Cover
Titel
The Project-State and Its Rivals. A New History of the Twentieth and Twenty-First Centuries


Autor(en)
Maier, Charles S.
Erschienen
Anzahl Seiten
XIII, 510 S.
Preis
$ 45.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Anselm Doering-Manteuffel, Seminar für Zeitgeschichte, Eberhard Karls Universität Tübingen

Mit diesem Werk setzt Charles Maier die Reihe seiner Studien zur Geschichte der Moderne fort.1 Das Buch bildet die Quintessenz seiner wissenschaftlichen Arbeit seit den programmatischen Aufsätzen „Politics of Productivity“ (1977) und „Consigning the Twentieth Century to History“ (2000).2 In den Monographien der letzten Jahre hatte ihn die Frage der „Territorialität“ bewegt – das Problem, wo in der Moderne der nationale Staat seine Grenze(n) hat und wo diese Grenzen marginalisiert werden. Das neue Werk stellt sich der Herausforderung, den Wandel vom gestaltenden Staat der Jahrzehnte zwischen 1920 und 1970 zum bloß noch verwaltenden Staat der 1970er- und frühen 1980er-Jahre zu erklären und den wachsenden Einfluss nichtstaatlicher Akteure dazu in Beziehung zu setzen. Maiers „neue Geschichte“ des 20. und frühen 21. Jahrhunderts verzichtet auf die Ereignisgeschichte und berichtet vom historischen Geschehen aus dem Blickwinkel der übergeordneten staatlichen und wirtschaftlichen Probleme.

Die analytischen Kategorien sind der im Titel prominent platzierte project-state und das damit verknüpfte resource empire, sodann governance und das web of capital. Mit diesen Kategorien entfernt sich die Darstellung vom gewohnten Geschichtsbild und zeichnet die Entwicklung widerstreitender politisch-ökonomischer Kräfte nach. Daraus ist ein fulminantes Werk entstanden, das die historischen Bedingungen der Gegenwart scharfsinnig erklärt.

Den project-state versteht Maier als territorial definierten, nationalen Staat mit der Kraft und dem Anspruch, die Zukunft zu gestalten und den Lauf der Geschichte zu steuern. Project-states konnten autoritär und diktatorisch sein, ebenso liberal und demokratisch. Ihre Absicht bestand darin, Gesellschaften und öffentliche Institutionen umzubauen, wo sie als erschöpft, veraltet und nicht mehr funktionsfähig eingeschätzt wurden. Der project-state suchte die Bevölkerung des eigenen Landes für die gesetzten Ziele zu aktivieren und mit dem proklamierten „Projekt“ der Erneuerung eine historische Mission zu erfüllen. Faschismus, Nationalsozialismus, Stalinismus und New Deal gehörten in dieselbe Zeit und verfolgten Ziele, die trotz der moralischen Unvereinbarkeit und der gegeneinander gerichteten Politik auch verwandte Merkmale aufwiesen.3Project-states gingen zumeist aus Krisen hervor, aus Krieg und Revolution. Sie entstanden nach dem Ersten Weltkrieg, nach der Weltwirtschaftskrise und auch nach dem Zweiten Weltkrieg. Ihre gestaltende Kraft verloren sie nach 1970; seit der Corona-Pandemie und dem russischen Krieg gegen die Ukraine schwingt das Pendel zurück.

Resource empire ist der Begriff für die territorial definierte Form imperialer Herrschaft, die sich zunächst auf die Kolonialreiche vor dem Ersten Weltkrieg richtete, aus denen die Vormächte materiellen Nutzen zogen. Später wurden die Kolonien in Mandatsgebiete des Völkerbunds umgewandelt oder im britischen Commonwealth of Nations zusammengefasst. Aber die politische und wirtschaftliche Gleichbehandlung blieb ihnen weiterhin vorenthalten. Dies setzte sich auch in dem Vierteljahrhundert der Dekolonisierung von 1945 bis 1970 fort. Die Benachteiligung wegen der Hautfarbe und der Eigenart indigener Kulturen blieb bestehen, Rohstoffe und Produkte der Plantagenwirtschaft wurden weiterhin ausgebeutet. Als Akteure traten Unternehmen aus den Ländern der ehemaligen Kolonialmächte in Erscheinung, die sich als global tätige Kapitalgesellschaften vom Einfluss des Staats befreit oder sich der Zuarbeit des Staats versichert hatten. Ihre ökonomische Macht brachten sie quasi-autonom zur Geltung.

