall einer neuerlichen Niederlage forderte. Es folgten wochenlange Konflikte über die Ahndung dieses Verhaltens (der Anstifter landete schließlich im Tower), über die Frage der Drucklegung – zuletzt in der skizzierten „Kerzen“-Sitzung positiv entschieden – und eben auch über die Zulässigkeit von „protestations“. Deren Befürworter, die auf diesem Weg die Legimität von Mehrheitsentscheidungen grundsätzlich in Frage stellten, argumentierten unter anderem, es müsse zulässig sein, sich von möglichen widerrechtlichen („unlawful“, nach S. 107) Entscheidungen, etwa in Fragen der Religion, zu distanzieren. Die Vorstellung, das Parlament könne überhaupt widerrechtliches Recht setzen, lief dabei der (noch heute gültigen) Annahme zuwider, dass alles von ihm (oder jedenfalls von „king-in-parliament“) Beschlossene letztgültige normative Kraft habe. Bald vertraten auch die „Levellers“ diese Position – und, über ein Jahrhundert später, die amerikanischen Kolonisten.

Wie die Auseinandersetzung um die „Grand Remonstrance“ und der daran anknüpfende, grundlegende Verfassungsfragen aufwerfende Streit zeigen, waren die zur Konfliktlösung immer offensiver praktizierten (und zugleich immer mehr diskreditierten) Mehrheitsvoten direkt verbunden mit der Politisierung des Parlaments, konkret mit der Herausbildung immer unversöhnlicherer Positionen von zukünftigen Royalisten einerseits und den bedingungslosen Verteidigern der Rechte des Parlaments – und zugleich eines „reinen“ Protestantismus – gegen den König andererseits. Zu dieser Politisierung gehörte auch, dass oft eine Seite der anderen vorwarf, eine „Faktion“ zu bilden – also auf illegitime Weise den eigenen Vorteil zu suchen und ohne Rücksicht auf Vernunftgründe, auf Wert- und Normvorstellungen durchzusetzen. Hand in Hand damit wiederum ging auch der gegenseitige Vorwurf, Einflüsse und Kräfte von außerhalb des Unterhauses – also König und Oberhaus respektive die Londoner Bevölkerung – zumindest durch Drohungen in dieses hineinwirken zu lassen und so die freie Entscheidung und Meinungsäußerung in ihm zu beschränken. Diese Vorwürfe, die keineswegs unberechtigt waren, legen weitere Reflexionen darüber nahe, inwieweit agonale – und letztlich moderne – Mehrheitspraktiken eine (nach Niklas Luhmann) „Verfahrensautonomie“, wie sie durch das Mehrheitsprinzip eigentlich entscheidend befördert wird, wiederum einschränken können.

Anstelle solcher Reflexionen – und anstelle der unmittelbaren Herleitung jener „majoritarian revolution“ (S. 136) aus dem Verfassungskonflikt bzw. dann, während des Bürgerkriegs, aus der innerparlamentarischen Parteibildung – verwendet der Autor viel Zeit und Mühe (auch für den Leser) darauf, die agonale Nutzung numerischer Abstimmungen anhand eines ziemlich amorph bleibenden Konzepts von „status“ (S. 43 ff.) zu erklären (grundsätzlich geht es dabei um den „Status“ des Unterhauses, zum Teil aber wohl auch um Gruppen- oder persönlichen Status). Dem Rezensenten jedenfalls erschließt sich der Mehrwert dieser mit viel Aufwand betriebenen Interpretation nicht, zumal es sich auch nicht um einen Quellenbegriff zu handeln scheint (in Belegstellen geht es um „honour“, „privilege“ oder „rights“, wie sie vom Autor denn auch als weitgehend deckungsgleich mit „status“ behandelt werden, S. 45 u. passim). Ganz undeutlich bleibt die Trennlinie zur Kategorie „constitutional“ – letztlich scheint es sie auch nicht zu geben. Explizit abgesetzt wird „status“ jedoch von der Kategorie „ideological“, die offenbar vor allem auf die Religion abzielt: Man griff demnach zu den neuen Praktiken der Majorisierung nicht wegen abweichender „ideologischer“ Vorstellungen, sondern wegen abweichender Ansichten darüber, wie der „Status“ des Parlaments zu gewährleisten sei. Es bleibt unverständlich, warum der Autor das Konzept des „status“ derart systematisch verfolgt. Wäre es nicht ausreichend gewesen, die verschärften Konflikte über Verfassung und Religion – die doch so gut wie unauflöslich untereinander ebenso wie mit „Ehre“ und, ja, mit „Status“ verknüpft waren – als Erklärung des Wandels anzuführen? Eines Wandels, dies sei zugleich hervorgehoben, den es Bulman sonst ebenso detailliert wie plastisch zu beschreiben gelingt.

