M. Bähr: Konfessionelle Mehrdimensionalität in der Frühen Neuzeit

Cover
Titel
Konfessionelle Mehrdimensionalität in der Frühen Neuzeit. Irland um 1600


Autor(en)
Bähr, Matthias
Reihe
Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London
Erschienen
Anzahl Seiten
VI, 318 S., 8 SW-Abb., 2 farb. Abb., 5 SW-Tab.
Preis
€ 59,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Francisca Loetz, Historisches Seminar, Universität Zürich

Die Reformatoren der Frühen Neuzeit erhoben den Anspruch, theologisch re-formieren beziehungsweise umgestalten zu wollen. Auch Matthias Bähr möchte mit der 2019 angenommenen, im Druck überarbeiteten und gekürzten Fassung seiner Dresdner Habilitation re-formieren. Er will hierfür das Konfliktnarrativ über die religiösen Verhältnisse Irlands um 1600 als einen Gegensatz einander feindlich gesinnter Konfessionen überwinden. Statt Konfessionalität als eine Geschichte scharfer Antagonismen zu erzählen, verfolgt Bähr das Ziel, sie mittels eines kulturhistorischen Zugriffs in ihrer Mehrdimensionalität „im Spannungsfeld potenziell konkurrierender Normen“ zu begreifen und in ihrer Multinormativität und Intersektionalität zu erfassen. Daher untersucht er, welche „Strategien des Umgangs mit normativen Gegensätzen […] sich identifizieren [lassen] und inwiefern […] ein solcher aktiver Umgang mit Ambiguität überhaupt notwendig“ gewesen sei (S. 12f.). Damit ist die Frage „nach der Konfliktprophylaxe der Akteure, nach Modi des produktiven Umgangs mit Normenkonkurrenzen sowie nach Praktiken, die auf eine aktive Harmonisierung normativer Widersprüche abzielten“ (S. 13), der Dreh- und Angelpunkt der Argumentation. Bähr pointiert: „Anstatt nach statischen Strukturkategorien, ist daher nach Praktiken der konfessionellen Differenzierung zu fragen.“ (S. 16)

Die einführend formulierte Zielsetzung lässt die konzeptionellen Inspirationen Bährs klar erkennen. Er greift auf die Diskussionen von Hillard von Thiessen und Thomas Bauer über die Konzepte der Ambiguität und Normenkonkurrenz zurück. In der einführenden und überzeugenden begrifflichen Auseinandersetzung mit dem weiteren Konzept der Intersektionalität tauchen die einschlägigen Namen auf und lassen sich die Dresdner Diskussionsrunden mit Gerd Schwerhoff erahnen.

In seiner kulturgeschichtlichen Herangehensweise entscheidet sich Bähr konsequent gegen eine klassische theologie-, kirchen-, politik- oder ereignisgeschichtliche Darstellung. Er wendet sich stattdessen anhand von Fallbeispielen den Themenbereichen Einwanderung und Integration, Interaktion sowie Tod und Begräbnis zu. Wer aus England einwanderte, sich in Irland niederließ und dort starb oder Angehörige zu Grabe tragen musste, kam nicht umhin, sich den konfessionellen Herausforderungen des Lebensalltags zu stellen, sodass diese von Bähr nicht explizit begründete Auswahl überzeugt. Die aus der Themenwahl folgenden einander argumentativ ergänzenden Fallstudien liegen in der Zeit um 1600. Bähr begründet dies überzeugend damit, dass im ersten Drittel des 17. Jahrhunderts Konfession eine wachsende Rolle für das Zusammenleben der katholisch orientierten Gälen und Altengländer mit den einwandernden anglikanisch-protestantischen Briten spielte. Die Frage, wie aus einem englischen und anglikanischen Verwaltungsbeamten ein katholisch akzeptierter Ire wird, beantwortet er am Beispiel Richard Boyles (1566–1643). Wie sehr der Katholizismus im offiziell protestantischen und vom anglikanischen London aus kontrollierten Irland lebendig blieb, verdeutlicht Bähr unter anderem am Beispiel von irischen Katholiken, die sich im katholischen Kontinentaleuropa zu Priestern hatten ausbilden lassen und verdeckt nach Irland zurückkehrten, um dort als Geistliche im Untergrund zu wirken. Welche Rollen das Verständnis von irischer Gastfreundlichkeit und die Multifunktionalität von Kirchen für den Umgang mit Konfessionalität im Alltag spielten, veranschaulicht Bähr am Beispiel der Dubliner Christ Church Cathedral und des Kirchspiels St. John. Anhand der Bedeutung von Familiengräbern stellt Bähr dar, wie sich Anglikaner mit ihrer „Nekroökonomie“ in die irische Gesellschaft buchstäblich einschrieben.

Das recherchierte Quellenkorpus ist vielfältig und erlaubt es Bähr, in seiner geschickten Kombination manche Lücke in der Quellenüberlieferung, wenn nicht zu schließen, so doch weniger offen klaffen zu lassen. Auf der Grundlage von Verwaltungsschriftgut, Korrespondenzen, Selbstzeugnissen wesentlicher Akteure, von Zeugenaussagen zur Irish Rebellion, von lokalen Kirchenakten, Zeichnungen und der Publizistik verfolgt Bähr eine mikrogeschichtliche Perspektive, welche die strukturellen Voraussetzungen der Entwicklungen berücksichtigt. Die genannten Quellengattungen werden in einem eigenen Kapitel quellenkritisch eingeführt, sodass Bähr in der Argumentation am konkreten Fallbeispiel weitgehend darauf verzichtet, die Aussagekraft der jeweils ausgewerteten Quellen eigens zu thematisieren.

