K. Sieg: Decolonizing German and European History at the Museum

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Titel
Decolonizing German and European History at the Museum.


Autor(en)
Sieg, Katrin
Reihe
Social History, Popular Culture, and Politics in Germany
Erschienen
Anzahl Seiten
IX, 316 S., 16 Abb.
Preis
$ 80.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Daniel Morat, Deutsches Historisches Museum, Berlin

Die Debatte um den deutschen Kolonialismus hat in den vergangenen Jahren eine erstaunliche Dynamik entfaltet. Nachdem er in der deutschen Erinnerungskultur lange keine prominenente Rolle spielte, drängte er seit etwa 2004, als sich der von deutschen Kolonialsoldaten verübte Völkermord an den Herero und Nama zum hundertsten Mal jährte, verstärkt in die breitere Öffentlichkeit – einerseits vorangetrieben durch beharrliche Aktivitäten postkolonialer Initiativen, andererseits auch vorbereitet durch den akademischen Aufschwung der Globalgeschichte und die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Kolonialgeschichte. In den letzten Jahren machte sich die Debatte dann an so unterschiedlichen Kristallisationskernen wie der offiziellen Anerkennung des Genozids im damaligen Deutsch-Südwestafrika, der Restitution von während der Kolonialzeit angeeigneten Kulturgütern, der Umbenennung von Straßen, dem Sturz von Kolonialdenkmälern und zuletzt an der im sogenannten „Historikerstreit 2.0“ hitzig diskutierten Frage nach dem Verhältnis von Kolonialverbrechen und Holocaust fest.1

Museen spielten in dieser Debatte von Anfang an eine wichtige Rolle, allerdings in erster Linie ethnologische Museen, in denen sich ein Großteil des „Sammlungsguts aus kolonialen Kontexten“ findet, wie die offizielle Bezeichnung des Deutschen Museumsbunds lautet2, und die daher im Rahmen der Restitutionsdebatte im Fokus standen und noch immer stehen. Es haben sich jedoch auch Geschichtsmuseen an dieser Debatte beteiligt. So hat etwa das Deutsche Historische Museum (DHM) im Juni 2018 ein Symposium zur sogenannten „Säule von Cape Cross“ veranstaltet und dabei deren Rückgabe an Namibia angekündigt.3 Davor hatte das DHM bereits mit der im Oktober 2016 eröffneten Sonderausstellung „Deutscher Kolonialismus. Fragmente seiner Geschichte und Gegenwart“ einen wichtigen Beitrag zur öffentlichen Neubewertung der deutschen Kolonialvergangenheit geleistet.4

Mit Decolonizing German and European History at the Museum von Katrin Sieg, Professorin am German Department der Georgetown University in Washington, liegt nun erstmals eine monographische Studie vor, die das DHM ins Zentrum der Frage nach der musealen Aufarbeitung der deutschen und europäischen Kolonialvergangenheit stellt. Das Buch ist in drei Teile gegliedert. Nach einer Einführung in die theoretischen Prämissen der Untersuchung und einem kursorischen Überblick über „activist interventions in European ethnology museums“ (S. 40) (u.a. am Beispiel des Humboldt Forums in Berlin und des Afrika-Museums in Tervuren bei Brüssel) widmet sich Sieg im ersten Teil des Buchs zunächst der alten Dauerausstellung des DHM und der Kritik an der randständigen Art und Weise, in der der Kolonialismus darin abgehandelt wurde, wie sie insbesondere die Initiative „Kolonialismus im Kasten“ vorgebracht hat.5 Im zweiten Teil des Buchs geht Sieg dann in drei Kapiteln sehr detailliert auf die genannte DHM-Sonderausstellung zum Kolonialismus von 2016 ein, die sie punktuell auch mit anderen Museumsausstellung derselben Zeit (im Niedersächsischen Landesmuseum in Hannover und im Schifffahrtsmuseum in Flensburg) vergleicht. Im dritten Teil folgt zunächst eine ausführliche Analyse der Darstellung des Kolonialismus im 2017 eröffneten Haus der Europäischen Geschichte (HEG) in Brüssel sowie dann, im letzten Kapitel, die Beschäftigung mit einer Reihe von Kunstwerken und künstlerischen Museumsinstallationen, die sich kritisch mit der europäischen Kolonialgeschichte auseinandergesetzt haben.

Sieg macht von Beginn an deutlich, dass sie an die Notwendigkeit einer Dekolonisierung der deutschen und europäischen Geschichte glaubt und dass sie mit ihrer Studie einen Beitrag leisten möchte zu den Bemühungen „to apply critical pressure on public institutions to provide opportunities for cosmopolitan solidarity and affirm social commitments that derive from violent histories“ (S. 10). Es geht Sieg also um eine sowohl moralische wie politische Verpflichtung Europas gegenüber dem „Global South“ (S. 11), die sich aus der Gewaltgeschichte des Kolonialismus ergibt und die auf die Überwindung der Nachwirkungen des Kolonialismus in der „imperial presence“ (S. 7) zielt. Die sich daraus ergebende Frage an die Museen lautet: „Can museums be allies in anti-imperial, antiracist struggles?“ (S. 36) Zur Beantwortung dieser Frage stützt sich Sieg unter anderem auf Paul Gilroy, der in Bezug auf das British Empire von der Trauerarbeit sprach, die von den Briten geleistet werden müsse, um sich aus der kolonialen Nostalgie zu befreien und eine „postcolonial conviviality“ (S. 23) mit den ehemals Kolonialisierten zu ermöglichen. Im Sinne Gilroys fordert Sieg daher, Museen müssten zu Orten des Trauerns und des „repair“ (S. 22) werden, um zur Überwindung neokolonialer Strukturen beizutragen und „visions of global social justice“ (S. 253) voranzubringen, denn: „the point of decolonizing museums is to decolonize the world“ (S. 254).

