A. Raapke: Europäische Körper in Brieferzählungen aus der Karibik 1744–1826

Cover
Titel
„Dieses verfluchte Land“. Europäische Körper in Brieferzählungen aus der Karibik, 1744–1826


Autor(en)
Raapke, Annika
Reihe
Praktiken der Subjektivierung (12)
Anzahl Seiten
322 S.
Preis
€ 39,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Malte Wittmaack, Geschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Universität Bielefeld

Annika Raapke untersucht in ihrer in Oldenburg entstandenen Dissertation, wie in der karibischen Kolonie lebende französische Briefschreiber:innen den Körper und die mit ihm verbundenen Praktiken thematisierten und wie sie darüber erzählten, um Zugehörigkeiten zu markieren. Dabei kann die Autorin auf ein besonderes Quellenkorpus zurückgreifen. Sie bezieht sich neben anderen Überlieferungen vor allem auf die Briefe aus der „High Court Admirality-Sammlung“ (HCA-Sammlung). Die hier überlieferten Briefe waren Kapergut. Das Kapern von Schiffen galt als ein legitimes Mittel der Seekriegsführung, daher war es für eine kapernde Kriegspartei umso wichtiger, die Rechtmäßigkeit der Kaperung sicherzustellen. Zu den Mechanismen, die die Rechtmäßigkeit absichern sollten, gehörte die Sicherstellung allen Schriftguts des gekaperten Schiffes. Dies führte dazu, dass in den Beständen des HCA ein breites Spektrum an Überlieferungen unterschiedlicher Akteur:innen und Genres zur Verfügung steht. Das Material erfuhr überdies, so betont Annika Raapke, „keine archivalische Selektion“ (S. 30). Raapke kann damit auf Briefe von Akteur:innen zurückgreifen, die überwiegend zur „Durchschnittsbevölkerung“ (S. 30) in der französischen Karibik gehörten. Den größten Teil der Briefschreiber:innen machten Soldaten aus, aber auch andere Gruppen, wie etwa Plantagenbesitzer:innen sind im Untersuchungskorpus vertreten.

Methodisch verflicht die Autorin unterschiedliche Ansätze überaus gelungen zu einem interdisziplinären Untersuchungsansatz. Ansätze der Literaturwissenschaft, der Konversationsanalyse und der Ethnologie werden herangezogen, um die Brieferzählungen auf körperbezogene Aspekte hin zu befragen. Der Schlüssel zur Untersuchung von Körperlichkeit liegt jedoch in der Praxeologie. In der Vorauswahl der zu untersuchenden Texte wurden besonders jene Briefe berücksichtigt, in denen Körperpraktiken thematisiert wurden, etwa „Sexualität, Nahrung, körperliche Arbeit etc.“ (S. 32). Raapke legt hierbei den Praxisbegriff Theodore Schatzkis zugrunde, da dieser weniger stark auf die einzelnen Akteu:innen und ihre Individuellen Motivationen (S. 33) verweise, sondern sich stärker an der Beobachtung und Untersuchung eines situativen Vollzugs von Praktiken orientiere. Die Briefe, die wenig Rückschlüsse auf ihre Verfasser:innen zulassen und wegen der Überlieferungssituation nicht mit ergänzendem Material kontextualisiert werden können, zeichnen sich besonders durch diese situativen Vollzüge von Praktiken aus. Raapke bleibt nicht bei den in den Briefen erzählten Praktiken stehen, sondern sie konzeptualisiert zugleich das Verfassen der Briefe als eine weitere „Dimension oder Kategorie“ (S. 35) von Praktiken. Dabei geht es ihr besonders um das kommunikative Geschick, mit dem die Schreibenden ihre Erfahrungen in der Karibik an eine außerhalb der Kolonie lebende Leser:innenschaft vermittelten. Nach einer kenntnisreichen Auseinandersetzung mit dem linguistischen Konzept der „language of immediacy“ (S. 40) zur Beobachtung alltäglicher Sprachpraktiken in Briefen, die mit Fragen von Authentizität und dem Potential von Ego-Dokumenten in der historischen Forschung verbunden werden, konzeptualisiert Raapke das Verfassen einer Selbsterzählung überzeugend als eine „soziale Aktivität oder Handlung“ (S. 45). Die briefliche Selbsterzählung könne als eine „funktionale Repräsentation der beteiligten Selbste“ (S. 45) gelesen werden. Diese Repräsentation des Selbst in Briefen ermöglicht es den beteiligten Akteur:innen, auch über weite Distanzen an der „Lebenswelten“ des jeweils anderen teilzuhaben.

Im Kapitel „Orte von denen es kein Entrinnen gibt? Körper im 18. Jahrhundert“ stellt die Autorin Überlegungen zur Körperlichkeit vor. Sie verweist hier darauf, dass sich Körperlichkeit nicht für alle Akteur:innen generalisieren lässt, sondern dass beim Versuch einer Definition des Körpers stets berücksichtigt werden muss, „dass viele frühneuzeitliche Menschen in vielen Momenten […] ganz andere Worte und Konzepte benutzt hätten“ (S. 71–72). Mit dem Konzept der Humorale bezieht die Autorin einen generalisierenden Referenzrahmen in ihre Untersuchung mit ein, auf den die Akteur:innen bei der Schilderung von Körperlichkeit Bezug nahmen und der als unerlässlich für das Sprechen über den Körper im 18. Jahrhundert angesehen werden muss. In einem Unterkapitel befasst sich die Autorin dezidiert mit der Frage, ob und wie der Aufenthalt in der Karibik die Körperlichkeit der Briefschreiber:innen beeinflusste.

