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Titel
Deutsche Freikorps. Sozialgeschichte und Kontinuitäten (para)militärischer Gewalt zwischen Weltkrieg, Revolution und Nationalsozialismus


Autor(en)
Pomplun, Jan-Philipp
Erschienen
Göttingen 2022: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
354 S., 33 Abb.
Preis
€ 65,00
Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Alexander Schwarz, Universität Bayreuth

In der Geschichtswissenschaft variiert die Einschätzung der deutschen Freikorps zu Beginn der Weimarer Republik je nach politischer Intention: „[V]on den Geburtshelfern bis zu den Totengräbern der jungen Demokratie“ (S. 11) finden sich unterschiedliche Beurteilungen. Einigkeit bestand bisher vor allem darüber, dass es sich bei den Mitgliedern mehrheitlich um ehemalige Frontkämpfer sowie rechtsgerichtete Studenten handelt. Eine umfassende Sozialstrukturanalyse konnte diese These bisher jedoch weder bestätigen noch revidieren. Jan-Philipp Pomplun beabsichtigt mit seinem Buch, das auf seiner 2020 an der Technischen Universität Berlin eingereichten Dissertation beruht, dieses Desiderat zu schließen.

Zweifellos drängt sich der Vergleich zu Sven Reichardts wegweisender Monografie über die Sozialgeschichte der Sturmabteilung (SA) auf.1 Die mit dem Friedrich-Ebert-Preis ausgezeichnete Schrift Pompluns will darüber hinaus die zwar bereits hinterfragte2, aber sich dennoch haltende These der Freikorps als „Vanguard of Nazism“3, also die Behauptung der direkten Kontinuität von Freikorps zum Nationalsozialismus (NS), empirisch untersuchen. Des Weiteren will Pomplun eine „Sozialgeschichte der Gewalt“ (S. 22) für die unterschiedlichen Einsatzorte der diversen Freikorps nachzeichnen. Dabei folgt er der zeitgenössischen Forschung, die die Brutalisierungsthese von George Mosse für die gesamte deutsche Gesellschaft zurückweist.4 Dennoch stellt er die Frage, „ob zumindest im Fall der Freikorps von einer Brutalisierung durch den Krieg gesprochen werden kann“ (S. 170).

Ausgangspunkt der Untersuchung ist ein historischer Überblick zur Geschichte der Freikorps vom Ende des Ersten Weltkrieges bis hin zum Republikschutzgesetz. Erfreulich ist dabei die pointierte Darstellung der verschiedenen Akteure und die Differenzierung einer simplifizierenden Freund-Feind Dichotomie zwischen Revolutionären und Konterrevolutionären. Es gelingt dem Autor, die Heterogenität der unterschiedlichen paramilitärischen Einheiten herauszuarbeiten und deutlich zu machen, dass deren militärische Ausrüstung durch das Chaos der Demobilisierung, aber auch durch die sozialdemokratische Legitimierung begünstigt wurde.

Mit der Nennung der wesentlichen Parameter und historischen Bedingungen der Freikorps im Entstehungskontext der Weimarer Republik widmet sich Pomplun seinem eigentlichen Untersuchungsgegenstand – seinem Stammrollensample bestehend aus elf Freikorpseinheiten mit insgesamt 19.688 Angehörigen. Bevor die – mitunter – erstaunlichen Ergebnisse hinsichtlich der sozialen Zusammensetzung vorgestellt werden, benennt Pomplun ein wichtiges Problem seiner Studie: Für die Majorität der deutschen Freikorps finden sich bis zum jetzigen Forschungszeitpunkt keine vollständigen Stammrollen. Das Sample beschränkt sich daher auf Einheiten mit signifikanten Daten. Die untersuchten Einheiten stammen aus dem Raum Bayern, Baden und Württemberg. Darunter findet sich mit dem Freikorps Oberland5 auch ein recht prominenter Vertreter.

