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Titel
Beirut und die Zeitschrift Mawaqif. Eine arabische Intellektuellengeschichte, 1968–1994


Autor(en)
Albers, Yvonne
Erschienen
Anzahl Seiten
LXXII, 304 S.
Preis
€ 66,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Moritz Neuffer, Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung, Berlin

Deutschsprachige Publikationen zur arabischen Intellectual History des 20. Jahrhunderts sind rar gesät. Dass die Fachdiskussion auf diesem Gebiet überwiegend in anderen Sprachen geführt wird1, wäre dabei weniger zu beklagen, wenn sie hierzulande nicht der geringen Einbeziehung arabischer Autor:innen, ihrer Werke und ihrer Kontroversen in der breiteren ideen- und intellektuellengeschichtlichen Debatte entspräche. Auch im Kontext der Zeitschriftenforschung, in den die hier besprochene Arbeit sich einschreibt, sind politisch-intellektuelle Medien der arabischen Welt unterrepräsentiert.2 Vor diesem Hintergrund ist die nun in Buchform vorliegende Dissertation der Arabistin Yvonne Albers sowohl eine Fallstudie zu einem wichtigen Debattenmedium als auch ein Einstieg für deutschsprachige Leser:innen in zentrale Abschnitte der politisch-intellektuellen Zeitgeschichte des Nahen Ostens. Im Zentrum steht dabei die Kulturzeitschrift „Mawaqif“, zu deutsch „Standpunkte“ oder „Positionen“, die 1968 in Beirut von dem syrischstämmigen Dichter Adunis gegründet wurde, dort mit einer durch den libanesischen Bürgerkrieg (1975–1990) bedingten Unterbrechung bis 1984 erschien und schließlich ab 1988 in der europäischen Diaspora verlegt wurde, bevor sie ihr Erscheinen 1994 endgültig einstellte.

Albers liest „Mawaqif“, von der insgesamt 74 Ausgaben erschienen, als Spiegel, vor allem aber als Akteurin der intellektuellen wie politischen Umbrüche ihrer Zeit. Neben Adunis gehörten unter anderem die Kritikerin Khalida Said, der Schriftsteller Elias Khoury und der Kulturtheoretiker Edward Said zu den wichtigsten Protagonist:innen der Redaktion, deren Arbeit sich insbesondere durch die Verbindung libanesischer, gesamtarabischer und europäischer Debatten auszeichnete. Literarisch beabsichtigte sie die die Revolutionierung der arabischen Poesie im Kontext der Fortsetzung der Nahda, das heißt des Versuchs, das islamische Kulturerbe mit der Moderne zu vermitteln. Politisch ging es in „Mawaqif“ darum, ‚den‘ arabischen Intellektuellen einer selbstkritischen Befragung zu unterziehen und sein Engagement zu lokalen wie internationalen sozialen Bewegungen in Bezug zu setzen. Die politische und kulturelle Positionierung zur palästinensischen Frage wurde in „Mawaqif“ ebenso diskutiert wie die Reformulierung marxistischer Theorie im Kontext der arabischen Gesellschaften oder die Brauchbarkeit französischer (post-)strukturalistischer Theorie im Rahmen dekolonialer Selbstbestimmung.

Die Studie teilt sich in fünf Abschnitte, die neben einer instruktiven methodischen und historischen Einführung chronologisch die vier zentralen Phasen und Zäsuren dieser „Zeitschriftenbiografie“ spiegeln – von der Vorgeschichte über die revolutionären 1960er-Jahre über den Bürgerkrieg bis hin zur Zeit des Exils. Die Zeiten und die Zeitlichkeit der Zeitschrift werden von der Autorin dabei nicht nur rekonstruiert, sondern zum Gegenstand gemacht: In mehreren Abschnitten des Buches diskutiert sie die Temporalität des Denkens und Schreibens in Zeitschriftenform, die insbesondere in Moment des Beginnens und Neubeginnens, der Krise und des Endes sichtbar wird. Davon zeugt gleich das erste Kapitel, das sich „Mawaqifs“ Vor- und Gründungsgeschichte widmet, deren größerer Kontext die Geschichte einer Neubegründung des arabischen Intellektuellentums ist. Das Beirut der späten 1960er-Jahre, in dem trotz der arabischen Niederlage gegen Israel im Sechstagekrieg 1967 (Naksa) ein Aufbruchsgeist herrschte, war der ideale Ort für eine solche Neubestimmung: Eine relativ liberale Politik sorgte hier im Vergleich zu anderen arabischen Staaten für eine schwache Zensur der Presse, und vor allem führte eine starke innerarabische Migration aus den palästinensischen Gebieten, aus Syrien und Ägypten zu einer Belebung der lokalen kulturellen Szene(n). Die Pluralisierung des Publikationswesens im Libanon wird von Albers differenziert nachgezeichnet, vor allem mit Blick auf den „Abgrenzungs- und Reibungsdruck“ (S. 9) der Kulturzeitschriften: Das Spektrum umfasste hier liberal-ästhetische, marxistisch-neulinke und arabisch-nationalistische Zeitschriften, wobei für „Mawaqif“ insbesondere die Abgrenzung von der legendären, tendenziell autonomieästhetisch orientierten Zeitschrift „Shi’r“ unter Yusuf al-Khal zentral war, in der Adunis sein publizistisches Handwerkszeug gelernt hatte.

