Cover
Titel
Jugend – Gewalt. Erleben – Erörtern – Erinnern


Herausgeber
Baader, Meike Sophia; Kössler, Till; Schumann, Dirk
Reihe
Jugendbewegung und Jugendkulturen – Jahrbuch
Erschienen
Göttingen 2023: V&R unipress
Anzahl Seiten
334 S., 12 Abb.
Preis
€ 40,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Daniel Gerster, Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg

Wer in diesen Tagen Nachrichten liest, kann den Eindruck gewinnen, die Gewalt von und unter Jugendlichen grassiere hierzulande momentan in nicht gekanntem Ausmaß. Vor allem die einschlägigen Boulevardblätter berichten fast täglich von Überfällen, an denen Jugendliche beteiligt sind, von Messerstechereien, lebensgefährlichen Attacken und sogar von Mord. In den meisten Fällen bleibt die Berichterstattung im Ungefähren und gibt sich sensationsheischend, beschreibt die Gewalttaten aber bis ins kleinste Detail und strotzt vor Vorurteilen. Selbstverständlich sind sich informierte Leserinnen und Leser der Logiken bewusst, die in der heutigen Mediengesellschaft hinter einer solchen Berichterstattung stehen. Sie würden sich wohl dennoch öfter eine stärkere Differenzierung und vielleicht auch eine historische Einordnung wünschen. Wer nach beidem sucht, findet Antworten in der aktuellen Ausgabe des Jahrbuchs „Jugendbewegung und Jugendkulturen“.

Der Band geht auf die Jahrestagung des Archivs der deutschen Jugendbewegung von 2022 zurück. Die Autorinnen und Autoren untersuchen „Gewalt, die entweder von Jugendlichen ausgeübt oder von Erwachsenen etwa in Schulen und Fürsorgeheimen diesen zugefügt wurde“ (S. 11), wie die Herausgeberinnen und Herausgeber Meike Sophia Baader, Till Kössler und Dirk Schumann in ihren einführenden Überlegungen formulieren. Das Interesse richtet sich allgemein auf „verschiedene Gewaltentwürfe und Gewaltformen in ihren jeweiligen situativen und argumentativen Kontexten“ (ebd.) sowie besonders darauf, wie diese diskursiv und praktisch aufeinander bezogen waren. Der Band fasst das Thema „Jugend-Gewalt“ damit viel breiter, als es die Fotomontage auf dem Cover, die uniformierte Jugendliche aus dem Jahr 1932 zeigt, zunächst erwarten lässt. Der zeitliche Fokus der Beiträge liegt insgesamt auf dem 20. Jahrhundert, der geografische Schwerpunkt auf Deutschland, wobei Mischa Honeck sowie Giorgio del Vecchio und Christian Jansen in ihren Beiträgen über die Philippinen und Italien den Blick exemplarisch weiten. Das Jahrbuch wird abgerundet durch drei Aufsätze, drei kurze „Werkstatt“-Beiträge und acht Rezensionen außerhalb des Thementeils, auf die ich hier nicht weiter eingehe.

Dass der Diskussion des Gewaltbegriffs in den Hauptbeiträgen eine zentrale Bedeutung zukommt, darauf verweisen die Herausgeberin und die beiden Herausgeber bereits in ihrer Einführung. Sie referieren knapp den Stand der aktuellen Gewaltforschung, wobei sie vor allem auf soziologische Arbeiten Bezug nehmen, und legen dar, wie deren Erkenntnisse auf den Zusammenhang von Jugend und Gewalt bezogen werden können. Sie plädieren dafür, physische Gewalt als „Kernbestandteil“ (S. 14) anzusehen, anderen Formen von Gewalt aber zugleich ein „größeres Gewicht als bei Erwachsenen“ (S. 15) einzuräumen. Diesem Ansatz folgen nicht alle Beiträge des Bandes. Katharina Lenski greift zum Beispiel in ihrer Fallstudie das Konzept der strukturellen Gewalt des erst kürzlich verstorbenen Johan Galtung auf. Mit seiner Hilfe zeigt sie, wie die Kategorisierung eines Jugendlichen durch die DDR-Behörden als „deviant“ mit offenen und verdeckten Formen der Gewaltanwendung und -erfahrung verbunden war. Auch Christian Sachse bezieht sich auf Galtungs Überlegungen, wenn er sich von einer Makroperspektive aus mit Gewaltformen und -praktiken in der sozialistischen Gesellschaft der DDR befasst. Im Unterschied zu Lenski, die das Gewalthafte der DDR-Bürokratie betont, arbeitet Sachse die starke Militarisierung des jugendlichen Alltags heraus.