Nichtstaatliche Gesellschaften in Gestalt transnationaler Interessenverbände, Wirtschaftskonsortien oder als Netzwerke des Kapitals ließen Akteure entstehen, die Maier mit den Begriffen governance und web of capital versieht. Governance bezeichnet die Aktionsweisen von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und anderen zwischenstaatlichen Interessenverbänden seit etwa 1980. Diese nahmen sich Aufgabenfelder außerhalb der staatlichen Zuständigkeit vor oder betätigten sich in Bereichen, die ihnen aus humanitären, ökonomischen oder ökologischen Gründen wichtig erschienen, von der staatlichen Politik aber übergangen wurden. Die Akteure dieses Typs von „Amnesty International“ über „Greenpeace“ bis zur Weltbank (um nur wenige zu nennen) beanspruchten normative Kompetenz aus ethischen oder materiellen Motiven, die sie dann als Forderungen an die Staaten herantrugen. Das web of capital dient als Begriff für die ausufernde Macht des Kapitalmarkts und die Finanzialisierung des internationalen Kräftefelds. Staaten und Regierungen wurden zu Agenten von Kapitalinteressen. In den Jahren von 1990/95 bis 2008 schien die Globalisierung mittels kapitalistischer Vernetzung fernab von staatlicher Steuerung zur neuen Norm geworden zu sein.

Maiers Darstellung ist von dem Interesse geleitet, einerseits die Abfolge der politökonomischen Phänomene sichtbar zu machen und andererseits den historischen Sinn dieser Abfolge unter dem Gesichtspunkt von Nutzen und Kosten zu analysieren – von der Dominanz des project-state bis zur Marginalisierung von Staatlichkeit durch Agenturen der governance und des Kapitalmarkts. Den project-state betrachtet der Autor als einen Phänotypus sui generis und schreibt ihm ein eigenes historisches Recht zu. Dieses war den spezifischen Ausprägungen staatlicher Herrschaft vorgelagert – den autoritären, diktatorischen oder totalitären Formen der Unterdrückung, Entrechtung und Verfolgung bis hin zum Genozid einerseits und den liberalen, demokratischen Formen des amerikanischen New Deal und der skandinavischen Sozialdemokratie sowie der westlichen Nachkriegsordnung seit dem Marshallplan andererseits. Dieser Zugriff ist sinnvoll, weil er die Ähnlichkeiten des staatlichen Gestaltungswillens in den Krisen vom Ende des Ersten Weltkriegs über den Kollaps der Weltwirtschaft 1930 bis nach dem Zweiten Weltkrieg sichtbar machen kann, ohne die Unvereinbarkeit der westlichen Wertmaßstäbe mit dem Staatsterrorismus des Nationalsozialismus und Stalinismus zu ignorieren. Die gestalterischen Ziele, die „Projekte“ des project-state, stehen im Mittelpunkt. Sie galten nach dem Ersten Weltkrieg der Festigung der Gesellschaften bis hin zur Erschaffung eines „Neuen Menschen“ und einer dauerhaft wirksamen politisch-ökonomischen Optimierung des Gemeinwesens. Nach dem Zweiten Weltkrieg galten sie dem Aufbau einer Ordnung, die den Vorstellungen der Siegerstaaten entsprach.

Maier achtet primär auf die Entwicklungen in den Vereinigten Staaten und Europa, doch richtet er das Augenmerk auch auf Japan, China und Lateinamerika, auf Indien, den Nahen und Mittleren Osten sowie die Länder des afrikanischen Kontinents. Die verflochtenen Beziehungen zwischen den imperialen Mächten und den kolonialen Territorien vor und während der Dekolonisierung werden parallel zur Problematik des project-state verfolgt. Der schrittweise Rückzug der staatlichen Hegemonialmächte und das Vordringen nichtstaatlicher internationaler Organisationen wird als ein lang anhaltendes, bisweilen nur schwer durchschaubares Geschehen beschrieben.

Für die Zeit ab den 1980er-Jahren bietet das Buch eine Darstellung auf zwei Erkenntnisebenen. Die Handlungsebene breitet Fakten der zunehmend von governance und web of capital beherrschten Entwicklung bis zur Gegenwart aus. Stichworte der Zeit waren „Globalisierung“ und „Neoliberalismus“, nach 1990 ergänzt durch Thesen wie diejenigen von Francis Fukuyama („The End of History“) und Samuel Huntington („The Clash of Civilizations“). Maier arbeitet den Wandel vom staatlichen zum wirtschaftlichen und finanzmarktlichen Gestaltungsanspruch deutlich heraus. Die gesellschaftlichen Rückwirkungen in Asien, Nord- und Südamerika, Europa, Mittelost und Afrika werden sichtbar gemacht – und damit auch der enorme Preis, den die Vermarktlichung der Staatenwelt und das Ordnungsmuster der Finanzialisierung erforderten.

Erläutert wird dies auf der zweiten, der Strukturebene. Maiers These besagt, dass bis zu den Ölpreiskrisen 1973 und 1979 die westlichen Staaten und Gesellschaften der Nachkriegszeit in eine Phase der Sättigung geraten waren, die zur Handlungsblockade führte. Der gestaltende Staat wurde vom verwaltenden Staat abgelöst, und dieser kam unter dem Druck von Inflation und Arbeitslosigkeit zum Stillstand. Die Dynamik der Erneuerung, die bis in die 1970er-Jahre vom project-state ausgegangen war, ging in die Hände der Wirtschaft und der Banken über. Think Tanks, NGOs und Experten ökonomischer Disziplinen berieten die Regierungen. Höchst anschaulich wird der Wandel der sozialdemokratischen Parteien in Europa und der Demokratischen Partei in den USA beschrieben, der von einer Orientierung auf die Arbeiterschaft und die benachteiligten Schichten der Bevölkerung im Verlauf der Deindustrialisierung zu einer Fixierung primär auf ökonomische Effizienz geführt hat. Der Vorrang des Markts und der wirtschaftlichen Effizienz erlaubte, ja erzwang die sozialkulturelle „Entsorgung“ von Menschen, wenn sie auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr gebraucht wurden. Darüber büßten die sozialdemokratischen Parteien ihre Identität ein. Ebenso vollzogen die konservativen und liberalen Parteien die politisch-programmatische Vermarktlichung mit, sodass das Parteiensystem in den parlamentarisch-demokratischen Staaten insgesamt erodierte. Maier spiegelt das Aufkommen des Populismus an dieser Entwicklung: Wo Parteien keine politischen Anliegen mehr repräsentieren, verlieren sie die Bedeutung für ihre Wählerschaft. In dem programmatischen Vakuum des erodierenden Parteiensystems breitet sich der Populismus aus. Autoritäre Führungspersönlichkeiten tauchen auf und bedienen propagandistisch die Erwartungen und Ansprüche der Bevölkerung. Populismus und der Substanzverlust der Parteien unter dem Einfluss globalisierter Marktideologie und digitaler Kapitalvernetzung gehören zusammen.

Der project-state in der westlichen Hemisphäre bildete seit dem Marshallplan den politischen und verfassungsrechtlichen Rahmen für die parlamentarisch-demokratische Ordnung. Die Erosion des project-state führte zur Überlagerung der Staatlichkeit durch Marktlichkeit. In der gegenwärtigen Debatte über „die Demokratie“ formuliert dieses Buch eine ebenso einfache wie provokante These: Ohne handlungs- und zielorientierte Staatlichkeit kann die parlamentarische Demokratie nicht funktionieren, denn die Zielorientierung des Staats wird getragen von der Gestaltungskraft politischer Parteien. Wo diese fehlt, breitet sich der Populismus aus. Charles Maier hat nicht nur eine „neue Geschichte“ des 20. und 21. Jahrhunderts geschrieben, sondern das schlechthin herausragende Werk auf diesem Feld vorgelegt.

Anmerkungen:
1 Siehe zuvor Charles S. Maier, Leviathan 2.0. Inventing Modern Statehood, Cambridge, Mass. 2012; ders., Once Within Borders. Territories of Power, Wealth, and Belonging since 1500, Cambridge, Mass. 2016.
2 Charles S. Maier, The Politics of Productivity. Foundations of American International Economic Policy after World War II, in: International Organization 31 (1977), S. 607–633; ders., Consigning the Twentieth Century to History. Alternative Narratives for the Modern Era, in: American Historical Review 105 (2000), S. 807–831, http://nrs.harvard.edu/urn-3:HUL.InstRepos:3206819 (27.03.2024).
3 Maier verweist mit Recht auf die Studie von Wolfgang Schivelbusch, Entfernte Verwandtschaft. Faschismus, Nationalsozialismus, New Deal 1933–1939, München 2005.