M. Friedenthal-Haase: Fritz Borinski und die Bildung zur Demokratie

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Titel
Fritz Borinski und die Bildung zur Demokratie. Geschichte eines Lebens zwischen Pädagogik und Politik


Autor(en)
Friedenthal-Haase, Martha
Erschienen
Bad Heilbrunn 2023: Verlag Julius Klinkhardt
Anzahl Seiten
411 S.
Preis
€ 49,00
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Jakob Benecke, Alanus Hochschule, Mannheim

Fritz Borinski (1903–1988) selbst sah eine sich in unterschiedlichen privaten und beruflichen Konstellationen konkretisierende und ihn häufig herausfordernde „Zwischenstellung“ innerhalb eines „Dualismus von Pädagogik und Politik“1 als zentrales Charakteristikum seiner Biographie an. Es kann als besondere Lebensleistung angesehen werden, dass angesichts dessen nicht Resignation, sondern anhaltende Integrationsbemühungen sein Leben und Wirken auszeichneten. Dies verdeutlicht die von Friedenthal-Haase verfasste Biographie exemplarisch auf unterschiedlichen Ebenen: von den politischen Kontexten über die vielfältigen beruflichen Tätigkeitsfelder Borinskis bis hin zu Anekdoten aus seinem Privatleben. Die vorliegende Darstellung folgt ihrem Protagonisten chronologisch durch die einzelnen Lebensabschnitte und gliedert sich in vier große Teile mit jeweils mehreren Unterkapiteln: Anfänge (1903–1934), Emigration: Erfahrung und Leistung (1934–1947), Rückkehr und Bewährung (1947–1970) sowie Alter, Werk und Wirkung (1970–1988). Ein Bildteil ergänzt den Band.

Die auch im Titel der hier besprochenen Biographie aufgegriffene „Zwischenstellung“ (S. 23) wurde Borinski bereits früh zum handlungsleitenden Lebensgefühl – während seiner Schulzeit am humanistischen Gymnasium und in einer Kleinstadtschule sowie seinem Engagement als national und demokratisch ausgerichteter politischer Jugendaktivist und nach seinem 1928 erfolgten Eintritt in die SPD. Die hier angelegte Suche nach einer tragfähigen Synthese aus beiden Ansprüchen blieb ihm in seinem beruflichen Schaffen lebenslang ein wesentliches Motiv seiner Konzeption einer politischen Jugend- und Erwachsenenbildung mit sozialistischem Einschlag, deren zentraler Orientierungspunkt die Demokratie als Staatsform war. Praktische Umsetzung erfuhr dies schon während seines Studiums der Rechtswissenschaft (1921 bis 1926 in Leipzig, Jena und Halle), später durch das Engagement als Leiter des Leipziger „Seminars für freies Volksbildungswesen“ (S. 29) und somit in der Ausbildung künftiger Volksbildner. Das damit einhergehende jugend- und erwachsenenbildnerische Selbstverständnis war in seiner programmatischen Zielsetzung stets ein integratives, das zur aktiven Partizipation befähigen und ermutigen wollte. Im Sinne einer produktiven Integration von Theorie und Praxis war Borinski zudem stets bemüht, seine diversen Praxiserfahrungen in unterschiedlichen Volkshochschulkontexten wiederum konstruktiv in das „im Prozess der Akademisierung befindliche Wissenschaftsgebiet der Erwachsenenbildung“ (S. 64) einzubringen.

Es folgte eine Reihe von Exklusionserfahrungen, insbesondere nach der nationalsozialistischen Machtübernahme. Nunmehr vom Regime als „Nichtarier“ deklariert, kündigte man ihm an der Universität Leipzig „unter Berufung auf das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ (S. 80). Borinski blieb nur der Weg der Emigration. Für diese ergab sich im Frühjahr 1934 eine Option durch das Angebot, eine internationale Wohngemeinschaft in der Londoner Welwyn Garden City mit einer „Verbindung von Bildung und gemeinschaftlichem Wohnen“ (S. 94) pädagogisch zu betreuen. Zwischen 1934 und 1947 lebte er als Emigrant in England und Australien – letzteres nach Kriegsbeginn unter stark erschwerten Bedingungen während der Internierung (Sommer 1940 bis Jahresende 1941) als sogenannter „ziviler enemy alien“ (S. 99).

An einer bemerkenswerten Integrationsleistung war er im Exil beteiligt, als er ab 1942 – wieder zurück in London und nunmehr als Exilant anerkannt – an der nongovernmental organisation (NGO) „German Educational Reconstruction“ (GER) partizipierte. Dort entwickelten Beteiligte aus miteinander im Krieg befindlichen Nationen (Deutschland und Großbritannien) gemeinsam Konzepte für eine „Förderung eines künftigen demokratischen Neubaus des deutschen Erziehungswesens“ (S. 109). Als der Sieg der Alliierten sich abzeichnete, wurde die Expertise der GER-Mitglieder auch von jenen britischen Militärs nachgefragt, die „mit der Errichtung einer Nachkriegsordnung“ (S. 113) für Deutschland befasst waren.

