R. Schober: Der österreichische "Ständestaat" und die europäischen Mächte

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Titel
Der österreichische "Ständestaat" und die europäischen Mächte. Von der Machtübernahme Hitlers zum Juliabkommen (1933–1936)


Autor(en)
Schober, Richard
Erschienen
Anzahl Seiten
761 S.
Preis
€ 90,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael Gehler, Institut für Geschichte / Jean Monnet Chair für Europäische Geschichte, Stiftung Universität Hildesheim

Der frühere Direktor des Tiroler Landesarchivs ist mit Monografien zur „Tiroler Frage auf der Friedenskonferenz von Saint Germain“ (1982), einer „Geschichte des Tiroler Landtages im 19. und 20. Jahrhundert“ (1982) und einer zweibändigen Regionalgeschichte „Tirol zwischen den beiden Weltkriegen“ (2005) einschlägig hervorgetreten. Die vorliegende Studie weitet das räumliche und thematische Spektrum des Autors aus und stellt den ersten Teil eines zweibändig geplanten Werks zur mitteleuropäischen Diplomatiegeschichte dar, in deren Zentrum die „Österreichfrage“ von 1933 bis 1938 steht. Fokussiert wird auf den „Ständestaat“, jene autoritäre Kanzler- und Regierungsdiktatur (Helmut Wohnout) im Kontext des Mächtesystems Europas. Quellengrundlage sind Akten des Österreichischen Staatsarchivs in Wien, des Politischen Archivs des Auswärtigen Amtes in Berlin sowie des Archivio Storico del Ministero degli Affari Esteri in Rom, ergänzt durch britische und französische Dokumente.

Im ersten Kapitel geht es um die Beziehungen „zweier feindlicher Brüdernationen“ (S. 19–196) seit der Machtübernahme Hitlers. Im Zeichen des 30. Januar 1933 spitzte sich der Konflikt mit der im Mai verhängten Tausend-Mark-Sperre für die Einreise Deutscher in die Alpenrepublik als „Kampfmittel“ zur Destabilisierung Österreichs zu (S. 42–60). Die Regierung Engelbert Dollfuß stand fortan im Abwehrkampf gegen die anhaltende Aggression, die mit dem fehlgeschlagenen Putsch österreichischer Nationalsozialisten am 25. Juli 1934 und dem Mord an Bundeskanzler Dollfuß einen Höhepunkt erreichte (S. 115–135). Hitler schlug nun einen „evolutionären“ Kurs mit der Mission des Gesandten Franz von Papen in Wien ein, der zur Infiltration und Zersetzung des „Ständestaats“ führen sollte (S. 135–200).

Das zweite Kapitel widmet sich dem Dreiecksverhältnis Italien, Österreich und Ungarn, so unter anderem den Einmischungen des „Duce“ in die Innenpolitik Österreichs (1933/34), wie sie Hitler vor 1938 nie gelang (S. 689), den vergeblichen Internationalisierungsversuchen (1933–1936), dem französisch-tschechoslowakischen Projekt zur Neutralisierung Österreichs, den Bemühungen um eine internationale Garantie für seine Unabhängigkeit, dem Mussolini-Laval-Abkommen und der Konferenz von Stresa (beide 1935), dem Scheitern eines internationalen Sicherheitspaktes für Österreich, den Versuchen einer Annäherung an die ČSR, der Einführung der „Bundesdienstpflicht“ vom April 1935 (S. 714) mit einem Bundesheer, der Regierungskrise im April und Mai sowie dem Juli-Abkommen von 1936 mit Deutschland.

Ein bündiges Resümee (S. 689–722) beschließt mit Verzeichnissen (Abkürzungen, umfangreichen Quellen- und Literaturangaben auf neuestem Stand sowie einem Personenregister) eine beeindruckende Darstellung des verzweifelten Ringens Österreichs um außenpolitischen Handlungsspielraum. Im Herbst 1936 erkannten französische Politik- und Wirtschaftskreise, dass Österreich bereits einem deutschen Block als erste Etappe auf dem Weg zu einem „neuen Dreibund“ (S. 722) angehören würde.

