N. Plotnikov (Hrsg.): Pered licom katastrofy [Im Angesicht der Katastrophe]

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Titel
Pered licom katastrofy [Im Angesicht der Katastrophe]. Sbornik statej pod redakciej i s predisloviem Nikolaja Plotnikova [Sammelband unter der Herausgeberschaft und mit einer Einleitung von N. Plotnikov]


Herausgeber
Plotnikov, Nikolaj
Reihe
Philosophie. Forschung und Wissenschaft
Erschienen
Münster 2023: LIT Verlag
Anzahl Seiten
173 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Konstantin Kotelnikov, Universität Bielefeld

Kurz nach dem Einmarsch von Putins Armee in die Ukraine kontaktierte der Bochumer Philosoph Nikolaj Plotnikov russischsprachige Intellektuelle, um sich in der Tradition der russischen Intelligenzija in einer „kollektiven Äußerung“ mit dem Krieg auseinanderzusetzen. Das Ergebnis ist der in der zweiten Jahreshälfte 2022 erschienene Sammelband mit dem ins Deutsche übersetzten Titel "Im Angesicht der Katastrophe".

Die „kollektive Äußerung“ begann als Kommunikationspraxis um 1900 vor dem Hintergrund großer historischer Umwälzungen und Brüche. Nach der Russischen Revolution von 1905 erschien der Sammelband "Wechi" ("Wegzeichen"), nach der Revolution 1917 der Sammelband "Iz glubiny" ("Aus der Tiefe"). (S. 6) Die Autoren des Bandes erfassen nun einen weiteren großen Umbruch und versuchen, seine Grenzen zu finden. Sie analysieren ethische und anthropologische Aspekte der Katastrophe vom 24. Februar 2022, suchen nach ihren Ursprüngen und möglichen Auswegen. Plotnikov setzt sich zum Ziel: „[…] in diesem Chaos der Ereignisse einen Zusammenhang zu finden und die Konturen der geschehenen Katastrophe zu erkennen. Wie ist sie möglich geworden? Wer sind die Beteiligten? Welche Folgen wird sie haben? Und am Wichtigsten: Was für eine Katastrophe ist es? Wie sollte man sie benennen?“ (S. 5).

Die Autoren entwickeln oder kritisieren Ideen, die an sich nicht neu sind, aber nach dem 24. Februar eine neue Betrachtung in Hinblick auf Russland bedürfen. Das betrifft auch das Leitmotiv des ersten Teils – die Frage der kollektiven Schuld und Verantwortung. So bezieht sich der Philosoph Oleg Aronson in seinem Essay "Scham als gemeinsames Gefühl" auf Karl Jaspers und Hannah Arendt, mit der Diagnose, dass die Scham, die viele Russen im Februar 2022 für die Handlungen des Putin-Regimes ergriff, eine Scham für das Fehlen eines kollektiv-solidarisch-politischen Handelns sei und eine Form kollektiver Verantwortung (S. 17).

Der Publizist Andrei Archangelskij erörtert die Schuldfrage auf einer beinahe praktischen Ebene: „Was haben wir nicht getan, um die Katastrophe zu verhindern?“ (S. 20). Seine Antwort lautet, dass die russische Gesellschaft das sowjetische Trauma nicht aufgearbeitet, das Böse in sich selbst nicht erkennen gelernt und einen "Moralkollaps" zugelassen habe, der das Entstehen einer politischen Partizipationskultur unmöglich gemacht hat. Der Beitrag von Archangelski demonstriert, dass sich die Sorge um die Erziehung eines apolitischen Bürgers, die in Russland lange vor 2022 geäußert worden war, letztendlich als komplett begründet erwiesen hat. Eine Nachkriegsgesellschaft könnte von der Ethik geleitet werden, dieses apolitische Verhalten zu überwinden.