Der Ausgang des Sechstagekriegs bedeutete damals den Niedergang des Nasserismus und das Erstarken einer Neuen Linken, die sich politisch zunehmend auf die Solidarität mit der palästinensischen Widerstandsbewegung konzentrierte. Adunis gelang es, diesem Politisierungsschub mit seiner 1968 gegründeten Zeitschrift auf kulturellem Terrain Form zu geben und zugleich die Durchsetzung seiner eigenen ästhetisch-politischen Konzeptionen zu fördern, dank derer er in der Folge zu einem der wichtigsten Intellektuellen des arabischen Raums aufsteigen würde. Modernistisch gestaltet und reduziert-nüchtern im Auftreten, rubrizierte „Mawaqif“ ihre Inhalte dabei nicht nach literarischen Genres, sondern nach Textarten wie „Ideen-Heft“, „Dokumente“, „Zeugnisse“, die ähnlich wie im französischen Esprit die Gegenwartsbezogenheit der Zeitschrift unterstrichen. Minutiös seziert Albers in materialphilologischen Lektüren die Funktionen von Text und Paratext und zeigt, wie etwa Vorworte als Leseanleitungen dienten und literarische und politische Texte aufeinander bezogen wurden, so dass inhaltliche und formale „Synchronisierungseffekte“ (S. 108) entstanden.

Das zweite Kapitel ist den Jahren nach 1968 bis zum Ausbruch des libanesischen Bürgerkriegs 1975 gewidmet. Es zeigt, wie Produktion und Rezeption von Zeitschriften zur bewegungsförmigen Teilnahme an einem revolutionären Projekt wurden. Als sich Studentenproteste gegen das militärische Vorgehen des libanesischen Staates gegen palästinensische Gruppen im Land richten und die Entkonfessionalisierung des Hochschulwesens forderten, druckte „Mawaqif“ Texte zur französischen Studentenbewegung aus „Les Temps Modernes“, „Esprit“ und „Le Point“ ab, womit die libanesischen Proteste „als Teil einer globalen linken studentischen Protestbewegung gerahmt“ wurden (S. 53). Gleichzeitig zeigt Albers, wie die Intellektuellen in „Mawaqif“ stets eine gewisse Distanz zu den Forderungen politischer Akteure hielten und deren Aktionen teils (selbst-)kritisch beleuchteten. Die Studie macht damit deutlich, was eine der zentralen Leistungen einer Zeitschrift als Teil einer Bewegung sein kann: sie zu stimulieren und zu dokumentieren, sie aber auch auf ihre Schwächen und Probleme hin zu befragen.

Eindrücklich zeigt die Studie auch, wie sich die Funktionen von Zeitschriften unter veränderten historischen Bedingungen wandeln können, etwa wenn revolutionäre Hoffnungen schwinden und politisch-publizistische Spielräume enger werden. Davon erzählt Kapitel 3 des Buches: Der libanesische Bürgerkrieg ab 1975 bringt die Teilung Beiruts in einen muslimisch dominierten westlichen und einen christlich dominierten östlichen Teil mit sich, was zwangsweise auch dramatische Auswirkungen auf das zuvor so lebhafte Publikationswesen und die intellektuelle Debattenkultur der Stadt hat. Für „Mawaqif“ bedeutet die erste Kriegsphase einen dreijährigen Produktionsstop, bevor durch Einwerbung neuer finanzieller Ressourcen und der kompletten Verlagerung in den Westteil der Stadt das Erscheinen wieder fortgesetzt werden kann. Zwar positioniert sich „Mawaqif“ weiterhin auf Seiten des linken Lagers, das mit der südlibanesischen Landbevölkerung und palästinensischen Gruppen sympathisiert, der politische Fokus verlagert sich jedoch mehr und mehr in Richtung der Einsicht in die „Notwendigkeit eines ideologie- und konfessionsübergreifenden Dialoges“ in einem gespaltenen Land (S. 123). Die Studie erfasst mit dieser Epoche eine Zeit, in der linke und marxistische Gewissheiten brüchig wurden und auch die Solidarität mit den palästinensischen Gruppen, allen voran der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO), im Zuge entgrenzter Gewaltakte im Bürgerkrieg auf den Prüfstand gestellt wurde.