Zu welchen Erkenntnissen und Gewichtungen gelangt man nach der Lektüre? Österreich war Spielball der Mächte. Gleichwohl für ihr Gleichgewicht und den Frieden in Europa relevant, stand man seiner Existenz nur halbherzig gegenüber. Es führte keine selbstbestimmte Außenpolitik. Ohne die wiederkehrenden Einmengungen hätte es laut Schober seine Neutralitäts- und Nachbarschaftspolitik aus der Zeit von Bundeskanzler Ignaz Seipel (1922–24, 1926–29) fortgesetzt, doch standen die Abhängigkeit von Deutschland und Italien dem entgegen. Der Primat der Innenpolitik hatte in Österreichs Geschichte laut Schober „niemals eine derartig große Bedeutung für die Außenpolitik wie in jenen Jahren“ (1933–1936) (S. 9), ein Urteil, das im Lichte anderer Phasen zu prüfen wäre. Die divergierenden Mächteinteressen verkomplizierten zusätzlich seine Lage. Briten und Franzosen favorisierten nach Errichtung der austrofaschistoiden Diktatur eine Rückkehr zur Demokratie und Italien sein eigenes faschistisches System. Für Hitler war seine Heimat unbestreitbarer Teil Deutschlands. Seine Rolle bleibt aber schwer fassbar, während er die terroristischen Akte duldete (S. 695f.). Frankreich verfolgte über die „Kleine Entente“ mit der Tschechoslowakei, Jugoslawien und Rumänien seinen eigenen Hegemonialanspruch im Donauraum, dem sich Italien entgegenstellte, was durch die „Römischen Protokolle“ mit Österreich und Ungarn (1934) nur ansatzweise gelang. Mussolini wollte als Basis seiner Donaupolitik Österreich als Puffer gegenüber NS-Deutschland und die Brennergrenze zum Verbleib Südtirols bei Italien sichern. Frankreich war besonders für die österreichische Unabhängigkeit, um einen weiteren Aufstieg Deutschlands zu verhindern. Österreich gelang kein Ausweg aus dem doppelten Abhängigkeitsverhältnis zwischen zunächst vorherrschender italienischer (1933–1935) und zunehmend deutscher Satellisierung (ab 1936), die zu seiner Strangulierung (1938) führte. Zwischen Hitler und Mussolini war Österreich (und damit auch Südtirol) die einzige offene Frage. Österreichs innenpolitische Zwangslage machte eine starke Anlehnung an Italien erforderlich. Dem Rat eines Regierungsmitglieds, die Sozialisten innenpolitisch einzubeziehen, entgegnete Dollfuß nach überlieferten Worten: „Das wäre sehr schön, aber wenn ich das tue, so wirft mich der Mussolini dem Hitler ins Maul.“ (S. 689)

Das Verhältnis zwischen Wien und Budapest war alles andere als konfliktfrei. Der Forderung nach einer Zollunion konnte Österreich aufgrund seiner Agrarier-Interessen nicht nachkommen, was anhaltende ungarische Interventionen bei Mussolini zur Folge hatte. Kritik übte Ungarn auch an der laschen faschistischen Politik in Österreich. Sein Verhältnis zu Frankreich als entscheidendem Kreditgeber zur Stillung des Finanzbedarfs war mit dem Stigma des „Verrats am Deutschtum“ behaftet, erzeugte Unmut im „nationalen Lager“ und trug Österreich den Vorwurf Hitlers seiner „Käuflichkeit“ ein. Die Volksfront-Regierung unter Léon Blum anerkannte trotz Unterdrückung der österreichischen Sozialdemokratie den Kampf Wiens gegen Berlin. Während sich Frankreich um eine Internationalisierung des österreichischen Problems bemühte, verhielt sich Großbritannien in seiner Mitteleuropa-Politik passiv. Der Vorschlag von Paris und Prag, Österreich zu neutralisieren, scheiterte nicht nur an der Ablehnung Deutschlands und Italiens, sondern auch am Widerstand von Dollfuß und seiner Regierung. Die Neutralität der Schweiz schien nicht als praktikables Modell, zu sehr waren europäische Mächteinteressen involviert. Weitere Initiativen zur Internationalisierung Österreichs versandeten ebenso wie verbale Erklärungen zur Unabhängigkeit Österreichs verpufften und Konsultationen ergebnislos endeten. Der mit vielen Hoffnungen verknüpfte Donaupakt scheiterte an unvereinbaren Interessen zwischen Italien und den Staaten in Zentral- und Südosteuropa sowie der deutschen Ablehnung eines europäischen Systems kollektiver Sicherheitspolitik. Österreich selbst trug zur Schwächung seiner internationalen Position bei, vor allem im britischen Lager, durch Ablehnung der Sanktionen des Völkerbundes gegen Italien im Zuge seines Abessinienkrieges (1935/36). Die Aktivitäten von Beneš zur Integration Österreichs in eine mitteleuropäische Konstruktion fanden keine Zustimmung der Mächte, zumal Mussolini am liebsten die Kleine Entente zerschlagen hätte. Das Habsburgergesetz vom 13. Juli 1935, das die Landesverweisung aufhob und Vermögensrückerstattungen vorsah, sorgte nicht nur in Berlin, Prag und Rom, sondern auch in Belgrad und Bukarest für Beunruhigung. Schober unterstreicht mit diesem Thema, wie stark Österreichs Innenpolitik seine Außenpolitik bestimmte. Die Gefahr des Legitimismus blockierte jegliche substantielle Zuwendung an die Kleine Entente. Die Dementis des bekennenden Legitimisten Schuschnigg (S. 712) konnten an der von Schober so benannten „hysterische[n] Furcht vor einer Habsburgerrestauration“ (S. 15) nichts ändern, zumal auch noch der Papst Österreich und Ungarn die Restauration im Sinne der Doppelmonarchie empfohlen hatte. Diese Phantom-Debatte bot dagegen für die deutsche Seite die Möglichkeit, sich Jugoslawien anzunähern, das selbst ein labiles Vielvölkergebilde en miniature war und das katholische Kroatien nicht am nördlichen Katholizismus orientiert sehen wollte.