Anfang 1947 kehrte Brosinski nach Niedersachsen in die britisch besetzte Zone zurück. Am neuen Ort wurde er Leiter der Heimvolkshochschule Göhrde, wo er sich ganz im Sinne einer partizipativen Demokratiebildung der Aufgabe widmete, für räumlich wie auch ideell „entwurzelte und auf der Suche befindliche Jugendliche ein Heim auf Zeit zu schaffen“ (S. 214). Hierbei handelte es sich um integrative Bildungsarbeit am Puls der Nachkriegszeit. In den kommenden Jahren widmete er sich zudem Integrationsfragen im Bereich der Weiterentwicklung der Erwachsenenbildung als Disziplin. Mit dem Ziel einer Stärkung der fachlichen Qualifizierung künftiger Erwachsenenbildner:innen engagierte er sich bei der Planung und Durchführung eines „Seminars für Erwachsenenbildung“ (S. 237). An der Universität Göttingen fand er in Herman Nohl und Erich Weniger außerdem an der Volksbildung interessierte Kooperationspartner für seine Pläne, die Ausbildung der Erwachsenenbildung akademisch zu professionalisieren. Letztlich scheiterte das Bemühen um ein eigenes „Institut für Volksbildung“ (S. 240) an bürokratischen Hürden, die sich aus den hochschul- und bildungspolitischen Kontexten ergaben. Der entsprechende Antrag der Universität und die geleisteten konzeptionellen Arbeiten bedeuteten hinsichtlich der Entwicklung der Disziplin dennoch einen wichtigen Integrationsschritt auf dem Weg der akademischen Institutionalisierung der Erwachsenenbildung.

Bildungspolitisch engagierte sich Borinski im „Deutschen Ausschuss für das Erziehungs- und Bildungswesen“ (1953–1965) sowie für eine verstärkte Zusammenarbeit der Volkshochschulen. Hierbei ging es ihm stets um ein integrierendes Verständnis der Erwachsenenbildung, welches gleichermaßen deren soziale Bezüge, die Verbindung von Theorie und Praxis sowie ihre Interdisziplinarität berücksichtigte. Seine Auffassung eines „mitbürgerlichen Ansatzes“ (S. 368) und daraus abgeleitet der „Volkshochschule neuen Typs“ (S. 262) als einer zur aktiven Partizipation an einer demokratischen Gesellschaft befähigenden Bildungseinrichtung konnte er ab 1954 als Leiter der Bremer Volkshochschule wiederum auch praktisch umsetzen. Der Volkshochschule als Institution wies er in diesem Kontext eine zentrale Bildungsaufgabe zu: Sie solle „ein Integrationsfaktor, eine vereinende und ordnende Kraft im großen Schmelztiegel unserer Zeit sein“ (zit. n. S. 263; Hervorh. i. O.).

Borinskis nächste akademische Station war ein Lehrstuhl für Pädagogik an der Freien Universität Berlin, auf den er am 12. Juli 1956 berufen wurde. In Berlin erwartete ihn eine große akademische Integrationsaufgabe: Beteiligung am weiteren Ausbau der Universität und der eigenen Fachdisziplin sowie „die politische Bildung der gesamten Studentenschaft und das Verhältnis der Universität zur Gesellschaft in der geteilten Stadt“ (S. 279). Am 15. Februar 1961 wurde er dort in das neu geschaffene Amt eines Beauftragten des Rektors für politische Bildung berufen. In dieser Funktion bestanden in der aufgeheizten Atmosphäre dieser Jahre an den Universitäten kaum Spielräume für eine Realisierung an Bildungsidealen orientierter Konzepte. In Konsequenz dessen scheiterte er hochschulpolitisch letztlich beim Versuch einer konstruktiven Kompromissfindung in einem anhaltenden Konflikt mit der verfassten Studentenschaft.

Die vorliegende Biographie folgt insgesamt einem klassisch-historiographischen Aufbau, der ihre Entwicklung in größere Abschnitte untergliedert und diese chronologisch nacherzählt. Im Ergebnis entsteht ein umfassendes und eindrückliches Bild des Lebens eines deutsch-jüdischen Zeitzeugen fast des gesamten 20. Jahrhunderts und einer herausragenden Persönlichkeit der Geschichte der politischen Erwachsenenbildung. Sie ist lesenswert durch die zahlreichen Einblicke, die sie in jene zeithistorischen Umstände gewährt, denen Borinski ausgesetzt war, und seinen konstruktiven Umgang damit aufzeigt; außerdem durch die Einsichten, die sie in sein aktives Wirken in der Jugend- und Erwachsenenbildung vermittelt, und die nicht selten anschlussfähig sind für heutige Fragen einer zielführenden Demokratiebildung. Die Darstellungen basieren auf einer akribischen Recherche und daraus resultierender umfangreicher Materialbeschaffung an Quellen, die insgesamt eine hohe Heterogenität aufweisen und dichte Beschreibungen ermöglichen: von privaten Notizen und autobiographischen Selbstzeugnissen bis zu archivierten Aktenbeständen.