Der Essay des Literaturwissenschaftlers Sergej Zenkin argumentiert ähnlich. Zenkin sieht es als Pflicht der Bürger – auch derer, die sich als „Geiseln des Regimes“ wiederfinden – sich im moralischen und kulturellen Widerstand zu engagieren. Als konkretes Beispiel ruft er auf, gegen den putinistischen Neusprech zu kämpfen und „in Erinnerung zu rufen, dass die Nation […] moralische Verpflichtungen hat" (S. 31).

Die Beiträge von Aronson, Archangelskij, Zenkin und anderen verknüpfen die Vergangenheit mit der Gegenwart und Zukunft. Die Benennung begangener Fehler dient gleichzeitig der Suche nach einem Weg, die Zukunft zu gestalten. Dieser Ansatz kennzeichnet ein weiteres Motiv des vorliegenden Bandes – die Reue und Aufarbeitung im kollektiven Gedächtnis und der Kultur als notwendige Voraussetzung für Russlands Rückkehr in die zivilisierte Welt.

Plotnikov plädiert deswegen für eine Kritik an dem Mythos nationaler Überlegenheit „die zu einer diskursiven Rechtfertigung der russländischen militärischen Aggression geworden sei“ (S. 5). Die Überlegungen des Soziologen Alexander Bikbov, der sich gegen das Narrativ wendet, Russland sei zu einer „ewigen“ Autokratie verdammt, verdienen ebenso große Aufmerksamkeit. Die mythenartige Zukunft wäre in diesem Konstrukt dazu verdammt, die Vergangenheit zu wiederholen und würde dadurch „unausweichlich und unausweichlich düster“ erscheinen (S. 63). Bikbov schlägt vor, den Fokus nicht nur auf den Autoritarismus zu legen, sondern stattdessen antikoloniale Ideen zu fördern und kultivieren, um damit eine Aufarbeitung des Traumas des 24. Februar zu ermöglichen (S. 71).

Andere Autoren des Bandes legen hingegen eine Reihe origineller Begriffe zur Beschreibung des Krieges vor. So charakterisiert der Philosoph Anatoly Akhutin, ein Russe aus Kiew, den Krieg als „nihilistisch“, das heißt er berge in sich keine sinnstiftende Idee, sondern überdecke seine Leere mit der Mythologie des 20. Jahrhunderts und lasse die Zerstörung der Welt zu (S. 126). Die Kulturhistoriker Maria Mayofis und Ilya Kukulin schlagen den Begriff der „Empression“ für Putins Propagandadiskurs vor, da es sich hierbei um eine typische Aggression handle, die durch ihren Appell an die Empathie der Rezipienten wirke (S. 35–46). Ob dieses Merkmal, das auch in anderen Diktaturen zu finden ist, tatsächlich als eigenständige Zeitdiagnose herausgestellt werden sollte, bleibt eine offene Frage, aber der Versuch, neue Definitionen zur Analyse der Eigenschaften von Putins Regime zu bieten, ist eines der größten Verdienste dieses Sammelbandes.

Zugleich ist „Im Angesicht der Katastrophe“ nicht gänzlich frei von Mängeln, die hauptsächlich mit dem Zeitpunkt seines Erscheinens zusammenhängen, sodass die Autoren selbst betroffen und dadurch emotional sind. Sie befinden sich meist noch im Schockzustand. Einige legen dies unmittelbar offen, wie Andrej Archangelskij: „Der Verstand versucht, die Katastrophe zu begreifen – aber das Gemetzel selbst widerspricht dem Begriff des Sinns, und die Emotionen nehmen überhand.“ (S. 19) Aus diesem Grund balanciert der Sammelband oft an der Grenze zwischen Publizistik und Wissenschaft. So finden sich darin zum Beispiel die emotionalen Tagebücher von Anatoly Akhutin, die essayistischen Gedanken des Philosophen Michail Maiatsky zu seinen persönlichen Erfahrungen und Beobachtungen, aber auch eine akademische und komplexe Analyse des Historikers Alexander Dmitriev über die Idee der historischen Kontinuität und der historischen Politik in Russland.