Wie fraglich Österreichs Bündnispartner und Nachbarn waren, zeigt Schober an Beispielen, als Ungarn im Falle eines Anschlusses Österreichs an das deutsche Reich das 1920 verlorengegangene Burgenland zurückgewinnen wollte. Reichsverweser Miklós Horthy lehnte eine Bindung Ungarns an Österreich ab („Zwei schwerkranke Krüppel würden durch Vereinigung nicht lebensfähiger“, S. 697) und plädierte für seine Gleichschaltung mit Deutschland, während die Regierungsspitze Jugoslawiens Pläne entwickelte, seine Grenze im Falle der Einverleibung der Alpenrepublik durch Deutschland nach Norden auszudehnen und Prag geheime Aufteilungspläne für Österreich überlegte. Abgesehen vom Erhalt Südtirols hatte Italien laut Schober keine territorialen Interessen in Österreich. Es stand letztlich nicht hinter diesem Land, wie man es sich von einer selbsterklärten „Schutzmacht“ eigentlich hätte erwarten können.

Das gesteckte Ziel des Verfassers, „neben der Darstellung der österreichischen Außenpolitik die Erforschung der Haltung der wichtigsten an Österreich interessierten Mächte zu den österreichischen innen- wie außenpolitischen Problemen im gesamteuropäischen Kontext“ (S. 16) zu leisten, ist durchaus gelungen. Durch Ergänzungen und vor allem Gegenüberstellungen verschiedener diplomatischer und politischer Positionen leistet diese Studie detailliertere und differenziertere Ergebnisse als bis dato und erweitert zudem bisherige Perspektiven. Das macht Schober beispielhaft an den Berichten des italienischen Gesandten Gabriele Preziosi in Wien deutlich, die zum Teil sogar österreichische Quellen an Erkenntniswert übertrafen. Die gehaltvollen Briefe des deutschen Botschafters in Rom, Ulrich von Hassell, hebt Schober auch hervor, weil sie wertvolle Einblicke in das Beziehungstrio Hitler – Mussolini – Dollfuß/Schuschnigg offerieren.

Ertrag dieser Monografie ist eine umfassende Darstellung europäischer Politik in den 1930er-Jahren mit Schwerpunkt auf Österreich. Im Mittelpunkt stehen nicht nur, wie bisher üblich, das faschistische Italien und NS-Deutschland als zentrale Akteure in der Behandlung der Österreichfrage, sondern vor allem auch ostmittel- und südosteuropäische Staaten. Schober hat mit seinem vergleichenden europäischen Zugang zur Materie eine multiperspektivische Analyse geleistet, die ein breites und facettenreiches Spektrum des „österreichischen Problems“ der Jahre 1933–1936 aus Sicht von Diplomaten und Staatspolitikern Europas liefert. Dem angekündigten zweiten Teilband darf umso mehr erwartungsvoll entgegengesehen werden.

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