V. Kivimäki: Sargade själar [Verwundete Seelen]

Cover
Titel
Sargade själar. De finska soldaternas krigstrauman 1939–1945


Autor(en)
Kivimäki, Ville
Erschienen
Stockholm 2023: Appell förlag
Anzahl Seiten
448 S.
Preis
SEK 279,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thekla Musäus, Institut für Fennistik und Skandinavistik, Universität Greifswald

Die Originalausgabe dieses Buchs über das Schicksal der psychisch versehrten finnischen Soldaten im Zweiten Weltkrieg erschien bereits 2013.1 Auch wenn der Kriegsverlauf 1939 bis 1945 in Finnland spezifische Eigenheiten aufweist, ist das Problem der psychischen Traumatisierung der Soldaten im Krieg alles andere als finnlandspezifisch und angesichts der Kriege der Gegenwart hochaktuell, worauf der Autor insbesondere im letzten Kapitel „Epilog – nach dem 24. Februar 2022“ hinweist. Es ist zu hoffen, dass seine wissenschaftliche Arbeit durch die Übersetzung ins Schwedische einer breiteren Leserschaft zugänglich wird.

Grundsätzlich unterscheidet sich die schwedische Ausgabe nicht vom finnischsprachigen Originaltext, allerdings sind Informationen zu neuer Forschungsliteratur ergänzt. Im Vorwort zur Übersetzung findet sich eine Übersicht zu den verschiedenen Phasen des Zweiten Weltkriegs in Finnland. Die Details des sowjetischen Angriffskriegs, des „Winterkriegs“ vom November 1939 bis zum März 1940, den Finnland mit großen menschlichen und Gebietsverlusten, doch überraschenderweise ohne Annexion überstand, sind in Schweden gut bekannt, da dieser Krieg dort zu einer Welle solidarischer Unterstützung führte. In Hinblick auf die psychische Situation an der Kriegsfront von 1941 bis 1944 ist die Chronologie dieses sogenannten „Fortsetzungskriegs“ wichtig. Nun war Finnland Verbündeter Deutschlands und eroberte nicht nur verlorene Gebiete zurück, sondern erweiterte seine Einflusssphäre bis ins sowjetische Karelien. Auf die Angriffsphase folgten 1942 bis Frühsommer 1944 ein Stellungskrieg und im Sommer 1944 die sowjetische Gegenoffensive. Auch auf die Geschehnisse des Lapplandkriegs gegen die Deutschen 1944 bis 1945 geht Kivimäki kurz ein. Zur Einordnung in das gesamteuropäische Kriegsgeschehen hilft ein Zeitstrahl zu Anfang des Buches.

Anders als in der Originalausgabe sind die 30 Fotografien – vorrangig aus dem Bildarchiv der finnischen Armee – nicht als Hochglanzreproduktionen in separaten Bildteilen versammelt, sondern finden sich im Text und ergänzen diesen noch unmittelbarer. An einigen Stellen unterstützen wie im Original Übersichtstabellen zu Diagnosen, Fallhäufigkeiten und Behandlungsweisen psychischer Versehrungen die Textinformationen. Im Anhang finden sich zudem eine Übersicht der damaligen psychiatrischen Diagnosen, ein Personenverzeichnis, ein um schwedischsprachige Hintergrundliteratur erweitertes Literaturverzeichnis und Endnoten.

Der Inhalt ist unterteilt in fünf Hauptkapitel. In den ersten zwei erfolgt ein Gesamtüberblick der Kriegsentwicklungen mit Schwerpunkt auf Maßnahmen und Vorgängen, welche die militärmedizinischen Instanzen betrafen. Diese waren auf die unerwartete Vielzahl psychisch versehrter, kampfunfähiger Soldaten nach Kriegsausbruch nicht vorbereitet. Auch wenn bereits im Ersten Weltkrieg Erfahrungen mit vom „Shell Shock“ betroffenen Soldaten gesammelt worden waren, fehlten diese den finnischen Militärärzten. Symptome von Verwirrung und Apathie, unkontrollierbares Zittern, Lähmungserscheinungen, Störungen der Sinneswahrnehmungen, Panikattacken, Gedächtnisverlust und Depression wurden oft zunächst für simuliert oder Folge einer Gehirnerschütterung gehalten. Viele Versehrte wurden weder diagnostiziert noch behandelt. Dennoch sind für die gesamte Kriegszeit über 17.000 Fälle kriegstraumatisierter Soldaten aktenkundig belegt.

Wie Kivimäki nachweisen kann, war das Auftreten der Traumatisierungssymptome im Kriegsverlauf sehr unterschiedlich. Waren es im Winterkrieg und in der Angriffsphase des Fortsetzungskriegs vor allem junge, unerfahrene Rekruten, die betroffen waren, wurden während des Stellungskriegs vor allem ältere Soldaten in die psychiatrischen Abteilungen der Militärkrankenhäuser eingewiesen. Oft hatten diese bereits Fronterfahrungen während des Winterkriegs gesammelt und brachen nun in der zweiten Kriegsphase zusammen.