Umso mehr sollte man aber den intellektuellen Mut der Autoren würdigen. Selbst unter diesen Umständen ist es ihnen gelungen, Wege zu skizzieren, um, wie Archangelskij es ausdrückt, „das Undenkbare zu begreifen“. Es ist ihnen gelungen, auf die zweifellos wichtigsten Punkte der Ursprünge und der Bedeutung der sich entfaltenden Tragödie hinzuweisen: Die Mythen des Imperiums und der Nation, die unpolitische politische Kultur, die psychologischen Merkmale der Wahrnehmung des Krieges, sei es Verleugnung oder Scham, und andere.

Ein weiterer Mangel, der jedem Versuch inhärent ist, Beobachtungen von bedeutenden Prozessen und Ereignissen zu beschreiben, sind die Verallgemeinerungen und Annahmen, auf die man dabei zurückgreifen muss. Wenn Autoren wie Dmitriev oder Plotnikov in der Einleitung auf den diskursiven Hintergrund der Militäraggression des russischen Staates verweisen, sprechen sie von Ressentiment, Überlegenheitsgefühl und expansionistischen Ambitionen der politischen Elite Putins. Das vermag nicht ausreichend begründet erscheinen, da dies der Putin‘schen Elite a priori Aufrichtigkeit und Geschlossenheit zuspricht, während diese in der Vergangenheit sowohl ein breites Spektrum an Motiven (für die ganz unterschiedliche Diskurse zynisch instrumentalisiert wurden) als auch verschiedene Reaktionen auf den Einfall in die Ukraine gezeigt hat. Viele höherrangige Beamte erlebten im Februar 2024 den gleichen Schock wie Vertreter des sogenannten „liberalen" Flügels, einschließlich regierungskritischer Intellektueller.1

Ebenso umstritten ist Plotnikovs Beschreibung des russländischen Imperialismus als tyrannisches Modell, das der Konkurrenz des globalen Kapitalismus nicht standhalten konnte und zur Praxis der Eroberung von Kolonien und deren Ausbeutung zurückkehrt (S. 8). Diese These setzt eine wirtschaftliche Zielsetzung voraus, für die sich bisher wenig überzeugende Beweise gefunden haben.

In den Beiträgen unbeachtet bleiben auch die realen sozioökonomischen Verhältnisse, wie zum Beispiel die Middle-Income Trap, Korruption, der Generationswechsel (die jüngere Generation ist viel weniger anfällig für Ressentiment und Autokratie), die Interaktion zwischen der Zivilgesellschaft und dem Regime nach 2011 (der Einmarsch in die Ukraine war eventuell eine Reaktion auf die steigende Anti-Putin-Stimmung in Russland), die Bedeutung des außenpolitischen Kontextes (Angst der Putin-Elite vor dem Verlust des politischen und wirtschaftlichen Einflusses im postsowjetischen Raum) usw. Diese Themen wären wichtig gewesen, denn ohne sie kann die zentrale Frage des Bandes, wie diese Katastrophe möglich wurde, nicht beantwortet werden.

Der Sammelband stellt mehr Fragen, als dass er Antworten formuliert. Dennoch leistet er viel und ist sowohl für Geisteswissenschaftler als auch für das breite (leider vorerst nur russischsprachige) Publikum von Interesse. Er bildet eine Momentaufnahme der Reaktion und Reflektion russischsprachiger Intellektueller und ist zugleich ein Beitrag zur Analyse des Krieges. Dieser Band lässt die Stimme eines anderen Russlands erklingen, das versucht, hinter dem Grölen der Waffen zu erzählen, was vor dem 24. Februar 2022 geschah und noch heute geschieht – eine Schlacht, die seit langem mit anderen Mitteln in Russland selbst geführt wird und die bisher nicht verloren ist.

Anmerkung:
1 Farida Rustamova, Ein langgezogenes “F*ck”! Russlands Eliten und der Krieg, Teil I //, in: Osteuropa. 2022, Heft 1–3, S. 227–234.