Cover
Titel
Familiäre Rehabilitation?. Eine Alltagsgeschichte ostdeutscher Haushalte mit behinderten Kindern (1945–1990)


Autor(en)
Schmüser, Pia
Reihe
Disability History
Erschienen
Frankfurt am Main 2023: Campus Verlag
Anzahl Seiten
498 S.
Preis
€ 49,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Paula Mund, Historisches Seminar, Universität Erfurt

Pia Schmüser untersucht in ihrer jetzt als Buch erschienenen Kieler Dissertation die Lebenslagen von Familien mit behinderten Kindern in der DDR vorwiegend aus der Perspektive der betroffenen Eltern. Dadurch, dass Eltern mit den Behörden kommunizierten und über ihren Alltag mit behinderten Kindern berichteten, entstanden zahlreiche Quellen. Dagegen waren die Kinder selbst vielfach nicht fähig, ihre Empfindungen und Erfahrungen wiederzugegeben (S. 38). In der Arbeit werden alle Formen von Behinderung untersucht; es findet keine Aufteilung nach spezifischen Behinderungsarten statt. Das Buch ist damit als ein Überblickswerk zu Familien mit behinderten Kindern in der DDR zu verstehen.

Schmüsers Arbeit lässt sich den Forschungsfeldern der Dis/Ability History, der Geschichte der Familie und der Care History zuordnen; diese Felder werden in der Einleitung näher erläutert. Gerade im Zeitalter der angestrebten Inklusion und der politischen Agenda zur stärkeren Teilhabe von Menschen mit Behinderungen ordnet sich die Studie in aktuelle Forschungskontexte ein. In Anbetracht dessen, dass Menschen mit Behinderungen selbst in Standardwerken zur DDR-Geschichte meist nicht vorkommen, schließt Schmüser mit ihrem Buch eine gravierende Forschungslücke.1 Auch im Vergleich zu Westdeutschland ist die ostdeutsche Dis/Ability History erst ansatzweise erforscht.2

Anhand von Statistiken, schriftlichen Quellen zum sozialstaatlichen Umgang mit Menschen mit Behinderungen, dem Schriftverkehr zwischen Familien und Behörden oder externen Stellen, dem Archivmaterial aus karitativen Einrichtungen, zudem auch Autobiografien, Eingaben und Interviews gibt Schmüser Einblicke in die Alltagsgeschichte von Familien mit behinderten Kindern. Gerade Eingaben als Beschwerde- und Bittschreiben von Eltern an den Staat bieten ein umfassendes, vielfältiges Quellenmaterial.3 In diesen Dokumenten wurden Problemsituationen teils drastisch geschildert, um einen akuten Handlungsbedarf aufzuzeigen. Die Eingabesteller:innen präsentierten sich hierbei immer als gute, hart arbeitende und politisch aktive Mitglieder der sozialistischen Gesellschaft (S. 39–43). Gerade in der frühen Periode der DDR wurden meist Einzelfalllösungen angestrebt – in Bezug auf die Tagesbetreuung, die Hilfsmittelbereitstellung, die medizinische Versorgung, die Förderung sonderschulischer Bildung, die Pflegegelder, die Mobilitäts- oder Wohnangelegenheiten. Dabei lassen sich keine geschlechterspezifischen Unterschiede feststellen, da beide Elternteile gleichberechtigt Eingaben verfassten (S. 39–43).

Die Monografie ist chronologisch aufgebaut. Im ersten Hauptteil der Arbeit behandelt Schmüser die Anfangsjahre der DDR (1945/49 bis Ende der 1960er-Jahre), im zweiten Hauptteil die 1970er-Jahre bis zur Zäsur 1989/90. Dabei betrachtet sie jeweils verschiedene Bereiche des alltäglichen Lebens von Familien mit behinderten Kindern, zum Beispiel Einrichtungsunterbringung, Schulbildung und Berufsausbildung, Freizeit und Urlaub, elterliche Selbsthilfe.

Zu den wichtigsten Untersuchungspunkten gehören die politisch-gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für Menschen mit Behinderungen und deren Angehörige in der DDR. Ein Beispiel ist die Einteilung in „schulbildungsfähig“, „schulbildungsunfähig, aber förderungsfähig“ und „förderungsunfähig“ (S. 78). Diese Einteilung bestimmte das Leben von Familien mit behinderten Kindern in besonderem Ausmaß, denn wenn die Kinder tagsüber in Einrichtungen untergebracht waren, konnten die Eltern der eigenen Erwerbsarbeit nachgehen. Aufgrund einer regional ungleichen Verteilung der Einrichtungen sowie eines Platz- und Personalmangels in den Institutionen selbst konnte aber nicht jedes Kind mit derartigem Anspruch in einer dieser Einrichtungen untergebracht werden (S. 91, S. 152f., S. 237, S. 256f., S. 437). Das wiederum verschärfte die Betreuungsprobleme der Familien und stellte vor allem die Mütter vor besondere Herausforderungen (S. 248f., S. 251). Die Frau als Mutter und Hausfrau wurde auch in der DDR für die Pflege und Betreuung der Kinder in die Pflicht genommen. Ein behindertes Kind entband die Frau allerdings nicht von ihrer Erwerbspflicht (S. 29). Doch selbst wenn das Kind einen Platz in einer Einrichtung bekam, gab es häufig finanzielle und logistische Hürden für die Familie (S. 100, S. 134f.). Auch ein Umzug in die Nähe der Institution war aufgrund der Wohnraumproblematik oft nicht möglich (S. 170f.).

In der Dissertation wird aus den Quellen das ableistische Narrativ deutlich, dass ein behindertes Kind eine Belastung für die Eltern sei. Meist betonten die Eltern selbst, dass die Pflege und Betreuung des Kindes anstrengend sei und sie immer wieder vor Herausforderungen stelle, insbesondere wenn ein Elternteil wegfiel (S. 96f.). Gerade in den Eingaben wurde immer wieder die Überforderung der Familienmitglieder durch die Kindespflege erläutert – in Bezug auf Vernachlässigung der Geschwister und daraus resultierende Entwicklungsstörungen, Befürchtungen von sexuellen und gewalttätigen Übergriffen, Stress, starke emotionale und psychische Belastungen, Einschränkungen der Lebensqualität, Beziehungsprobleme und Auswirkungen auf die körperliche Gesundheit (S. 104). Hier mag sich die Frage stellen, inwieweit aus argumentationsstrategischen Gründen auch übertrieben wurde, da es um das Ziel einer außerfamiliären Betreuung des behinderten Kindes in einer Einrichtung ging und diese Plätze sehr begrenzt waren. In der Öffentlichkeit verschwiegen beziehungsweise verleugneten Mütter von Kindern mit geistigen Behinderungen ihre Söhne oder Töchter aus Scham und Angst vor Stigmatisierungen (S. 188). Gerade geistig behinderte Menschen erfuhren in der DDR eine Diskriminierung, weil sie in den rechtlichen Bestimmungen immer „vergessen“ wurden.

Ein weiterer interessanter Punkt ist die Rolle der Eltern- und Behindertenverbände. Anders als in Westdeutschland waren selbstorganisierte Verbände für Eltern mit behinderten Kindern verboten. Nach Ansicht der SED wurde für Menschen mit Behinderungen ausreichend gesorgt; das mache eine Interessenvertretung überflüssig (S. 214–217).4 Es gab in der DDR nur zwei Verbände, die beide unter staatlicher Kontrolle standen: der Gehörlosen- und Schwerhörigenverband (GSV) sowie der Deutsche Blinden- und Sehschwachenverband (DBSV) (S. 79f.). Darüber hinaus fanden sich Eltern in konfessionellen Einrichtungen zusammen und tauschten ihre Erfahrungen aus, sammelten Informationen und luden zu Expertengesprächen ein. Diese Versammlungen wurden von konfessionellen Einrichtungen koordiniert und von der SED geduldet (S. 187–192, S. 332f., S. 356–362).

Neben archivalischen Dokumenten hat Schmüser für ihre Dissertation auch Zeitzeugeninterviews mit betroffenen Eltern geführt und ausgewertet (S. 37). Leider wird hier Potential verschenkt, da die Interviews lediglich eine untergeordnete Rolle spielen und nur für wenige episodische Beispiele herangezogen werden. In Anbetracht des Arbeitsaufwandes solcher Interviewprojekte ist dies schade. Es wäre interessant gewesen, zu erfahren, ob die befragten Eltern selbst Eingaben zu bestimmten Themen verfasst hatten und was daraus wurde – auch deshalb, weil man bei den meisten Eingaben nicht nachverfolgen kann, welche Ergebnisse sie hatten. Gern hätte man auch gewusst, ob die befragten Personen in inoffiziellen Elternverbänden tätig waren und wie sie diese Zeit erlebt haben.

Alles in allem ist Pia Schmüsers Monografie gut strukturiert und verschafft den Leser:innen einen Überblick zur Lebenssituation von Familien mit behinderten Kindern in der DDR. Dabei werden zahlreiche neue Fragen aufgeworfen, die weiterer Forschung bedürfen, auch im Vergleich mit anderen staatssozialistischen Systemen oder mit der Bundesrepublik.

Anmerkungen:
1 Als Standardwerke zur DDR-Geschichte, in denen Menschen mit Behinderungen nicht bzw. nur am Rande erwähnt werden, siehe u.a. Hans Günter Hockerts (Hrsg.), Drei Wege deutscher Sozialstaatlichkeit. NS-Diktatur, Bundesrepublik und DDR im Vergleich, München 1998; Dierk Hoffmann / Michael Schwartz (Hrsg.), Sozialstaatlichkeit in der DDR. Sozialpolitische Entwicklungen im Spannungsfeld von Diktatur und Gesellschaft 1945/49–1989, München 2005; Dierk Hoffmann (Hrsg.), Vor dem Mauerbau. Politik und Gesellschaft in der DDR der fünfziger Jahre, München 2003; Gerd Dietrich, Kulturgeschichte der DDR, 3 Bde., Göttingen 2018.
2 Es gibt inzwischen breite zeitgeschichtliche Forschungen im Bereich der Dis/Ability History Deutschlands. Die meisten Arbeiten beschäftigen sich jedoch mit der westdeutschen Geschichte; z.B. Elsbeth Bösl, Politiken der Normalisierung. Zur Geschichte der Behindertenpolitik in der Bundesrepublik Deutschland, Bielefeld 2009; Berthold Budde, 50 Jahre Lebenshilfe. Aufbruch – Entwicklung – Zukunft. 1958–2008, Marburg 2008; Raphael Rössel, Belastete Familien? Eine Alltagsgeschichte westdeutscher Haushalte mit behinderten Kindern (1945–1990), Frankfurt am Main 2022. Für gesamtdeutsche Perspektiven können u.a. folgende Forschungen herangezogen werden: Gabriele Lingelbach / Anne Waldschmidt (Hrsg.), Kontinuitäten, Zäsuren, Brüche? Lebenslagen von Menschen mit Behinderungen in der deutschen Zeitgeschichte, Frankfurt am Main 2016; Cornelius Borck / Gabriele Lingelbach (Hrsg.), Zwischen Beharrung, Kritik und Reform. Psychiatrische Anstalten und Heime für Menschen mit Behinderungen in der deutschen Nachkriegsgeschichte, Frankfurt am Main 2023. Speziell zur DDR siehe Ulrike Winkler, Mit dem Rollstuhl in die Tatra-Bahn. Menschen mit Behinderungen in der DDR: Lebensbedingungen und materielle Barrieren, Halle 2023.
3 Mit der Bedeutung von Eingaben für die Dis/Ability History beschäftigen sich auch Elsbeth Bösl / Gabriele Lingelbach, Humanistischer Anspruch und realsozialistische Wirklichkeit. Eingaben von „Geschädigten“ in der DDR, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 71 (2023), S. 340–359, https://www.histsem.uni-kiel.de/de/das-institut-1/abteilungen/geschichte-des-19-bis-21-jahrhunderts/team/prof.-dr.-gabriele-lingelbach/artikel/boesl_lingelbach_23 (19.04.2024); Pia Schmüser, Bitten und Fordern. Eingaben als Quellen für die Alltagsgeschichte von Menschen mit Behinderungen in der DDR, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 19 (2022), S. 355–366, https://zeithistorische-forschungen.de/2-2022/6056 (19.04.2024).
4 Siehe zu Interessenorganisationen in der DDR: Gerhard Ritter, Thesen zur Sozialpolitik der DDR, in: Hoffmann / Schwartz, Sozialstaatlichkeit in der DDR, S. 11–30, hier S. 26f.; Sebastian Balling, Die audiovisuelle Inszenierung der Gebrechlichkeit. Behinderungen in non-fiktionalen Fernsehsendungen der DDR 1961–1989, in: Rundfunk und Geschichte 47 (2021), Heft 3–4, S. 66–80, hier S. 70–74.