Im dritten Kapitel gibt Kivimäki einen Einblick in die Gemeinschaftsbedingungen, „die den Frontsoldaten helfen konnten, ihren Erfahrungen einen Sinn zu geben und ihr mentales Überleben inmitten der extremen Gewalt zu sichern, die sie umgab“ (S. 150, Übersetzung TM). Dabei wird deutlich, dass bestimmte Faktoren, die aus heutiger Sicht eher negativ erscheinen, wie die klare Trennung von weiblichen und männlichen Betätigungssphären, die Sexualisierung des Armeejargons und die Idealisierung von Mutterfiguren eine wichtige gruppenbildende und entlastende Bedeutung für viele Soldaten hatte. Eine Verrohung der Verhaltensformen war hingegen in den Soldatengemeinschaften meist weniger gutgeheißen, als man annehmen könnte. Religiöse Bindung gab vielen Soldaten seelischen Halt. Neben kirchlichen Ritualen waren auch abergläubische Handlungen und Talismane für die Soldaten von Bedeutung. Dass die religiösen Strukturen für nationalistisch-ideologische Zwecke in Dienst genommen wurden, entsprach der etablierten gesamtgesellschaftlichen Weltanschauung. Für die Hypothese, dass Soldaten aus kommunistisch geprägten Regionen aufgrund der Erfahrungen des Bürgerkriegs von 1918 stärker an psychischen Belastungen litten, findet Kivimäki dagegen keine Belege. Der hohe Anteil gering gebildeter, ländlicher Bevölkerung an Patienten der psychiatrischen Abteilungen spiegelt vor allem den Proporz dieser Bevölkerungsschicht an der Front wider. Die psychische Belastung, so legen es Augenzeugenberichte nahe, war für höhere militärische Ränge bisweilen weniger groß, weil sie besser informiert und dem Kriegschaos nicht ganz so hilflos ausgeliefert waren.

In Kapitel vier ordnet Kivimäki die Situation der finnischen Militärpsychiatrie in die medizinhistorischen Entwicklungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein. Prägend war vor allem die enge wissenschaftliche Bindung an Deutschland. Dort weilten die finnischen Psychiater zu Forschungsaufenthalten, auf deutsche wissenschaftliche Abhandlungen bezog sich ein Großteil ihrer Forschung. Jedoch, das gelingt Kivimäki nachzuweisen, war nicht die nationalsozialistische Einstellung gegenüber psychischen Erkrankungen ausschlaggebend, sondern Gesamtentwicklungen seit dem Ersten Weltkrieg bis zum Anfang der 1930er-Jahre. Grundlegend war der Fokus auf erbliche und konstitutionelle Vorbedingungen und die neurologische Erforschung psychischer Krankheiten. Psychotherapeutische Ansätze existierten kaum. Wirkliche Heilung wurde nicht für realistisch gehalten, und das Ziel der finnischen Kriegspsychiatrie war vorrangig die reine Wiederherstellung einer Arbeitsfähigkeit der Patienten. Dabei war der Einfluss einzelner Psychiater bei einer Gesamtanzahl von kaum 55 psychiatrisch ausgebildeten Ärzten in Finnland sehr groß. Anhand der Tätigkeitsbeschreibung führender Militärpsychiater zeigt Kivimäki, wie meist ein ethisch motivierter Unterstützungsansatz mit dem Konzept der funktionsfähigen Nation im Verteidigungszustand und der patriotischen Opferverpflichtung jedes Einzelnen einherging. Gesondert geht Kivimäki auf die Anwendung von Insulin-, Cardiazol- und Elektroschocktherapien ein. Aufgrund der geringen neurologischen und psychologischen Kenntnisse wurden diese auch von Patienten als sinnvolle Therapieformen wahrgenommen und erzielten – möglicherweise auch in Placebowirkung – teilweise positive Effekte. Ihr gewalttätiger Charakter wurde in Kauf genommen, von wenigen Ärzten auch bewusst zur Disziplinierung genutzt.

Für die Analyse der psychischen Erkrankungen der Kriegszeit lagen Kivimäki die Krankenakten und Berichte der 15 militärpsychiatrischen Abteilungen und Krankenhäuser sowie einer Armee-Einheit für psychische Rekonvaleszenten zugrunde. Hinzu kommen Erinnerungen von Militärärzten und Soldaten, militärische und medizinisch-psychiatrische Berichte. Die belegten Diagnosen und Behandlungsberichte zeigen nur einen Bruchteil der tatsächlichen Belastung der Soldaten, weshalb Kivimäki auch Krankenberichte und Fallzahlen gewöhnlicher Kriegslazarette analysiert. Viele Krankheitsbefunde, die heute als Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung erkannt würden, wurden nicht als solche diagnostiziert. Es wird deutlich, wie komplex die Situation für die Kriegsmediziner und -psychiater oft war: Einerseits mussten sie das Wohl des einzelnen Patienten im Blick behalten, andererseits war klar, dass die Existenzgefährdung Finnlands möglichst viele kampffähige Soldaten erforderte. Hinzu kam insbesondere während des Winterkrieges und in den letzten Monaten des Fortsetzungskrieges die völlige Überlastung der Militärkrankenhäuser.

Kivimäki ist vorsichtig mit verallgemeinernden Schlussfolgerungen zum Umgang mit den traumatisierten Soldaten. Der abschließende Ausblick auf die Entwicklungen nach dem Ende des Krieges im Kapitel „Die Geschichte der Geschichtslosen“ unterstützt jedoch die in den vorangegangenen Kapiteln herausgearbeiteten Schlussfolgerungen: Widersprach bereits während des Krieges die psychische Versehrtheit dem Bild des tapferen und heldenhaften Finnen, führte die nationale Heroisierung des Kriegs bis in die 1990er-Jahre zu ihrer Stigmatisierung. Kivimäki beleuchtet die Problematik von ganz unterschiedlichen Blickwinkeln, sodass sich in den einzelnen Kapiteln gewisse Wiederholungen finden. Diese Redundanz macht in der Gesamtschau jedoch die Verbindung individueller Schicksale mit militärischen und psychiatrischen Entscheidungen augenfällig. Eine besondere Stärke sind so auch die vielen Darstellungen einzelner Krankenschicksale.

Anmerkung:
1 Ville Kivimäki, Murtuneet mielet. Taistelu suomalaissotilaiden hermoista 1939–1945, Helsinki 2013.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch