S. Meineke u.a. (Hrsg.): Friedrich Meinecke

Cover
Titel
Friedrich Meinecke. Vernunftrepublikaner aus Überzeugung
Weitere Titelangaben
Band I: Dokumente zur Vereinigung verfassungstreuer Hochschullehrer 1926–1933


Herausgeber
Meineke, Stefan; Sösemann, Bernd
Reihe
Edition Andreae
Erschienen
Berlin 2023: lexxion
Anzahl Seiten
802 S.
Preis
€ 49,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan Jordan, Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, München

„Wir müssen uns in der Tat auf schlimmste Dinge gefaßt machen, und wir dürfen nicht schweigend sie abwarten“, schrieb Friedrich Meinecke am 20. Februar 1933 an seinen Kollegen und Freund Walter Goetz (S. 663). Zwei Tage später erschien sein Artikel „Volksgemeinschaft – nicht Volkszerreißung“ in der Berliner Volkszeitung und anderen deutschen Tageszeitungen. In ihm warnte der Berliner Ordinarius in eindrücklichen und klaren Worten vor Bürgerkriegszuständen in Deutschland und einer Machtübernahme der Nationalsozialisten. Danach verstummte er – zumindest in der Öffentlichkeit – bis zum Ende des Regimes und des Zweiten Weltkriegs.

Meineckes Haltung zur Weimarer Republik beleuchtet nun ein voluminöser Quellenband, der Briefe und Dokumente rund um die maßgeblich von Meinecke initiierte „Vereinigung verfassungstreuer Hochschullehrer“ versammelt. Die als „Parerga“ zur Meinecke-Werkausgabe titulierte Edition – ein zweiter Band mit publizistischen Dokumenten Meineckes aus der Zeit von 1910 bis 1933/34 ist noch für dieses Jahr angekündigt – setzt die Reihe an Quellenveröffentlichungen fort, die mit dem von Gerhard A. Ritter 2006 herausgegebenen Briefwechsel zwischen Meinecke und seinen emigrierten Schülern begonnen hatte. Daran schlossen sich die 2012 erschienenen „Neuen Briefe und Dokumente“ (Meinecke-Werke Band X) sowie 2018 die von Sösemann erstellte und mit zahlreichen Materialien ausgestattete kritische Ausgabe von „Die deutsche Katastrophe“ an.1 Eine Fortsetzung ist die Edition dabei in doppeltem Sinn: Zum einen enthält sie bislang nicht veröffentlichte Dokumente aus Meineckes Nachlass im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz in Berlin und trägt so zu dessen weiterer Erschließung bei. Zum anderen zeigt sich in ihr ein Trend zu einer Neudeutung Meineckes, der mit Beginn des 21. Jahrhunderts eingesetzt hatte und zu dem vor allem Ritters Einleitung zu seiner Briefe-Edition sowie neuere Arbeiten über Meineckes Leben und Werk beigetragen haben. Zu nennen sind hier besonders ein von Gisela Bock und Daniel Schönpflug 2006 herausgegebener Aufsatzband sowie die Meinecke-Biografien Ute von Lüpkes 2015 und Reinbert Krols 2021.2

Meineckes Selbstbezeichnung nach 1918 als Herzensmonarchist und Vernunftrepublikaner wurde nach Meineckes Tod 1954 von einer sich zunehmend sozialgeschichtlich formierenden historischen Forschung als Ausdruck einer gewissen Rückständigkeit bewertet und prägte mehrere Jahrzehnte das Meinecke-Bild. Der Berliner Historiker galt mit seinem Werk „Die Entstehung des Historismus“ (2 Bde., 1936) nicht nur als Historiograf des Historismus, sondern wurde selbst als Historist bewertet. Seit den 1960er-Jahren erfolgte eine historiografiegeschichtliche Einordnung des Historismus, die in diesem einen entscheidenden Faktor für den „verhängnisvollen Sonderweg“ der – auch geistigen – Entwicklung Deutschlands hin zur Kulmination der „Katastrophe“ in Nationalsozialismus und Holocaust sah; stellvertretend genannt sei hier die Studie von Georg G. Iggers.3 In ihrem Zuge wurde auch Meinecke als Vertreter einer wissenschaftlich wie politisch überholten, dem Kaiserreich verhafteten und am Hegelschen Machtstaatsgedanken orientierten Geschichtswissenschaft beurteilt. Die genannten Editionen und Studien haben dieses Bild grundlegend revidiert. Zwar erscheint Meinecke weiterhin als Repräsentant einer idealistischen Geschichtsauffassung, doch wurde auf sein Netzwerk hingewiesen, innerhalb dessen er Ansätze Andersdenkender – nicht zuletzt seiner (später zum Teil emigrierten) Schüler – gefördert habe; Meinecke erscheint so als Vertreter einer gesprächsoffenen res publica litteraria. Sodann wurden Meineckes eigene politische Einlassungen ernster genommen, er als Vertreter einer liberalen politischen Position verstanden, der sich für den Erhalt der Weimarer Demokratie und später gar für eine Orientierung (West-)Deutschlands in Richtung Europa engagiert habe.

