I. Haar: Jüdische Migration und Diversität in Wien und Berlin 1667/71–1918

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Titel
Jüdische Migration und Diversität in Wien und Berlin 1667/71–1918. Von der Vertreibung der Wiener Juden und ihrer Wiederansiedlung in Berlin bis zum Zionismus


Autor(en)
Haar, Ingo
Erschienen
Göttingen 2022: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
535 S., 8 Abb.
Preis
€ 42,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Irene A. Diekmann, Potsdam

Das Jahr 1671 markiert für die Geschichte der Juden in großen Teilen Brandenburgs, besonders aber Berlins, einen Wendepunkt, denn seit ihrer Vertreibung 1571/73 hatte es hier keine jüdische Gemeinschaft mehr gegeben. Als Leopold I. 1667/71 die Juden aus Wien vertrieb, gestattete Friedrich Wilhelm, seit 1640 Kurfürst in Brandenburg, 50 Familien von ihnen, sich für 20 Jahre im Land anzusiedeln. Dies ist Ausgangspunkt der vorliegenden Publikation: die Bedingungen jüdischer Existenz in den Metropolen Wien und Berlin vergleichend über einen Zeitraum von circa 250 Jahren zu untersuchen.

Seit dem Erscheinen von Studien, die sich mit der Einwanderung von Juden nach Brandenburg – auch vergleichend mit anderen Einwanderungsgruppen bzw. mit anderen Ländern – befasst haben, sind einige Jahrzehnte vergangen.1 Nun liegt mit der Arbeit von Ingo Haar eine neue Untersuchung vor, die sich erstmals so umfangreich und systematisch mit der Migration der Juden in den beiden Metropolen Wien und Berlin beschäftigt und damit große Erwartungen weckt. Der Autor vertritt die Auffassung, die bisherige Geschichtsschreibung habe sich „auf die Reformjuden und ihre Akkulturation als Erfolgsstory, sowie auf den Antisemitismus als Pathologie der Moderne“ verengt (S. 16). Deshalb will die Studie „einen differenzierteren Blick auf die historischen Gemengelagen“ werfen und „mit Hilfe des Diversitäts-Paradigmas ein neues Narrativ“ aufbauen (S. 16).

Vier Fragen werden in den Mittelpunkt der Arbeit gestellt: „Welche sozialen Druckmittel baute der Staat erstens auf, um die Juden als Religionsgemeinschaft und gemeindlich-politischen Verband aufzulösen? Wie nahm er zweitens die auf diese Weise von ihrer Gemeinde entfremdeten oder herausgelösten Personen gleichberechtigt in den Personenverband auf? Was unternahmen drittens die Juden als Anpassungsleistungen selbst, um sich aus dem Kollektiv der eigenen Religionsgemeinschaft heraus als Rechtssubjekt zu entwickeln? Wie reagierte viertens die Gemeinde auf diese Prozesse der Anpassung und Individualisierung ihrer Mitglieder in Friedens- und Konfliktzeiten?“ (S. 12). Anzunehmen ist, dass der Autor Anregungen von dem von ihm 2009 organisierten internationalen Symposium zur jüdischen Migration in europäischen Metropolen zwischen 1848 und 1918 erhalten hat, auch wenn dies in der vorliegenden Studie bedauerlicherweise nicht explizit erkennbar gemacht wird. Mit Wien und Berlin wählt der Autor die Metropolen zweier Reiche als Vergleichsgrundlage. Beiden ist gemein, dass ihre territoriale Entwicklung im Untersuchungszeitraum große Veränderungen aufweist, was sich unmittelbar auf den Untersuchungsgegenstand auswirkt. Darin liegt nicht nur eine große Chance für neue Erkenntnisse, sondern zugleich auch die Herausforderung für den Verfasser, den Überblick zu behalten bzw. lesbar zu gestalten.

