Martín Romera u.a. (Hrsg.): The Officer and the People

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Titel
The Officer and the People. Accountability and Authority in Pre-Modern Europe


Herausgeber
Martín Romera, María Ángeles; Ziegler, Hannes
Reihe
Studies of the German Historical Institute, London
Erschienen
Anzahl Seiten
423 S.
Preis
£ 80.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jan Seiwerth, Institut für Geschichte, Julius-Maximilians-Universität Würzburg

Den Untersuchungsgegenstand des vorliegenden Bandes benennen die Herausgeber:innen ohne Umschweife und Ablenkungen gleich zu Beginn: „The present volume focuses on the relationship between office-holders and local communities in pre-modern Europe“ (S. 1). Hinter diesem zunächst banal erscheinenden Anspruch verbirgt sich ein ambitionierter Ansatz, nämlich das Verhältnis zwischen Bevölkerung und Obrigkeit – vertreten durch den Amtsinhaber – als reziproke Interaktion zu verstehen und somit die Entstehung frühmoderner Administrationen als bottom-to-top Prozess zu konzeptualisieren. In den Augen der Autor:innen konzentrierte sich die Forschung bisher zu sehr auf das Verhältnis zwischen Amtsinhabern und dem (in Entstehung befindlichen) Staat, was dazu geführt habe, dass „within the triad state – officers – people, the relationship between the last two is the least studied“ (S. 9).

Das zentrale Konzept, mit dem das Thema bearbeitet wird, ist „Rechenschaft (Accountability)“. Seit Ausgang des Spätmittelalters entwickelten sich in verschiedenen Teilen Europas Visitationen, während derer Amtsinhaber vor ihren Herrschern Rechenschaft ablegen mussten – der Beitrag María Ángeles Martín Romeras nennt als ein Beispiel die iberische residencia. Die Überprüfung adäquater Amtsführung von Seiten der jeweiligen kommunalen oder fürstlichen Obrigkeit, so das Argument des Bandes, besaß jedoch auch eine populäre Seite, da die Bevölkerung durch die Obrigkeiten in den Prozess der Überwachung aktiv einbezogen wurde. Im Zentrum der populären Partizipation stand oftmals die Dokumentation des Fehlverhaltens der betroffenen Amtsinhaber durch die Befragung relevanter Zeugen. Diese Integration der Untertanen in die Verwaltungsgeschäfte habe dann dazu beigetragen, dass common people einen eigenen Erwartungshorizont bezüglich einer ordentlichen Amtsführung entwickelten, mit dem sie die Amtsinhaber zur Rechenschaft zogen. Den Vorteil einer Forschung, die den Fokus auf Rechenschaft als analytischer Kategorie legt, beispielsweise gegenüber der eng verwandten Korruptionsforschung, sehen die Autor:innen in der Kontinuität und Beständigkeit des Begriffes, denn „corruption may have meant something different in medieval times, but ‚accounting‘ and ‚to give account‘ were often employed in a way similar to their current use“ (S. 13). Dies ermögliche eine Forschung, die nicht nur historische, sondern auch sprachliche Grenzen überschreiten könne.

Einer der Vorteile, der folglich sofort ins Auge sticht, ist die geographische und zeitliche Diversität der im vorliegenden Band publizierten Beiträge. Die insgesamt 14 Aufsätze decken nicht nur eine große Zeitspanne ab, die vom Hochmittelalter bis zum 18. Jahrhundert reicht, sondern nehmen eine europäische Perspektive ein. So enthält der Band Beiträge über Frankreich und England, über das Heilige Römische Reich sowie zu einzelnen spanischen Königreichen und zu Portugal. Nichtsdestotrotz wäre die Übertragung der hier angewendeten methodologischen Ansätze – gerade wegen ihrer Stärke – auf Osteuropa oder den Balkan eine wünschenswerte Ergänzung gewesen, was jedoch keineswegs den positiven Eindruck angesichts der Fülle der angebotenen Beispiele schmälert.