Auch wenn Bähr der Analyse seiner Fallbeispiele eine informative Einführung in das Irland um 1600 voranstellt, setzt die weitere Lektüre voraus, dass die Leserinnen und Leser mit Grundzügen der anglo-irischen Geschichte dieser Zeit vertraut sind. Für Fachleute, an die sich das Werk hauptsächlich wendet, sollte dies kein größeres Problem sein. Die Fallbeispiele lesen sich dank ihres erzählerischen Duktus angenehm und überzeugen argumentativ. Die Erkenntnisse werden jeweils am Ende eines Kapitels als Zwischenfazit thesenartig – wenn auch trotz Kürzungen vereinzelt redundant – herausgearbeitet: Religiös konfligierende Normen wurden nicht immer als Widersprüche erlebt. Die Akteure – von Akteurinnen ist kaum die Rede – fanden Wege, ihrer Kirche zwar treu zu bleiben, im Alltag aber pragmatisch konfessionelle Zugehörigkeiten zugunsten ökonomischer und sozialer Erfolge zurückzudrängen. Das Zusammenleben katholischer Iren mit den protestantischen Immigranten beruhte auch auf „undoing difference“ (S. 17), was sich an verschiedenen Beispielen demonstrieren lässt. Konfessionelle Grenzen mussten nicht überwunden werden, sondern waren kaum relevant. Eltern schickten etwa ihre anglikanischen Kinder in Schulen, in denen sie die Verhaltensformen und die Sprache der katholischen Landeskinder lernten. Protestanten, die eigentlich ein bescheidenes Begräbnisformat favorisieren sollten, passten sich an die irische Tradition der prunkvollen Familiengräber an. Kirchen, die nach protestantischen Normen rein sakrale Räume sein sollten, behielten ihre Multifunktionalität faktisch bei, sodass in den angeschlossenen Trinkstuben weiter gezecht und geraucht wurde. Katholiken beteiligten sich an der Finanzierung anglikanischer Kirchenräume in Erwartung materieller Gegenleistungen.

Einige wenige Schwarz-Weiß-Abbildungen von Plänen und Gebäuden dienen zur Illustrierung der Argumentation. Das Personen- und Ortsregister ist für die Orientierung hilfreich. Ein Sachregister wäre eine willkommene Bereicherung gewesen, um die konzeptionellen Perspektiven der Arbeit leichter erschließen zu können.

Der Gewinn der Arbeit liegt nicht nur darin, ein re-formiertes Bild der irischen Konfessionalität zu präsentieren; Bährs Schlussfolgerungen laufen auch auf eine konzeptionelle Programmatik hinaus. Konfession sei intersektional als eine Verschränkung von Stand, Vermögen, Konsum, sakraler Reinheitsvorstellungen und Nation zu verstehen. Konfessionelle Praktiken folgten pluralen Normen, die je nach Situation und Bedarf im Sinne eines „undoing difference“ pragmatisch neutralisiert wurden. Gerade hier wäre es noch überzeugender gewesen, die konzeptionelle Abgrenzung von den Konzepten der Inter- und Transkonfessionalität zu diskutieren oder auch ältere Konfessionalisierungsdebatten neu aufzumischen. Folgt aus der Feststellung, dass konfessionelle Grenzen situativ im multinormativen Geflecht von sozialen und ökonomischen Interessen irrelevant sein konnten, dass konfessionelle Grenzen nicht überwunden zu werden brauchten und Konfession somit neutralisiert wurde? Oder waren die Bewohnerinnen und Bewohner Irlands nicht vielmehr in der Lage, souverän zwischen katholisch und anglikanisch etikettierten Praktiken zu wechseln, also jeweils kurzfristig eine konfessionell markierte (und nicht konfessionell neutralisierte) Identität zu praktizieren? Wenn Richard Boyle religiös dem Calvinismus nahestand, aber sich dessen ungeachtet in seiner irischen Residenz eine prachtvolle Kapelle leistete und für seine Frau ein repräsentatives Grabmal im Chor der Dubliner St. Patricks Kathedrale errichten ließ, stellt sich nicht die Frage, ob Boyle im Widerspruch zu seinen religiösen Überzeugungen handelte und pragmatisch sowie sozial-opportunistisch seine Konfessionszugehörigkeit in den Hintergrund treten ließ. Vielmehr ist zu hinterfragen, warum vorauszusetzen sei, dass sich Boyle als konsequenter Calvinist hätte verhalten sollen und sein gezielter Umgang mit konfessionell anders markierten Praktiken als eine Neutralisierung von Konfession zu verstehen sei. Bährs Vorschlag, Konfessionalität in ihrer Mehrdimensionalität zu verstehen, provoziert offene Fragen und sorgt damit für lohnenden Diskussionsstoff.

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