Neben den ungedruckten Archivalien aus dem Sonderarchiv Moskau, dem Central Archives for the History of the Jewish People Jerusalem sowie dem Landesarchiv Berlin dienen die einschlägigen gedruckten Quellenpublikationen sowie die relevante Forschungsliteratur als Materialgrundlage der Arbeit. Umso überraschender ist, dass die ja bis heute einschlägige Quellenedition zu Juden und jüdischen Gemeinden Preußens in amtlichen Enquêten des Vormärz2 ebenso wenig Berücksichtigung findet wie die neue Studie zu Dohms Schrift „Über die bürgerliche Verbesserung der Juden“.3

Die Arbeit gliedert sich in elf, seitenmäßig unterschiedlich starke Kapitel. In den ersten beiden Kapiteln (63 und 87 Seiten) wird die Vertreibung der Juden aus Wien und ihre Ansiedlung in Berlin geschildert, wobei innerhalb der Kapitel dann doch der Blick auf Wien überwiegt. Aufgezeigt wird, welche Rolle gerade die sogenannten Hofjuden in beiden Metropolen spielten. Obwohl es in beiden Städten für die Juden eine Vielzahl von Reglementierungen gab, entwickelte sich die Berliner jüdische Gemeinde kontinuierlich weiter, während sich die Situation für die Juden in Wien erst mit der Regierungsübernahme durch Joseph II. im Jahr 1780 verbessern sollte. Das dritte Kapitel – überschrieben mit „Zwischen ‚Toleranz‘ und ‚Assimilation‘ – soziale Öffnung und kulturelle Ausgrenzung“ – ist mit nur 31 Seiten relativ kurz, wenngleich es inhaltlich den wichtigen Zeitraum der Diskussion um die Gleichstellung der Juden in Preußen umfasst.

Die Judenpolitik unter dem Eindruck der napoleonischen Kriege in Wien wird im vierten Kapitel (29 Seiten) untersucht. Im fünften Kapitel (47 Seiten) wirft der Autor einen Blick auf die Zeit des „Vormärz“ und die Revolution von 1848. Die ersten beiden Unterkapitel sind der Analyse der Wiener Juden vorbehalten, während dann im Unterkapitel 5.3 der Vergleich in beiden Metropolen erfolgt. Im Kapitel sechs (33 Seiten) steht dann wieder das Jahr 1848 im Mittelpunkt. Beleuchtet werden nun die Parteien- und Nationenbildungen. Das Unterkapitel 6.3 „Vom Ende der Revolution von 1848: vom Berliner Status quo und den neuen Rechten der Juden Wiens“ ist sehr gelungen. Der direkte Vergleich beider Metropolen überzeugt in der Darstellung, zudem sind die Ergebnisse klar strukturiert zusammengefasst. 1850 billigte der Kaiser der Wiener jüdischen Gemeinde nun endlich den Status einer rechtlich vollgültigen Gemeinde zu (vgl. S. 284). In beiden Städten war zudem ein überproportionales Anwachsen der jüdischen Bevölkerung zu verzeichnen.

Im siebten Kapitel (31 Seiten), das den Zeitraum von 1849 bis 1878 umfasst, wird zum einen die Individualisierung und Gruppenbildung in den jüdischen Sozialmilieus untersucht. Zum anderen wird am Beispiel der 1860 in Paris gegründete Alliance Israélite Universelle gezeigt, wie sie die Interessen der rumänischen Juden international organisierte und sich für ihre staatsbürgerliche Gleichstellung einsetzte. Die Entwicklungen im deutschen Kaiserreich zwischen 1873 und 1885 werden im achten Kapitel (41 Seiten) untersucht. Im Fokus stehen die antisemitischen Bewegungen sowie die Politik des Kaisers und Bismarcks angesichts der Flucht russischer Juden 1881/82. Der Autor diskutiert hier den bisherigen Forschungsstand, was man sich an anderen Stellen der Studie ebenso gewünscht hätte.

Das neunte Kapitel (51 Seiten) trägt den Titel „Gesellschaftsgeschichte und Demografie der Juden 1881–1918: horizontale und vertikale Mobilität moderner Juden“. Hier nun steht wieder der Vergleich zwischen Berlin und Wien im Vordergrund, neben der quantitativen Entwicklung wird die regionale Herkunft der Zuwanderer beleuchtet, veranschaulicht wird dies zudem durch Grafiken und Tabellen. Zwei Fallbeispiele aus Berlin (Hermann Makower) und Wien (Joseph Bloch) zeigen auf, wie einzelne Persönlichkeiten zu Symbolfiguren für die politische Partizipation der Juden wurden. Das zehnte Kapitel – Exkurs – untersucht die Juden an der Schwelle des 20. Jahrhunderts: zwischen Marginalisierung und Separierung. Die Diskussion um das Schächten steht dabei im Mittelpunkt. Schließlich richtet sich im abschließenden elften Kapitel der Blick auf die „Judenfrage“ in beiden Reichen und welche Ansätze sich zu ihrer Lösung herausbildeten.

Während sich die Arbeit auf der einen Seite durch eine große Detailfülle auszeichnet, lässt sie doch auf der anderen Seite bedauerlicherweise gerade die dafür erforderliche Detailgenauigkeit zuweilen vermissen. Und so wird der Eindruck der Arbeit leider durch eine Vielzahl von Ungenauigkeiten geschmälert, die durch ein gründlicheres Korrektorat hätten vermieden werden können – dies gilt auch für Monita im wissenschaftlichen Apparat, in dem eine Anzahl von in den Fußnoten erwähnten Titeln nicht im Quellen- und Literaturverzeichnis wiederzufinden oder ihre Angaben nicht korrekt sind. Zugleich betrifft dies auch sprachliche Formulierungen sowie gelegentliche falsche Zuschreibungen oder Datierungen. So werden etwa die Hepp-Hepp-Krawalle von 1819 fälschlicherweise auf 1818 datiert (S. 221), für das Jahr 1841 Friedrich Wilhelm IV. mit Friedrich Wilhelm III. vertauscht und Bismarck zum Kanzler von Friedrich IV. erklärt (S. 285).

Die Studie konfrontiert die Leserinnen und Leser mit einer solchen Fülle an Details, dass es wünschenswert gewesen wäre, wenn es am Ende der jeweiligen Kapitel eine komprimierte Zusammenfassung gegeben hätte. Auch hätten Karten und mehr Tabellen oder Übersichten geholfen, die Lesbarkeit zu verbessern. So zeigt denn auch das Schlusswort des Autors, wie schwierig es ist, die Fäden des langen Untersuchungszeitraums im Vergleich zweier Metropolen zusammen zu führen bzw. die neuen Erkenntnisse gegenüber dem bisherigen Forschungsstand deutlich zu benennen, um dann die Neuinterpretation sichtbar werden zu lassen. So werden die eingangs geweckten Erwartungen an eine solch monumentale Studie nur zum Teil erfüllt.

Anmerkungen:
1 Zu nennen sind hier u.a. Stefi Jersch-Wenzel / Barbara John (Hrsg.), Von Zuwanderern zu Einheimischen. Hugenotten, Juden, Böhmen, Polen in Berlin, Berlin 1990; Michael A. Meyer (Hrsg.), Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit, 4 Bde., München 1996–1997; Ulrich Wyrwa, Die Juden in der Toskana und Preußen im Vergleich, Tübingen 2003.
2 Manfred Jehle (Hrsg.), Die Juden und die jüdischen Gemeinden Preußens in amtlichen Enquêten des Vormärz, 4 Bde., München 1998.
3 Christian Wilhelm Dohm, Über die bürgerliche Verbesserung der Juden. Kritische und kommentierte Studienausgabe, hrsg. von Wolf Christoph Seifert, 2 Bde., Göttingen 2015.

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