Bemängeln kann man demgegenüber lediglich einen mitunter zu unkritisch anmutenden Umgang mit der Person Borinskis. Die Darstellung folgt seinen autobiographischen Aussagen meist umfassend. Als kritische Anmerkungen finden sich höchstens Hinweise, seine Konzeptionen der Erwachsenenbildung seien mitunter zu ambitioniert gewesen. Ob es tatsächlich in den einzelnen Abschnitten Potential zu weiterführender Kritik gegeben hätte, kann anhand der Lektüre dieser Biographie nur schwer beurteilt werden. Es bleibt allerdings an manchen Stellen der Eindruck, dass eine stärker kritisch-konstruktive Perspektive eventuell ein noch plastischeres Bild des Protagonisten und seines Wirkens sowie der zeithistorischen Kontexte vermittelt hätte. Dies lässt sich auch anhand jener Passagen konkretisieren, die sich auf ‚die‘ Jugendbewegung beziehen. Unter der Berufung auf diese geht es in den entsprechenden Darstellungen fast ausschließlich um die bürgerliche Jugendbewegung in ihren Phasen und Facetten. Die Arbeiterjugendbewegung und vor allem die jüdische Jugendbewegung als zeitgenössische Jugendphänomene bleiben weitestgehend unerwähnt. Diese Engführung wäre möglicherweise hinreichend gewesen, ginge es ausdrücklich nur um Borinskis eigene Begegnungen mit der bürgerlichen Jugendbewegung. Es ist jedoch bei der Beschreibung und Bewertung seiner Erfahrungen sowie bei deren bildungshistorischer Kontextualisierung so, dass mitunter die Grenzen zwischen biographischem Bezug und allgemeiner Darstellung verschwimmen. Beispielsweise dort, wo Borinskis Einlassungen zu potentiellen „geeigneten Traditionsträgern“ für einen demokratischen Wiederraufbau direkt übernommen werden, die er 1943 im britischen Exil und für die dortigen Planer einer Reeducation verfasste. Als solche sah er neben der Volksbildungsbewegung der Weimarer Republik „die Jugendbewegung“ an, „von deren im Kern freiem Geist im Sinne der Hohen-Meißner-Formel Borinski überzeugt war, wobei er undemokratische Strömungen in der Jugendbewegung durchaus kritisch wahrnahm, jedoch eher für Randerscheinungen ansah“ (S. 148). Dieses hier kolportierte Gesamturteil hätte doch einer differenzierenden Revision bedurft – oder der klaren Einstufung als subjektive Wahrnehmung eines Zeitzeugen und Mitglieds eines noch bis 1933 demokratie-affinen Bundes der Bewegung. Gleiches gilt für das Resümee, welches aus seiner gemeinsam mit Werner Milch verfassten Schrift zur bürgerlichen Jugendbewegung übernommen wird: „Entschieden wenden sich die Autoren gegen die Behauptung, die Jugendbewegung sei Vorläufer oder Wegbereiter des Nationalsozialismus mit seinem schrankenlosen Nationalismus, Antisemitismus und Rassismus gewesen“ (S. 156). Mit Blick auf die hier angedeutete Gesamtevaluation hätte es einer kritischen Einordnung unter Einbeziehung des aktuellen Forschungsstandes zur bürgerlichen Jugendbewegung bedurft, mit dem die obige Einschätzung, gerade die bündische Phase betreffend, in ihrer Allgemeinheit nur bedingt übereinstimmt.2

Abschließend kann resümiert werden, dass die vorliegende Biographie den bisherigen Forschungsstand zu Borinski überschreitet. Friedenthal-Haase korrigiert außerdem beiläufig fehlerhafte Darstellungen in früheren Publikationen anderer Autor:innen, die sich konkret oder in der erweiterten Perspektive einer Historie der Erwachsenenbildung mit der Person Borinski befasst haben. Wer sich künftig mit diesem als Akteur der deutschen und internationalen Bildungsgeschichte sowie als Pionier der politischen Erwachsenenbildung und ihrer Akademisierung befassen möchte, dem bietet diese Biographie und der dort vorgelegte Stand der Aufarbeitung eine große Übersicht und zugleich eine Fundgrube an Einblicken in ein bewegtes Leben.

Anmerkungen:
1 Fritz Borinski, Zwischen Pädagogik und Politik, in: Ludwig J. Pongratz (Hrsg.), Pädagogik in Selbstdarstellungen, Bd. 2, Hamburg 1976, S. 1–81, hier S. 1.
2 Rüdiger Ahrens, Bündische Jugend. Eine neue Geschichte 1918–1933, Göttingen 2015; Peter Dudek, „Mit innerer Wahrhaftigkeit ihr Leben gestalten“. Antisemitismus im Kontext des Freideutschen Jugendtages 1913, in: Gideon Botsch / Josef Haverkamp (Hrsg.), Jugendbewegung, Antisemitismus und rechtsradikale Politik. Vom „Freideutschen Jugendtag“ bis zur Gegenwart, Berlin 2014, S. 74–92; Christian Niemeyer, Mythos Jugendbewegung. Ein Aufklärungsversuch, Weinheim 2015.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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