Mit einem Verweis auf die kosmologischen Aspekte des Körperwissens und einer Darstellung der Einflüsse von Luft, Wasser und Ortsveränderungen sowie der zeitgenössischen Vorstellungen über den Unterschied zwischen Männer und Frauenkörpern bettet Raapke die körperbezogenen Brieferzählungen in den frühneuzeitlichen Wissenshorizont und die relevanten Kontexte für ihre folgenden Interpretationen ein. Nach einem Überblick über die Geschichte der französischen Karibik zwischen 1635 und 1800 unter besonderer Berücksichtigung des kolonialen Kontextes untersucht die Autorin den Körper in Brieferzählungen, wobei sie ihr Quellenkorpus thematisch untergliedert. Zu Beginn untersucht sie jene Briefe, die die Ankunft in der Karibik thematisieren und beschäftigt sich dann mit jenen, die das karibische Klima, Gesundheits- und Ernährungspraktiken, Aspekte des Wohlfühlens und Wohlbefindens, Krankheitserzählung, -erfahrung und -behandlung ansprechen sowie schließlich mit Berichten über Sterben und Tod.

Besonders erhellend ist das Kapitel „Lebhafte Leidenschaften“, in dem die Autorin die karibischen Kolonien als „Möglichkeitsräume“ (S. 197) vorstellt. Raapke beschäftigt sich hier mit Fragen von Kleidung und Sexualität. Kleidercodes in der Karibik mussten von jenen, die aus Frankreich in die Karibik kamen, zunächst richtig verstanden werden. So konnten etwa die weniger strengen Bekleidungsnormen auf den Plantagen dazu führten, dass Neuankömmlinge in den Kolonien ihr Gegenüber und seinen Status falsch einschätzten, was Konflikte um Rang und Status nach sich ziehen konnte. Der koloniale Kontext bot darüber hinaus die Möglichkeit, die bekannten Kleidercodes zu unterwandern oder bestehende Kleidungsgewohnheiten an die neue Umgebung anzupassen. Die Veränderung der eigenen Kleidung in der Karibik, markierte für jene Akteur:innen, die in der Kolonie ankamen, die Ankunft in einer neuen Lebensumwelt am eigenen Körper. Neue Kleidungspraktiken waren nicht nur für die Lesbarkeit der Kolonialgesellschaft relevant, sondern besaßen auch für die Gesundheit des Körpers im neuen Klima unmittelbar Konsequenzen.

Am Beispiel der Sexualität zeigt sich, dass die Karibik – häufig für männliche Akteure – einen neuen Möglichkeitsraum darstellen konnte, weil ein ungehemmtes Ausleben von Sexualität in der Kolonie von den in der französischen Metropole lebenden Briefpartner:innen erwartet wurde. Sexualität in der Karibik als „Teil des regulären Alltagslebens [war] intelligibel und akzeptiert“ (S. 231). Im Kontext der Kolonie erschienen außereheliche sexuelle Beziehungen damit in einem anderen Licht, der koloniale Kontext konnte zu einer Neubewertung bestimmter Körperpraktiken geradezu anregen. Ein anderer Umgang mit Sexualität kann als wesentlicher Bestandteil der „diskursiven Konstruktion“ (S. 234) der Karibik in den Brieferzählungen angesehen werden.

In ihrem abschließenden Fazit betont Annika Raapke die Bedeutung der Brieferzählung für die „Verortung“ (S. 300) der Briefeschreiber:innen. Diese hatten die Möglichkeit, ihre neue Umgebung anzunehmen und den „Möglichkeitsraum“ der Karibik für sich zu nutzen oder sie konnten mit der Heimat verbunden bleiben, indem sie die Karibik als ungesund und als unpassend für ihren Körper qualifizierten. Bestimmte Aspekte des Lebens in der Karibik, wie etwa Gewalt gegen Sklav:innen, konnten jedoch nicht an die Empfänger:innen in der Heimat vermittelt werden und diese blieben unsagbar.

Annika Raapke hat eine Studie vorgelegt, die die Möglichkeiten der historischen Praxeologie für die Körpergeschichte vor Augen führt. Sie geht äußerst differenziert und reflektiert mit unterschiedlichen praxeologischen Theorieangeboten um und verbindet sie überzeugend zu einem kohärenten Untersuchungspanorama. Es gelingt ihr, die Bedeutung des Körpers für Fragen der Zugehörigkeit bei den Europäer:innen im kolonialen Kontext der französischen Karibik facettenreich herauszuarbeiten. Dabei lässt sie häufig die Quellen selbst sprechen, verbindet ausführliche Zitate aber stets mit einer detail- und kenntnisreichen Interpretation. Die Autorin kann die Körper der Briefeschreibenden so deutlich herauspräparieren und aufzeigen, wie unterschiedliche Akteur:innengruppen, auf ihren Körper Bezug nahmen, um Zugehörigkeit auszudrücken und sich mit der französischen Karibik auseinanderzusetzen. Sie zeigt, dass unterschiedliche Faktoren – Luft, Nahrung, Sexualität, Kleidung – auf den frühneuzeitlichen Körper einwirkten, ihn formten und veränderten. Im Anschluss an diese Arbeit scheint es lohnend zu fragen, welche Rolle der Körper in unterschiedlichen frühneuzeitlichen (kolonialen) Kontexten spielte und wie er verstanden wurde. Auch bleibt zu fragen, welche Rückschlüsse sich aus der Untersuchung von Körperpraktiken im inner- und außereuropäischen Kontext auf Konzepte von Zugehörigkeit und historischer Weltwahrnehmung ziehen lassen.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension