R. Dürr (Hrsg.): Threatened Knowledge

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Titel
Threatened Knowledge. Practices of Knowing and Ignoring from the Middle Ages to the Twentieth Century


Herausgeber
Dürr, Renate
Erschienen
London 2021: Routledge
Anzahl Seiten
266 S.
Preis
£ 34,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Claudia Roesch, Deutsches Historisches Institut Washington

Welche Rolle spielen Wissen und Nichtwissen in instabilen Gesellschaften? Diese Frage untersucht der Sammelband Threatened Knowledge. Practices of Knowing and Ignoring from the Middle Ages to the Twentieth Century. Der Band, herausgegeben von der Frühe-Neuzeit-Historikerin Renate Dürr, geht auf eine Tagung des Tübinger Sonderforschungsbereichs 923 „Bedrohte Ordnungen“ von 2018 zurück. Die neun Fallstudien umfassen vier Kontinente und spannen vom Karolinger-Reich bis zu den Protesten indigener Aktivist:innen im Kanada und Australien der 1960er-Jahre einen weiten zeitlichen Bogen. Außereuropäische Fallstudien betrachten neben Nordamerika und Australien das koloniale Java und Ägypten. Leitende Fragestellung aller Beiträge ist, wie Wissen in Umbruchsituationen, sei es politischer oder technologischer Natur, als glaubwürdig erachtet oder abgelehnt wurde.

Der Sammelband reiht sich in das Forschungsfeld der Wissensgeschichte ein, welche sich besonders unter Historiker:innen der Frühen Neuzeit und des Mittelalters großer Beliebtheit erfreut, aber auch immer mehr Zuspruch innerhalb der Geschichte der Moderne findet. So haben sich in den letzten Jahren zwei Stränge der Wissensgeschichte herausgebildet: einer, der die Zirkulation von Wissen besonders im Kontext der Migrationsgeschichte untersucht, und ein zweiter, der in einem praxeologischen Ansatz nach Formen der Wissensproduktion fragt.

Der hier vorliegende Band leistet einen wichtigen Beitrag zum zweiten Forschungsstrang, indem er den praxeologischen Ansatz der Wissensgeschichte mit Inhalten füllt. So fragen die Autor:innen nach Methoden der Produktion von Wissen in instabilen Zeiten, sei es im frühmittelalterlichen Frankenreich, im niederländischen Kolonialreich oder den USA um 1900. Dabei werden vor allem Methoden der Validierung von Wissen untersucht, die Gelehrte seit dem Mittelalter praktizierten, die bewusste Ausgrenzung bestimmter Wissensbestände und die gesellschaftlichen Debatten um das Problem eines Überangebots an Informationen.

Der Band hebt exemplarisch hervor, dass in unsicheren Zeiten die Fragen nach dem Vertrauen in Wissen große gesellschaftliche Relevanz erlangte – und verbindet so die Wissensgeschichte mit der Geschichte der Emotionen. Auch zeigt er, dass seit dem Frühmittelalter die Erforschung des Vergangenen ein wichtiger Prozess zur Produktion von Wissen über Identitäten, Traditionen und politische Handlungsstrategien war.

Einige Beiträge arbeiten mit dem Konzept der „precarious knowledge“ des Erfurter Ideenhistorikers Martin Mulsow, der selbst einen Beitrag zu Alchemisten im kolonialen Java beigesteuert hat. Prekäres Wissen wird dabei als „grauer Bereich“ zwischen glaubwürdigem und unglaubwürdigem, wahrem oder falschem Wissen verstanden. Prekäres Wissen befindet sich immer in Gefahr verloren zu gehen, etwa weil Schreiber in mittelalterlichen Klöstern Texte nicht mehr kopierten, Schiffe mit Aufzeichnungen aus Kolonien sanken oder indigenes Wissen ignoriert wurde. Dabei zeigen die Beiträge, dass Wissen und bewusstes Nichtwissen eng miteinander verbundene Prozesse sind. Aufgrund eines Überflusses an teilweise widersprüchlichen Informationen, schon in den Klosterbibliotheken des Mittelalters, mussten Gelehrte selektieren, welche Wissensbestände erhalten, weitergegeben oder in Anthologien aufgenommen werden sollten. Vergessen und Ignorieren waren so schon in der Vormoderne bedeutende Praktiken der Wissensproduktion. Das Nebeneinanderstellen von Beiträgen aus dem Mittelalter und der Neuzeit zeigt so, dass bestimmte Praktiken der Wissenssortierung epochenübergreifend praktiziert wurden.

Die Beiträge der ersten Buchsektion „Negotiating Uncertainties and the Reliability of Knowledge“ untersuchen die Aushandlungsprozesse darüber, welche Informationen als verlässlich und wahr galten, und somit an weniger gebildete Schichten der Bevölkerung weitergegeben werden konnten. Carine van Rhijn diskutiert in ihrem Beitrag zum Ausbau des karolingischen Gelehrensystems, wie Geistliche versuchten, durch das Studium frühchristlicher Schriften Gottes Wille zu erkennen und so begannen, Debatten über die Glaubwürdigkeit apokryphischer Texte zu führen. Die Interpretationsmethoden, die dabei entwickelt wurden, weisen auf eine frühe Form der geisteswissenschaftlichen Quellenkritik hin. Der Band vollzieht dann einen Sprung vom Hof Karls des Großen an die New Yorker Börse um 1920. So beschäftigt sich der Beitrag von Daniel Menning damit, wie relevante und glaubwürdige Informationen für erfolgreiche Börsenspekulationen herauszufiltern waren. Durch die Analyse von Aktienratgebern zeigt Menning, wie Gerüchte und Nachrichten als unzuverlässige Wissensformen über die Entwicklung von Aktienkursen zunehmend abgelehnt wurden und gleichzeitig die technologische Innovation des Börsentickers immer mehr Bedeutung erlangte. Auch zeigt diese Sektion, wie Gelehrte und Experten in Momenten von Kontingenz (da man nie genau Gottes Wille kennen konnte, genauso wenig wie die Entwicklung von Aktienkursen) zu Gate-Keepern wurden, die selektierten, welches Wissen weitergeben werden sollte.

Die zweite Sektion „Creating and Understanding References“ untersucht prekäre historische und indigene Wissensbestände und verbindet so Praktiken des Erinnerns und der mündlichen Weitergabe von Traditionen mit Praktiken des Vergessens. Warren Pezé untersucht ein Traktat des Bischofs Hincmar von Reims (845-882) zur Rechtfertigung des königlichen Rechts, die Todesstrafe auszuführen, um die Säuberungsaktionen des westfränkischen Königs Karl des Kahlen gegenüber politischen Gegner:innen zu legitimieren. Er zeigt, dass Hincmar einerseits historische Quellen, wie römisches Recht oder Schriften der Kirchenväter, als Wissensressourcen für politisches Handel heranzog, andererseits auch „politics of forgetting“ (S. 104) praktizierte, in dem er in seinem Traktat umstrittene Todesurteile ausließ. Sebastian Koch untersucht Praktiken des Erinnerns und Vergessens in instabilen Gesellschaften der Neuzeit, indem er Gedenkfeiern zum 100-jährigen Jubiläum der Staatsgründung Kanadas und Australiens im Jahre 1967 vergleicht. Während Australien sich trotz Protesten der indigenen Bevölkerung als weiße Siedlernation präsentierte, stellte sich Kanada als Mosaik-Nation verschiedener Völker dar, deren Zusammenleben auf Prinzipien der Gleichheit beruhte. Die First Nations Kanadas wurden hierbei als erste Einwanderer:innen präsentiert, die über die Beringstraße aus Asien eingewandert seien, eine Darstellung, die die eigenen Ursprungserzählungen der indigenen Kanadier:innen ausließ. Koch argumentiert, dass sich die Unterschiede zwischen der australischen und kanadischen Erinnerungskultur aus der Instabilität der kanadischen Nation aufgrund des Unabhängigkeitsbestrebens Quebecs erklären lassen. So zeigen die Beiträge dieser Sektion, dass sowohl Erinnern als auch Vergessen nicht nur Wissenspraktiken, sondern bewusste politische Handlungen zur Herstellung von Traditionen waren, die stabilisierend in gesellschaftlichen Ordnungen wirken sollten.

Die dritte Sektion „Knowing and Ignoring as Reciprocal Answers” beschäftigt sich mit Strategien des Umgangs mit einem Zuviel an Informationen. Während sich Anthony Grafton mit den Methoden beschäftigt, die Erasmus von Rotterdam entwickelte, um für seine Quelleneditionen Originale von Fälschungen zu unterscheiden, schauen die letzten beiden Beiträge dieser Sektion auf Debatten über Gefahren des Informationsüberfluss für die Psyche junger Männer an der Schwelle vom 19. ins 20. Jahrhundert. Dass die Angst vor den negativen Auswirkungen der Informationsbeschleunigung in der Moderne nicht nur ein westliches Phänomen war, zeigt Joseph Ben Prestels Vergleich der Klagen über Amüsiermeilen in Kairo und Berlin, da im kolonialen Ägypten ähnliche Debatten über Rationalität und die Überforderung des menschlichen Gehirns durch falsche Freizeitgestaltung geführt wurden, wie im deutschen Kaiserreich. Zusammen zeigen die Beiträge dieser Sektion, dass besonders in Gesellschaften, die einen informationstechnologischen Umbruch erfuhren, Debatten über die Gefahren eines Überflusses an Informationen auftauchten, die bewusstes Ignorieren oder Enthaltsamkeit als Formen der Steuerung des Informationsflusses propagierten.

Insgesamt leistet der Sammelband einen wichtigen Beitrag zum Feld der Wissensgeschichte. Er ist besonders geeignet für Nachwuchswissenschaftler:innen, die Anregungen suchen, wie man einem wissensgeschichtlichen Ansatz in der Forschungspraxis folgen kann. Exemplarisch zeigt er, wie ein praxeologischer Ansatz mit Fragen nach Methoden der Validierung von Wissen und der bewussten Ausgrenzung bestimmter Wissensformen forschungspragmatisch umgesetzt werden kann. Eine weitere Stärke des Bandes ist das Nebeneinanderstellen von Beiträgen aus dem Mittelalter und der Neuzeit, was zum einen die Vorstellung einer „Wissensgesellschaft“ der Moderne relativiert, da Wissenspraktiken in mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Gesellschaften eine ähnlich relevante Rolle zur Stabilisierung gesellschaftlicher Ordnungen spielten, wie in der Neuzeit. Andererseits zeigen die Beiträge auch, wie global die Wahrnehmung der Beschleunigung von Wissen und Technologie in der Umbruchphase um 1900 war. Was noch stärker hätte herausgearbeitet werden können, ist der technologische Aspekt der Wissenszirkulation. Die Prekarität von Informationsinfrastrukturen klingt an einigen Stellen an, man hätte aber gerne noch mehr erfahren, wie sich etwa unzuverlässige Technologien oder brüchige Infrastrukturen auf Praktiken des Wissens und Nichtwissens ausüben. Hier könnten zukünftige Forschungsprojekte ansetzen.

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