Der Beitrag Alessandra Rizzis zeigt eindrücklich, wie die Nutzung der Kategorie Rechenschaft den Einfluss der Bevölkerung auf die Amtsführung einzelner Bediensteter erhellen kann. Die Autorin richtet ihren Blick auf die rettori, offizielle Vertreter Venedigs, die die Markusrepublik in jenen Territorien vertraten, die sich der Markusrepublik unterworfen hatten. Als Quellen fungieren die sogenannten commissiones, die jedem neuen Amtsinhaber mitgegeben wurden und deren Aufgaben, Pflichten und Handlungsspielraum absteckten. In Rizzis Augen sind diese Beamten deshalb von besonderem Interesse, weil sie das Verhältnis zwischen Venedig und seinen unterworfenen Territorien in Fragen der Rechenschaft widerspiegeln. Die Gebiete, die sich – aus welchem Grund auch immer – unter den Schutz der Serenissima begaben, schlossen meist mit ihr einen pactum, der nicht nur Pflichten für die lokale Bevölkerung bedeutete, sondern auch die Verantwortung der Stadt Venedig einforderte. Entsprechend mussten die rettori einen Balanceakt vollziehen. Sie mussten auf der eine Seite den Bestimmungen ihrer commissiones folgen, während sie auf der anderen Seite die Bedürfnisse der lokalen Bevölkerung und ihre politischen Privilegien respektieren sollten. Folglich kann Rizzi eindrücklich den im Untersuchungszeitraum (14. bis 16. Jahrhundert) wachsenden Einfluss der lokalen Bevölkerung nicht nur auf die Amtsführung der rettori, sondern auch auf die Verfassung der commissiones in Venedig nachweisen. Einheimische besaßen demnach die Fähigkeit, durch Beschwerden und Petitionen den Großen Rat dazu zu bewegen, die Instruktionen der Beamten zu ändern und sie dadurch zur Rechenschaft zu ziehen. Diese Ergebnisse werfen ein Licht auf den kooperativen Charakter venezianischer Herrschaft außerhalb der Lagune. Aufgrund der weiterhin dürftigen Quellenlage kann man sich Rizzis Wunsch nur anschließen, dass sich die Untersuchungen auch auf die mediterranen Besitzungen der Republik ausdehnen sollten.

In ähnlichem Maße wirft der Artikel von María Ángeles Martín Romera neues Licht auf die spanische juicio de residencia: ein dafür einberufener Richter untersucht die Amtsführung eines königlichen Beamten und verhängt, falls nötig, Sanktionen gegen diesen. Zwar fand dieses Verfahren schon wiederholt das Interesse der spanischen Historiographie, doch kritisiert die Autorin, dass die Forschung den Input der Bevölkerung zu sehr vernachlässigt habe, obwohl die zweite Phase jeder residencia explizit pública war und hier um Zeugenberichte der einfachen Bevölkerung gebeten wurde. Romera argumentiert daher, dass diese Berichte Einfluss auf jede residencia besaßen und Amtsinhaber auf dieser Grundlage wiederholt zur Rechenschaft gezogen wurden. Es reiche daher nicht, lediglich das am Ende des Prozesses ergangene Urteil der Krone zu betrachten, da die Rechtsprechung zu oft den Eindruck erwecke, es habe keine Konsequenzen für die Amtsinhaber gegeben. Die im Artikel vorgestellten Beispiele legen jedoch nahe, dass die lokale Bevölkerung oftmals vor oder während der residencia Einfluss nehmen konnte – etwa durch gezielte herabsetzende Anschuldigungen, die das Ansehen des Amtsinhabers permanent beschädigten (im Artikel das Beispiel einer Anklage und eines Gerichtsverfahrens wegen Sodomie). Es kam auch vor, dass Beamte bereits vor dem Prozess mit Vertretern der lokalen Bevölkerung verhandelten und hierbei Entgegenkommen oder schlichtweg Bestechung einsetzten, um eine reibungslose residencia zu garantieren. In jedem Fall war die lokale Bevölkerung offenbar weitaus einflussreicher als dies der Blick allein auf die königlichen Urteile suggeriert. Romera schlägt damit vor, die residencia nicht als reines Instrument des königlichen Durchsetzungswillen, sondern als eine Plattform der lokalen Bevölkerung zur Artikulation von Unmut oder Zustimmung mit der Amtsführung zu verstehen.

Zuletzt sei noch der Beitrag von Niels Grüne vorgestellt, der konzise und eindrücklich zwei Fallbeispiele behandelt, bei denen die Sorgen und Petitionen der gemeinen Bevölkerung in deutschen Territorien gezielt durch die Landstände gesammelt wurden, um eine Änderung der fürstlichen Politik zu legitimieren. In den gewählten Fällen – die Landverbesserungspunkte in Hessen-Kassel von 1731 und die württembergischen Landberichte von 1737 – nutzten die Landstände einen Regierungswechsel, um die Bevölkerung um Beschwerdeschreiben zu bitten, die sie gesammelt dem Herrscher überreichten, um die von ihnen wahrgenommenen Missstände in der fürstlichen Administration zu korrigieren. Dabei griffen sie den Wunsch lokaler Eliten und darüber hinaus der Bevölkerung auf, fürstliche Amtsinhaber zur Rechenschaft zu ziehen, wobei die Ziele jener Eliten und die der Landstände konvergierten. Laut Grüne war die vereinigende Wertvorstellung „a kind of decentralized tradititionalism: the protection of secure incomes and social status according to local conditions” (S. 369). Diese vom Autor unterstrichene Verbindung macht deutlich, dass die Einbeziehung der Bevölkerung vonnöten war, sollten Amtsinhaber zur Rechenschaft gezogen werden.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass es den im vorliegenden Band versammelten Beiträgen gelingt, Licht in das Dunkel eines wenig beachteten Feldes der Forschung über die Amtsführung, Staatsbildung und politische Partizipation in der Vormoderne zu bringen. Trotz der – von den Autor:innen stets betonten – schwierigen Quellenlage bezüglich der common people, können die einzelnen Studien doch ein bemerkenswertes Maß an Einfluss rekonstruieren.

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