Sieg reiht sich mit dieser Agenda in eine breite Bewegung innerhalb der Museen und der Museologie ein, die in den letzten Jahren für eine erweiterte, an Idealen der „social justice“ orientierte Museumethik argumentiert hat.6 Selbst wenn man dieser Position skeptisch gegenübersteht und darin die Gefahr einer ethisch-moralischen Überfrachtung von Museumsarbeit sieht, kann man das Buch dennoch mit großem Gewinn lesen. Das liegt in erster Linie an den sehr detaillierten und insgesamt überzeugenden Einzelanalysen der unterschiedlichen Ausstellungen und Museumspräsentationen, die sich zugleich auf die neuere Forschungsliteratur zur deutschen und europäischen Kolonialgeschichte stützen und so die musealen Darstellungen mit der aktuellen Forschungsdiskussion abgleichen können.

In Bezug auf die alte, 2021 geschlossene Dauerausstellung des DHM schließt sich Sieg der Kritik der Initiative „Kolonialismus im Kasten“ an, die nicht nur die eurozentrische Art der Darstellung des Kolonialismus in der dafür reservierten Vitrine bemängelt hat, sondern auch deren marginale Platzierung innerhalb der Ausstellung, die ansonsten gar nicht auf koloniale Verflechtungen der deutschen Geschichte eingegangen ist. Demgegenüber attestiert Sieg dem DHM einen bedeutenden Lernfortschritt mit der Sonderausstellung von 2016, da der Kolonialismus hier nicht nur als ein zentrales Thema der deutschen Geschichte behandelt, sondern auch in seinen Nachwirkungen bis in die Gegenwart verfolgt wurde. Dabei wurde auch auf einen rassismuskritischen und sensiblen Umgang mit den Exponaten sowie auf den Einbezug von Stimmen postkolonialer Initiativen und von Nachfahren der Kolonialisierten geachtet. Nicht alles sei dabei gelungen, so Sieg, und manche der kuratorischen Entscheidungen werden von ihr kritisiert. Insgesamt kommt die DHM-Ausstellung gemessen an Kategorien der „reparative justice“ (S. 164) jedoch deutlich besser weg als diejenige im HEG, die sich nach Siegs Urteil trotz der ausführlichen Thematisierung des Kolonialismus letztlich nicht von einer hegelianischen Fortschrittsgeschichte Europas lösen kann, in der der europäische Kolonialismus nur der „dunklen Vergangenheit“ angehört und keine kritischen Perspektiven auf neokoloniale Strukturen in der Gegenwart eröffnet werden.

Auch wenn dieser Kritik am HEG weitgehend zuzustimmen ist, offenbart Siegs Kapitel dazu doch ein gewisses Ungleichgewicht in der Anlage der Untersuchung, denn ein wirklich europäisch vergleichender Blick eröffnet sich dadurch nicht. So erscheint die museale Aufarbeitung der Kolonialgeschichte in Deutschland letztlich als exemplarisch für ganz Europa, ohne dass die doch erheblichen Unterschiede zwischen den einstigen Kolonialreichen diskutiert würden. So wird etwa auch die Frage, ob sich Gilroys am British Empire entwickelte Idee der postkolonialen Trauerarbeit wirklich auf den deutschen Fall übertragen lässt, von Sieg nicht aufgeworfen. Trotz dieser Einschränkung und trotz der Tatsache, dass sich die Debatte seit dem Abschluss der Arbeit schon wieder weiterentwickelt hat – so wurde etwa die DHM-Dauerausstellung zwischenzeitlich überarbeitet (was Sieg nur noch kurz erwähnen konnte) und mittlerweile zur Vorbereitung einer neuen ständigen Ausstellung geschlossen –, kann Katrin Siegs Buch vorbehaltlos zur Lektüre empfohlen werden, wenn man sich für die Frage interessiert, was Museen zur Überwindung kolonialer Denkmuster und neokolonialer Machtverhältnisse beitragen können.

Anmerkungen:
1 Vgl. als neueren Überblick, der den „Historikerstreit 2.0“ allerdings noch nicht ausführlich thematisiert, Andreas Eckert, Die „Wiederentdeckung“ des deutschen Kolonialismus, in: Thomas Sandkühler / Angelika Epple / Jürgen Zimmerer (Hrsg.), Geschichtskultur durch Restitution? Ein Kunst-Historikerstreit, Wien 2021, S. 245–259.
2 Vgl. Deutscher Museumsbund (Hrsg.), Leitfaden Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten, 3. Fassung, Berlin 2021, URL: https://www.museumsbund.de/wp-content/uploads/2021/03/mb-leitfanden-web-210228-02.pdf (23.09.2022).
3 Vgl. dazu die erste Ausgabe des DHM-Magazins Historische Urteilskraft 1/2019 mit dem Schwerpunkthema „Die Säule von Cape Cross – Koloniale Objekte und historische Gerechtigkeit“.
4 Vgl. den Ausstellungskatalog: Deutsches Historisches Museum (Hrsg.), Deutscher Kolonialismus. Fragmente seiner Geschichte und Gegenwart, Berlin 2016.
5 Vgl. URL: https://www.kolonialismusimkasten.de/über-uns/ (23.09.2022).
6 In diesem Kontext ist auch die gerade beendete Diskussion um eine neue Museumsdefinition durch den International Council of Museums (ICOM) zu sehen; vgl. URL: https://hyperallergic.com/756031/carefully-worded-definition-of-museum-eschews-neutrality/ (23.09.2022).

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