Wie andernorts sind die 1970er-Jahre auch im Libanon ein Krisenjahrzehnt der Linken, und es hat auf dem Feld theoretischen Denkens ähnliche Folgen, wie sie etwa in der europäischen Neuen Linken zu beobachten ist: die Abwanderung vom Marxismus hin zu (post-)strukturalistischer Theorie. Insbesondere die Rezeption der französischen Nouvelle Critique und der Schriften von Barthes, Todorov oder Derrida, führt in „Mawaqif“ in dieser Zeit zu einer Neubestimmung des Verhältnisses von Literatur und Literaturkritik, wobei die Arbeit am Text sich als neue „Arena kritischer Intervention und als Ort des Intellektuellen“ herausstellt (S. 189). Überzeugend stellt die Autorin am close reading einer Ausgabe aus dem Jahre 1983 dar, wie die Zeitschrift sich von geschichtsphilosophischen Konzeptionen verabschiedet und sich in eine Lektüre der krisenhaften Jetzt-Zeit zurückzieht.

Das vierte Kapitel – der vierte Abschnitt im „Leben“ der Zeitschrift „Mawaqif“ – ist die Zeit des Exils zwischen 1988 und 1994. Mit Redaktionssitz Paris und Verlagsort London erlebt das Projekt seine dritte Geburt als Zeitschrift in der Diaspora. Thematisch ist diese Phase insbesondere dadurch gekennzeichnet, dass hier die Debatte um die arabische Moderne zu einer Debatte über kulturelle Identität transponiert wird, die sich vor dem konkreten Hintergrund der Erfahrung von Entwurzelung neu konfiguriert. Besonders einsichtsreich ist in diesem Kapitel die von Albers diskutierte Frage, was überhaupt die Aufgabe einer Exilzeitschrift sei – und ob „Mawaqif“ letztlich überhaupt als solche gelten könne. Denn trotz anderslautender Bekundungen hatte die Redaktion deutlich von der engagiert-intellektuellen Bezugnahme auf das konkrete politische Geschehen in der arabischen und speziell der libanesischen Welt abgelassen: Beirut war für sie zu einem imaginierten Ort geworden, zu dem die Zeitschrift keinen direkten zeitgenössischen Bezug mehr hatte. „Mawaqif“ war nun „Schauplatz eines anhaltenden und umfassenden intellektuellen Schweigens“ geworden (S. 255). Diese Anachronizität am Ende des intellektuellen Schaffens wird von Albers nicht nur in genauen, stets für die Lesenden nachvollziehbaren Lektüren herausgebearbeitet, sondern auch in einer eindrucksvollen sprachlichen Eleganz dargestellt, die das Buch insgesamt prägt.

So bietet Albers' Studie zugleich einen detaillierten Einblick in die Geschichte eines der wichtigsten intellektuellen Projekte der arabischen Zeitgeschichte und eine Grundlage zum Verständnis heutiger politisch-kultureller Positionierungen und Positionskämpfe. Hilfreich ist nicht zuletzt, dass die Lesenden mit einer Zeittafel an die Hand genommen werden, die es erlaubt, sich in der mitunter herausfordernden personellen und ereignisgeschichtlichen Dichte dieser Zeitschriftengeschichte zu orientieren. Auf methodischer Ebene bietet die Studie darüber hinaus wertvolle Hinweise und Impulse für eine medienspezifische Forschung, die danach fragt, welche intellektuellen Räume von Zeitschriften geöffnet werden und welchem Funktionswandel sie dabei im Laufe der Zeit unterliegen (können). Dass die Leser:innenschaft bzw. Rezeptionsseite der behandelten Periodika dabei tendenziell amorph bleibt, ist ein nicht zuletzt quellenbedingtes Problem, das die Studie mit vielen anderen Zeitschriftengeschichten teilt. Sowohl Albers‘ close readings einzelner Hefte als auch ihre Überblicksdarstellungen zu umfangreicheren Themenkomplexen legen es jedoch nahe, im Anschluss an dieses Buch selbst weiterzulesen – und die Studie als ein Angebot, aber auch eine Aufforderung an die deutschsprachige Intellectual History zu begreifen, ihre Schritte in Richtung einer globaleren Geschichte der Ideen und der Intellektuellen zu intensivieren.

Anmerkungen:
1 Speziell zum Untersuchungszeitraum und Gegenstandsbereich der Studie siehe etwa die Arbeiten von Fadi Bardawil, Revolution and Disenchantment. Arab Marxism and the Binds of Emancipation, Durham 2020; Zeina Maasri, Cosmopolitan Radicalism. The Visual Politics of Beirut’s Global Sixties. Cambridge 2020; Laure Guirguis (Hrsg.), The Arab Lefts. Histories and Legacies, 1950s-1970s, Edinburgh 2020.
2 Eine Ausnahme bilden neben den Vorarbeiten der Autorin insbesondere die Arbeiten von Barbara Winckler, darunter die von beiden gemeinsam herausgegebene Special Issue „Media Transitions and Cultural Debates in Arab Societies“ des „Middle Eastern Journal for Culture and Communication“15 (2022), H. 1–2.