Besonders lesenswert zur Diskussion um den Gewaltbegriff ist der Beitrag von Meike Sophia Baader, die sich aus wissens- und wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive dem Thema nähert. Ihr gelingt ein äußerst kenntnisreicher Durchgang durch die Gewaltkonzepte des 20. Jahrhunderts, ausgehend von den Arbeiten des französischen Sozialphilosophen Georges Sorel bis zu aktuellen Debatten über symbolische, verbale und sexualisierte Gewalt. Wenn Baader schließlich in ihrem Fazit formuliert, dass der „Körper [...] weiterhin eine zentrale Dimension der Gewalterfahrung“ bleibe (S. 45), eröffnet sie dadurch in gewisser Weise einen Ausweg aus der alten Diskussion um das Verhältnis von physischer und nicht-physischer Gewalt, indem sie in Anlehnung an den body turn unterstreicht, dass letztlich jede Form der Gewalt körperlich erfahren wird.

Gesellschaftliche Debatten um eine (vermeintlich) gesteigerte Gewalttätigkeit vor allem von männlichen Jugendlichen, wie sie heutzutage geführt werden, sind keineswegs neu. Seit der „Entdeckung der Jugend“ im ausgehenden 19. Jahrhundert kehren sie in regelmäßigen Abständen wieder. Um das jugendliche Gewaltpotential einzuhegen, war die Ansicht, es bedürfe einer „erzieherischen“ Gewaltanwendung, bis weit in das 20. Jahrhundert hinein sehr verbreitet. Das veranschaulicht Sarina Hoff, indem sie die Debatten untersucht, die in der Weimarer Republik und der frühen Bundesrepublik über körperliche Schulstrafen geführt wurden.1 Sie arbeitet für die 1950er-Jahre deutliche Kontinuitäten heraus und erklärt am Ende perspektivisch den späteren Einstellungswandel anhand der sich intensivierenden Beschäftigung mit den nationalsozialistischen Gewaltverbrechen sowie einem veränderten Autoritätsverständnis.

Gewalt in der Erziehung richtete sich keineswegs nur gegen das jugendliche Gewaltpotential an sich. Sie diente in ihren verschiedenen Formen auch immer dazu, als deviant erachtetes Verhalten zu regulieren. Dies zeigt Hoffs Beitrag über die Körperstrafen ebenso wie Lenskis Aufsatz zur Gewalterfahrung eines Jugendlichen durch das Handeln von DDR-Behörden. Ihre Fallstudie unterstreicht zugleich die zentrale Bedeutung, die in diesem Zusammenhang sogenannten Fürsorgeeinrichtungen zukam. Sie wurden im 20. Jahrhundert in allen politischen und gesellschaftlichen Systemen lange als ein geeignetes Instrument angesehen, um „schwierige“ Jugendliche zu erziehen. Und sie waren, wie unter anderem die Forschung zur Heimerziehung in der Bundesrepublik herausgearbeitet hat, gleichzeitig immer Orte der Gewalt. Dies verdeutlicht auch Petra Josting in ihrem Beitrag, in dem sie sich mit den Erfahrungen männlicher Jugendlicher in der Berliner Landeserziehungsanstalt Struveshof Ende der 1920er-Jahre sowie mit deren literarischer und medialer Verarbeitung auseinandersetzt. Gewaltpotential entfaltete in diesen Fällen das Machtgefälle zwischen den Jugendlichen und dem erwachsenen Erziehungspersonal. Hinzu kam die Gewalt der Peer-Gemeinschaft. Die Dynamiken dieser inmate culture (Erving Goffman) stärker in den Blick zu nehmen bleibt eine zentrale Aufgabe künftiger Forschung.

In den öffentlichen Debatten um die Gewalterfahrungen von Kindern und Jugendlichen stand in den letzten Jahren besonders die sexualisierte Gewalt im Mittelpunkt. Die Diskussionen drehen sich bisher überwiegend um die genannten Fürsorgeeinrichtungen, um Internate und kirchliche Institutionen, während Gewaltpraktiken in Familien und im sozialen Nahbereich weiterhin meist tabuisiert werden. Das hat nicht nur damit zu tun, dass dem Missbrauch dort – gerade in historischer Perspektive – nur schwer beizukommen ist, weil er nicht ausreichend dokumentiert wurde und wird. Es hängt auch mit gesellschaftlichen Aufmerksamkeitsökonomien zusammen, deren Wandel im frühen 20. Jahrhundert Jens Elberfeld in seinem theoretisch wie methodisch fundierten Aufsatz nachgeht. Indem er hegemoniale Diskurse um sexualisierte Gewalt im Strafrecht und in Schulen ebenso wie Gegenpositionen in der Frauenbewegung und in der Psychoanalyse untersucht, kann er zeigen, dass das Thema damals anders verhandelt wurde als heute. Gewalt wurde enger gefasst und eine Handlung in erster Linie dann moralisch und juristisch verurteilt, wenn sie als Verstoß gegen die gesellschaftliche „Sittlichkeit“ wahrgenommen wurde. Das führte nicht selten zu einer Opfer-Täter-Umkehr, die es in der Retrospektive kritisch zu reflektieren gilt.

Überhaupt erfordert das Thema „Jugend-Gewalt“, die Perspektiven von Jugendlichen und jungen Erwachsenen stärker zu berücksichtigen. Darauf deutet auch der Untertitel des vorliegenden Bandes mit den Schlagworten „Erleben – Erörtern – Erinnern“ hin. Leider kommt die Frage nach der jugendlichen Agency in vielen Beiträgen zu kurz. Sie wird zwar bisweilen gestreift, besonders wenn es darum geht, den Einfluss von biografischen und sozialisatorischen Erfahrungen auf das eigene Gewalthandeln und die eigene Gewalterfahrung zu erklären. Die Bedeutung und die Herausforderungen, die mit dem Perspektivwechsel einhergehen, werden aber kaum ausführlich diskutiert. Eine Ausnahme bildet in diesem Zusammenhang der Beitrag von Lieven Wölk über „Wehrhaftigkeit und Gewaltbereitschaft im deutsch-jüdischen Jugendbund Schwarzes Fähnlein“. Der Autor setzt sich anhand von Ego-Dokumenten auch mit der „jugendbewegte[n] Selbstimagination sowie den Erlebnis- und Erfahrungsräume[n] deutsch-jüdischer Jugendlicher“ (S. 90) auseinander.

Das genannte Monitum sei nicht als grundlegende Kritik an dem Band und seinen Beiträgen verstanden. Es stellt vielmehr eine Aufforderung dar, sich auch in Zukunft intensiv mit der zugrundeliegenden Frage auseinanderzusetzen und den vielfachen Bezügen von Gewalt und Jugend in der Geschichte nachzugehen. Eingehender in den Blick zu nehmen wäre in diesem Kontext etwa die Bedeutung von Geschlecht, aber auch die Frage, wie Gewaltdiskurse und -praktiken von und an Jugendlichen im transnationalen Raum zirkulierten. Der Band kann diesbezüglich nur erste Hinweise geben. Es bleibt zu wünschen, dass seine Überlegungen vielfach rezipiert und weiterentwickelt werden.

Anmerkung:
1 Siehe auch Sarina Hoff, Der lange Abschied von der Prügelstrafe. Körperliche Schulstrafen im Wertewandel 1870–1980, Berlin 2023; rezensiert von Jens Gründler, in: H-Soz-Kult, 28.02.2024, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-28879 (15.04.2024).