M. Jakiša u.a. (Hrsg.): Südslawisches Wien

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Titel
Südslawisches Wien. Zur Sichtbarkeit und Präsenz südslawischer Sprachen und Kulturen im Wien der Gegenwart


Herausgeber
Jakiša, Miranda; Tyran, Katharina Klara
Erschienen
Anzahl Seiten
359 S.
Preis
€ 39,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Željana Tunić, Slavistik, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Wer durch Wien abseits der Touristenströme schweift, der weiß: Die Sprachen des ehemaligen Jugoslawiens sind in der Soundscape der Stadt allgegenwärtig. Doch obwohl „südslawische Sprachen seit Jahrzehnten fester Bestandteil des Wiener Klangteppichs“ (S. 337) sind, gab es bisher keine systematischen Untersuchungen ihrer visuell-semiotischen und (populär-)kulturellen Ausdruckformen in der österreichischen Hauptstadt – bis zu dem hier besprochenen Sammelband von Miranda Jakiša und Katharina Tyran. Er möchte somit eine wesentliche Forschungslücke schließen und wählt hierbei einen beeindruckend breiten interdisziplinären Zugang, wenn er Beiträge aus dem Bereich der Literatur-, Sprach- und Theaterwissenschaft über Geschichtswissenschaft bis hin zur Anthropologie vereint. Zugleich ist es ein erkennbares Anliegen dieser Aufsatzsammlung, eine gesellschaftliche Reflexion über die südslawische Migrationsgeschichte Wiens und ihre Auswirkungen auf die Gegenwart anzuregen.

In 12 der insgesamt 16 Beiträge schildern die Autor:innen verschiedene Artikulationsformen südslawischsprachiger Migrant:innen, die sich ihrer Marginalisierung widersetzen und einen festen Platz in der urbanen Öffentlichkeit Wiens beanspruchen. Ihre „Mehrfachzugehörigkeit“ (S. 22) zeugt von hybriden Lebenswelten, die die Stadt Wien und ihre Einwohnerschaft als „eine der diversesten in Europa“ (S. 49) erscheinen lassen. Wien bot Migrant:innen aus dem ehemaligen Jugoslawien einen Wohn- und Zufluchtsort, während diese die Stadt ihrerseits maßgeblich als kulturellen Raum prägten. Dass das Verhältnis zwischen Wien und seinen Einwohner:innen mit südslawischer Migrationsgeschichte von der Wechselseitigkeit her gedacht werden muss, ist eine wichtige Erkenntnis dieses Sammelbandes, wie die Herausgeberinnen bereits in ihrer Einleitung hervorheben. Ein Bewusstsein hierfür fehlt jedoch häufig in der Mehrheitsgesellschaft.

Dies erklärt auch die Motivation für eine emanzipative Aneignung und Umdeutung pejorativer Begriffe und Negativstereotypen, die sich mit den Bezeichnungen „Tschuschen“, „Gastarbeiter“ oder „Jugos“ verbinden. Dass dies in kreativen Prozessen erfolgt, zeigt bereits der erste Beitrag. In ihm analysiert Miranda Jakiša die in der Rap-Szene zum Ausdruck kommende Wiener migrantische Identität als Teil einer glokalen Urbanität und macht dabei deutlich: „Tschuschen-Rap ist nicht einfach eine Musik der gesellschaftlich unsichtbaren, bedauernswerten Underdogs, die sich nur aus dem ‚Untergrund‘ zu artikulieren wüssten, weil ihnen andere Zugänge verwehrt sind.“ (S. 22) Ihre Lieder seien vielmehr eine selbstbewusste, oft mit Ironie spielende „Liebeserklärung an die Stadt“ (S. 25). Der gemeinsam geteilte Erfahrungsraum verschiedener Generationen lässt sie dabei zu einer Rap-Community werden.