In der Auswertung zeigt sich, dass die Studenten mit einem Anteil von vier Prozent keine tragende Säule der Freikorps darstellen. Auch die zahlenmäßige Beteiligung der Offiziere (drei Prozent) muss merklich niedriger angesetzt werden, als bisher von der Forschung angenommen. Eines der zentralen Verdienste der Studie ist die Erkenntnis, dass die hier behandelten Freikorps fundamental aus der Arbeiterschaft rekrutiert haben. Und hier entkräftet Pomplun ähnlich wie bereits Käppner6 die Darstellung eines allzu homogenen Proletariats am Anfang der Weimarer Republik: „Zu groß war die Heterogenität innerhalb der Arbeiterschaft, zu tief die Gräben zwischen einzelnen politischen Strömungen und Organisationen, als dass die Arbeiterschaft als Ganzes eine geschlossene (ablehnende) Haltung gegenüber den Freikorps und der Reichsregierung hätten einnehmen können.“ (S. 95)

Die geringe Beteiligung des Beamtentums (zwei Prozent), des Mittelstandes (sieben Prozent) sowie der Bauernschaft (sechs Prozent) deckt sich mit den bisherigen Forschungsergebnissen. Ebenso fanden sich empirische Belege für die Kohärenz kirchlicher Einstellungen mit den reaktionären Bestrebungen der Freikorps. Die revolutionskritische Position der beiden Kirchen erscheint schlüssig, wenn man bedenkt, dass die progressiven Bewegungen in der Regel säkular ausgerichtet waren.

Auf Basis der Erkenntnisse über den großen Anteil der Frontkämpfer- (63 Prozent) und der Kriegsjugendgeneration (31 Prozent) in den Freikorps widmet sich Pomplun der von ihnen ausgeübten Gewalt, um seine Brutalisierungsthese zu diskutieren.

Zunächst widerspricht er aufgrund der unterschiedlichen Zusammensetzung der paramilitärischen Einheiten den Thesen einer kollektiven Kriegserfahrung der Korpskämpfer. Vielmehr drängt sich der eingängige Gedanke auf, dass die Freikorpsteilnehmer, mit Fronterfahrung im Ersten Weltkrieg, die „Transmissionsriemen der Gewalt“ (S. 173) darstellen. Dieser Übergang vollzog sich sowohl über direkte Gewaltausübung wie auch unmittelbar über den Transfer von Wissen über Gewaltpraktiken. Beispielsweise empfiehl die Militärführung während der Kämpfe in Berlin und München 1919 ihren Soldaten ein rücksichtsloses Vorgehen und kein Zögern beim Gebrauch der Waffe, und zwar als zentrale Erkenntnisse aus vorangegangenen Häuserkämpfen. Gerade weil die große Mehrheit der im Ersten Weltkrieg eingesetzten Soldaten nach 1918 nicht weiterkämpfte, bedarf die Behauptung der Gewaltvermittlung, laut Pomplun, allerdings einer qualitativen Auswertung.

Die Behandlung der einzelnen militärischen Operationen folgt den aktuellen Forschungstendenzen und zielt auf Synergieeffekte einer Gewaltgeschichte der Freikorps.7 Mitunter fehlt dem Kapitel die konkrete Einbindung der im Sample behandelten Einheiten. Dennoch werden die zentralen Erklärungsansätze für die Brutalität in Form der fehlenden Sanktionsinstanz sowie das Motiv des Antibolschewismus deutlich. Vor allem die abschließende rechtshistorische Einordnung bildet einen fruchtbaren Ausgangspunkt für weitere Untersuchungen. In diesem etwas kurz geratenen Kapitel thematisiert Pomplun etwa, dass die Schießerlasse für Regierungstruppen und Freikorps während der Niederschlagung der Münchner Räterepublik rechtswidrig waren.

Das Buch schließt mit der Erforschung der Kontinuitätsfrage und wählt dafür mit der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP), der SA und der Schutzstaffel (SS) drei große NS-Organisationen aus. Die Ergebnisse bestätigen im Allgemeinen den Forschungsstand: Abgesehen von einzelnen Freikorps wie in erster Linie der Brigade Ehrhardt und den Freikorps Epp, Roßbach und Oberland kann keine übermäßige Begeisterung für NS-Organisationen festgestellt werden. Stattdessen unterstreicht Pomplun, dass die Mythenbildung, die die Freikorpsliteraten8 gerade mit der problematischen Selbsthistorisierung betrieben, ein zentraler Anknüpfungspunkt für die nationalsozialistische Ideologie darstellte. Diese Art der Propaganda, die auch maßgeblich in den Kreisen der Neuen Rechten rezipiert wird 9, stellt die relevante Form der Kontinuität für den Nationalsozialismus dar: „die Idee vom »politischen Soldaten«, die Loyalität ihren Führern gegenüber und die – auch für die SA wichtigen – sinnstiftende Rückbezüge in den Traditionslinien auf die unmittelbare Nachkriegszeit und die damit verbundene Vorstellung eines seit 1918 fortgesetzten Kampfes.“ (S. 286)