Genau an diesem Punkt nun liefert die neue Edition wichtiges Quellenmaterial. Sie beleuchtet ein Netzwerk führender deutscher Akademiker, von denen viele – wie Meinecke selbst – der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) oder der Deutschen Volkspartei (DVP) nahestanden, zu dem unter anderem Walter Goetz, Gustav Mayer, Gustav Radbruch und Karl Stählin zählten und in dem Meinecke eine zentrale Rolle einnahm. Die von Meinecke 1926 initiierte „Vereinigung verfassungstreuer Hochschullehrer“, die nach dem Ort ihrer ersten Zusammenkunft auch als „Weimarer Kreis“4 bezeichnet wurde, trat bis 1932 vier Mal mit dem Ziel eines Schutzes der Weimarer Verfassung als Grundlage einer neuen (demokratisch fundierten) „nationalen Gesinnung“ (S. 113) zusammen. Konkret ging es um „Ausweitung des Wahlrechts, Gewinnung der Arbeiterschaft für den Staat, Gemeinschaft zwischen Sozialdemokraten und Liberalen in einer Parteiendemokratie“ (S. 12). Wie konträr dabei etwa die Haltung gegenüber dem untergegangenen Kaiserreich diskutiert wurde, zeigen die nun veröffentlichten Quellen, die Meineckes eigene Briefe und Entwürfe für Einladungsschreiben und Diskussionsgrundlagen enthalten wie auch Gegenbriefe sowie Einlassungen und Gesprächsmitschriften seiner zahlreichen Korrespondenzpartner und Mitstreiter. Ergänzt wird diese Dokumentation durch übersichtliche Synopsen der Teilnehmerlisten der Tagungen, Kurzbiografien der Teilnehmer sowie ausführliche Verzeichnisse der Archivalien, Quellen und Sekundärliteratur.

Insgesamt bietet der Band damit ein umfassendes Bild von einem politischen Zusammenschluss von Akademikern, über dessen Wirkkraft man streiten kann. Die an vielen Stellen erkennbare akademische Ferne vom politischen Tagesgeschehen, der Versuch einer Verteidigung der Geisteswelt und ihrer Vertreter gegenüber einer immer radikaleren Verachtung des Rechtsstaats und seiner Organe zeugen mitunter von einer gewissen Hilflosigkeit. Gleichzeitig zeigen die Reflexionen und Warnungen in den Dokumenten aber, dass der Weg der Geisteswissenschaften, allen voran der Geschichtswissenschaft, in den Nationalsozialismus nicht pauschal unter dem Stichwort „Historismus“ abgehandelt werden sollte. Die demokratiestützenden, verfassungstreuen Bewegungen verdienen es, einzeln und differenzierter zur Kenntnis genommen zu werden, auch wenn sie den von Meinecke 1946 als „deutsche Katastrophe“ beschriebenen Weg weder entscheidend beeinflussen noch gar aufhalten konnten und vielfach zum Verstummen der Protagonisten führten.

Anmerkungen:
1 Friedrich Meinecke, Akademische Lehrer und emigrierte Schüler. Briefe und Aufzeichnungen 1910–1977, eingel. u. bearb. v. Gerhard A. Ritter, München 2006; Friedrich Meinecke, Neue Briefe und Dokumente, hg. u. bearb. v. Gisela Bock u. Gerhard A. Ritter, München 2012; Friedrich Meinecke, Die deutsche Katastrophe. Edition und internationale Rezeption, hg. v. Bernd Sösemann, Berlin 2018.
2 Gisela Bock / Daniel Schönpflug (Hrsg.), Friedrich Meinecke in seiner Zeit. Studien zu Leben und Werk, Stuttgart 2006; Ute von Lüpke, Zäsuren – Katastrophen – Neuanfänge. Friedrich Meinecke und die Umbrüche der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert, Hamburg 2015; Reinbert Krol, Germany’s Conscience. Friedrich Meinecke. Champion of German Historicism, Bielefeld 2021.
3 Georg G. Iggers, The German Conception of History. The National Tradition of Historical Thought from Herder to the Present, Middletown 1968.
4 Herbert Döring, Der Weimarer Kreis. Studien zum politischen Bewußtsein verfassungstreuer Hochschullehrer in der Weimarer Republik, Meisenheim am Glan 1975.