Dies stellen weitere Beträge des Sammelbandes auch für andere kulturelle Bereiche fest, so in Bezug auf die Aushandlung eines postjugoslawischen Raums in Wien, in dem sich Südslaw:innen jenseits der ethnonationalen Kategorien ihrer Herkunftsregion zu positionieren versuchen. Dabei erscheint vielen „Wien als Jugo-Hauptstadt“ (S. 227), wie dies Rada Živadinović mit den Worten einer Interview-Partnerin zugespitzt zum Ausdruck bringt. Die Erfahrung des Othering in der österreichischen Mehrheitsgesellschaft fördert ein Zusammengehörigkeitsgefühl: „[Die] Jugos oder JugoslaWiener∗innen aller Einwanderungsphasen verschmelzen mit ‚Jugo‘ gewissermaßen in begrifflicher Solidarität [...].“ (S. 35) Als die Anderen sowohl der österreichischen Gesellschaft als auch ihres nicht mehr existierenden Herkunftslandes engagieren sich die Chor-Aktivist:innen in dem Projekt „Hor 29. Novembar“ (Chor 29. November). Der Chor wurde am 29. November 2009 in Wien gegründet und nimmt mit diesem Datum unmittelbaren Bezug auf die Gründung des sozialistischen Jugoslawiens im Jahr 1943. Er hat zum Ziel, das antifaschistische Erbe Jugoslawiens mit Erfahrungen der Arbeitsmigration zu verbinden. In ihrem Beitrag reflektiert seine Leiterin Jana Dolečki „musikalische[n] Aktivismus“ (S. 52), bei dem „die Stadt Wien als Begegnungsort und Ort des Zusammenlebens unterschiedlicher postjugoslawischer nationaler Gruppen als ideale Plattform [erscheint], um eine (post)jugoslawische gemeinsame Identität zu reaktivieren“ (S. 51). Ähnliche Identitätsstrategien verfolgen der Gründer der Buchhandlung „Knjižara Mi“ Miroslav Prstojević und seine Kundschaft, wie die Untersuchung von Armina Galijaš zeigt. Es handelt sich um eine Buchhandlung, in der das Sortiment Literatur aus Belgrad, Zagreb, Sarajevo und Podgorica vereint und sich der politischen Ordnung neu entstandener Staaten „entzieht“, eine Buchhandlung, so Galijaš, „wie es sie nur in Wien geben kann“ (S. 143). Die Erzeugung nostalgischer Reminiszenz gehe somit mit der Entstehung neuer Zwischenräume einher.

Die Migrant:innen aus dem ehemaligen Jugoslawien verändern kreativ ihre Identitätsentwürfe sowohl gegenüber der alten als auch gegenüber der neuen Heimat, wie die Beiträge von Darija Davidović und Mascha Dabić über Kulturschaffende in Wien aufzeigen: Davidović gibt einen faszinierenden Einblick in den Bereich von Theater und Performance, Dabić in die Literaturszene Wiens. Sich neu entwerfen mussten auch Geflüchtete, die ihre Heimat während der jugoslawischen Zerfallskriege verließen. Auf welchen Wegen sie die österreichische Hauptstadt erreichten, welche „profanen Alltagsgegenstände“ nun „als Erzählgeneratoren und emotionale Ankerpunkte für die Erinnerung“ (S. 214) fungieren und inwiefern die Erinnerung an die nicht mehr existierende Heimat ihr Leben immer noch prägt, zeigte die von Vida Bakondy und Amila Širbegović kuratierte Ausstellung „Nach der Flucht“. In ihrem Beitrag über diese Ausstellung besprechen sie ihr zentrales Anliegen, Fluchterfahrungen anhand alltäglicher Gegenstände und Geschichten spürbar zu machen.

Die Mitglieder der bosnischen Community avancierten inzwischen medial zu „Musterschülern der Integration“ (S. 163), wie das Nedad Memić diskursanalytisch veranschaulicht. Auch im Unternehmertum wird heute das südslawische Label – meistens unter dem Begriff „Balkan“ – zur Erfolgsmarke, so Nadine Thielemann und Lejla Atagan (S. 319). Dennoch erscheinen in der südslawischen linguistic landscape Wiens informelle, „bottom up“ erfolgende Interventionen wie Graffiti oder Aufkleber sehr viel präsenter als „offizielle“ Setzungen durch Politik, Wirtschaft und Elitenkultur, wie der Beitrag Katharina Tyrans zeigt. Dabei werden nicht selten „Nationalismen einzelner post-jugoslawischer Länder reproduziert und auch an Wiener Wänden konfliktgeladen ausverhandelt“ (S. 353). Sie gehören ebenfalls zum post-jugoslawischen Raum Wiens. Es drängt sich die Frage auf, welche Lebenswelten sich hinter den öffentlich artikulierten visuellen Zeichen eröffnen. Dies zu beantworten, wäre aber nur durch umfangreichere kulturanthropologische Forschung möglich. Bedeutsam erscheint überdies die im Beitrag über die (Un-)Sichtbarkeit zugewanderter Rom∗nja in Wien von Sanda Üllen und Sabrina Steindl-Kopf gestellte Frage, inwiefern „symbolische Anerkennung“ tatsächlich „Inklusion und Teilhabe bedeuten“ (S. 267).

Der Sammelband zeigt überzeugend: „Wien ist nicht nur Wien, Wien ist auch Beč [Bosnisch/Kroatisch/Montenegrinisch/Serbisch für Wien]. Und Wien ist auch Dunaj [Slowenisch] oder Viena [Bulgarisch und Mazedonisch]“ (S. 9). Zugleich verdeutlicht die Publikation eindrucksvoll die Erkenntnismöglichkeiten einer kulturwissenschaftlichen „Postjugoslawistik“, wie sie von der Wiener Südslawistik mit Miranda Jakiša als wichtiger Impulsgeberin vertreten wird. Es wäre wünschenswert, wenn der Band als Referenzwerk für die Erforschung der Sichtbarkeit post-jugoslawischer Diasporen in weiteren Städten weltweit diente.