Pomplun ist es gelungen, mit der empirischen Aufarbeitung der sozialen Zusammensetzung der Freikorps einen Beitrag in der Freikorpsforschung zu leisten. Ein wichtiger Kritikpunkt zeigt sich dennoch in der näheren Betrachtung der Quellengrundlage. So rezitiert der Autor zunächst die divergierenden Einschätzungen zur Anzahl (68-200) und Truppenstärke (100.000-250.000) der Freikorps aus der bisherigen Forschungsliteratur. Dabei legt er sich final auf den Richtwert von 150.000 Soldaten fest, muss hier aber aufgrund der schlechten Quellenlage unkonkret bleiben. Die Argumentation, warum gerade die elf gefundenen Stammrollen-Sample aus Süddeutschland repräsentativ für alle Freikorps sein sollen (vgl. S. 26) ist dahingehend nicht überzeugend. Denn die Tatsache, dass die unterschiedlichen Zeitpunkte der Freikorpsgründungen auch einen Einfluss auf Motive und Bedingungen haben, findet in Pompluns Arbeit wenig Raum. Zusammenfassend muss auch darauf hingewiesen werden, dass eine kritische Auseinandersetzung der Männlichkeit und des Frauenhasses mehr Raum einnehmen hätte können als vereinzelte Verweise auf die wichtige und doch veraltete Studie der Männerphantasien von Klaus Theweleit.10 Dies ändert nichts an der Forschungsleistung, die vor dem Hintergrund ebenjener prekären Quellenlage besondere Anerkennung verdient. Zurecht weist Pomplun immer wieder auf die revisionistischen Tendenzen in der Freikorpsrezeption (vor allem in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts) hin. Seine fundierte Einordnung setzt dem eine wissenschaftliche Grundlage für die Bewertung der Paramilitärs sowohl in der Weimarer Republik wie dem Nationalsozialismus entgegen. Gerade vor dem Hintergrund der geschichtswissenschaftlichen „Hochkonjunktur der ersten deutschen Demokratie“11 empfiehlt sich die Lektüre.

Anmerkungen:
1 Sven Reichardt, Faschistische Kampfbünde. Gewalt und Gemeinschaft im italienischen Squadrismus und in der deutschen SA, Köln 2002.
2 Robert Gerwarth, The Central European Counter-Revolution. Paramilitary Violence in Germany, Austria and Hungary after the Great War, in: Past & Present 200 (2008), S. 175–208.
3 Robert Waite, Vanguard of Nazism. The Free Corps Movement in postwar Germany 1918–1923, Cambridge 1970.
4 Robert Gerwarth, Die Besiegten. Das blutige Erbe des Ersten Weltkriegs, München 2017.
5 Das Freikorps Oberland geht aus der Thule Gesellschaft hervor und spielt eine zentrale Rolle für die Entwicklung der völkischen Bewegung in Bayern sowie der Entwicklung der NSDAP. Vgl. Bernhard Sauer, Freikorps und Antisemitismus in der Frühzeit der Weimarer Republik, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 56 (2008), S. 5–29.
6 Joachim Käppner, 1918 – Aufstand für die Freiheit. Die Revolution der Besonnenen, München 2019.
7 Gerwarth, die Besiegten; Mark Jones, Am Anfang war Gewalt. Die deutsche Revolution 1918/19 und der Beginn der Weimarer Republik, Berlin 2018; Uğur Ümit Üngör, Paramilitarism. Mass Violence in the Shadow of the State, Oxford 2020.
8 Matthias Sprenger, Landsknechte auf dem Weg ins Dritte Reich? Zu Genese und Wandel des Freikorpsmythos, Paderborn 2008.
9 Dabei ist zu beachten, dass der unpolitische, aber loyale Soldat für die extreme Rechte sowohl mit als auch ohne Distanzierung zum Nationalsozialismus funktioniert. Vgl. Samuel Salzborn, Angriff der Antidemokraten. Die völkische Rebellion der Neuen Rechten, Weinheim 2017.
10 Klaus Theweleit, Männerphantasien /2: Männerkörper – zur Psychoanalyse des Weißen Terrors, Frankfurt am Main 1978.
11 Florian Greiner, Rezension zu: Nadine Rossol / Benjamin Ziemann (Hrsg.), Aufbruch und Abgründe. Das Handbuch der Weimarer Republik, Darmstadt 2021, in: H-Soz-Kult, 19.12.2022, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-113111 (01.12.2023).

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/
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