Nahezu die Hälfte der inhaltlichen Abschnitte des Buches gilt dem Revolutionsjahrzehnt (S. 59–165), der allergrößte Anteil davon wiederum den Jahren 1640 bis 1642. Die andere Hälfte entfällt zu gleichen Teilen auf das Jahrhundert vor der Revolution (hier wiederum fokussiert auf die 1620er-Jahre), die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts in England sowie die (v.a. nord-) amerikanischen Kolonien im 17. und 18. Jahrhundert. Dieses Ungleichgewicht mag inhaltlich – angesichts der von Bulman ausgemachten „majoritarian revolution“, die spätestens zu Ende des Jahres 1642 deutlich hervortrat und sich fortan als irreversibel erweisen sollte – und zum Teil auch quellentechnisch gerechtfertigt sein; sie ließe sich im Titel aber deutlicher machen. Überdies stellt sich die Frage, ob es nicht eher nur um „majority voting“ geht und nicht um das titelgebende „majority rule“: Der Autor beschränkt sich weitgehend darauf, Ersteres als den – namentlich gegenüber Wahlen – entscheidenden und grundlegenden Schritt zu qualifizieren, streift diese komplexen Zusammenhänge ansonsten aber nur im Vorübergehen (S. 1 f., 17 f.).

Weit problematischer aber ist der Umstand, dass Bulman unumwunden behauptet, die von ihm beschriebene „majoritarian revolution“ habe die ganze Welt nach ihrem Ebenbild geformt (mit einer Nebenrolle für französische und spanische Traditionen seit 1789). Dass der Autor auf nur wenigen Seiten frühneuzeitliche Repräsentivversammlungen in Europa Revue passieren lässt, um aufzuzeigen, dass es vergleichbare Entwicklungen hier nicht gegeben habe, ist ärgerlich – zumal im Kontrast zu der sonst so detaillierten und gründlichst recherchierten Darstellung – aber nicht ungewohnt. Skandalös ist, dass er zugleich alle Arbeiten ignoriert, die sich mit der Frage beschäftigen – und dabei nicht nur ähnliche Entwicklungen aufzeigen und analysieren, sondern auch vergleichend diskutieren.1 „This book is the first such history” (i.e. der “rise [...] of majority rule“, S. 2): Wer Derartiges behauptet, muss zuvor gründlicher recherchieren. Der Vorwurf, viele Historiker seien Opfer einer „persistent national, regional, and chronological hyper-specialisation“ (S. 5), fällt dem Autor tonnenschwer auf die eigenen Füße. Es verblüfft und schockiert, dass derart anglozentrischer „whiggism“, ja neo-imperialer Triumphalismus (s. a. S. 4: „the former colonies, dependencies, and vanquished enemies of Britain and America [...] after World War II“) im 21. Jahrhundert noch – oder womöglich: wieder? – salonfähig ist.

Anmerkung:
1 Von jüngeren wichtigen Darstellungen (neben älteren Arbeiten etwa Otto von Gierkes) seien nur genannt: Egon Flaig, Die Mehrheitsentscheidung. Entstehung und kulturelle Dynamik, Paderborn 2013; Olivier Christin, Vox Populi. Une histoire du vote avant le suffrage universel, Paris 2014; Barbara Stollberg-Rilinger (Hrsg.), Vormoderne politische Verfahren, Berlin 2001; dies. / André Krischer (Hrsg.), Herstellung und Darstellung von Entscheidungen. Verfahren, Verwalten und Verhandeln in der Vormoderne, Berlin 2010; Barbara Stollberg-Rilinger, Cultures of Decision-Making, London 2016.

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