Cover
Titel
Albanien. Aus der Isolation in eine europäische Zukunft


Autor(en)
Tschinderle, Franziska
Erschienen
Anzahl Seiten
231 S.
Preis
€ 23,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Zsófia Turóczy, Südosteuropäische Geschichte und Anthropologie, Universität Graz

Franziska Tschinderle ist eine der wenigen journalistischen Stimmen, die vor Ort über Albanien berichtet. Die zweite, erweiterte Auflage ihrer Reportagensammlung unter dem Titel „Albanien. Aus der Isolation in eine europäische Zukunft“ erschien im Jahr 2022. Der Band umfasst 16 Reportagen als Ergebnis von über drei Jahren Recherche und circa 200 Interviews (S. 10). Die Kapitel folgen dem gleichen Schema: Sie beginnen mit einem Teaser, der mit einer Frage endet und als Aufhänger für die darauffolgende Geschichte dient, die Antworten geben soll. Diese Struktur zeigt zwar Ähnlichkeiten mit der wissenschaftlichen Vorgehensweise auf, es handelt sich jedoch um journalistische Texte. Dementsprechend beginnt jedes Kapitel nach dem Teaser mit einer Szene, aus der die Autorin die Komplexität ihrer Frage entfaltet: Sie geht nicht nur den Widersprüchen der albanischen Gesellschaft auf den Grund, sondern bettet diese in historische Kontexte ein, reist an entlegene Orte des Landes, spricht sowohl mit einfachen Leuten als auch albanischen Berühmtheiten und Expert:innen, um Antworten zu finden. Zum Schluss lässt Tschinderle ihre Protagonist:innen entweder selbst zu Wort kommen oder beschreibt ohne jeglichen moralisierenden Unterton eine Abschlussszene, die als Indiz für eine mögliche Zukunft steht.

Die im Buch angesprochenen Themen werden dem Fachpublikum wahrscheinlich bekannt sein, trotzdem kann Franziska Tschinderle auch für Albanien-Expert:innen mit neuen Details und interessanten Insider-Informationen dienen. Grundsätzlich wendet sich das Buch jedoch an alle, die gut vorbereitet ihre erste Albanien-Reise antreten möchten sowie ein leicht zugängliches, aber gleichzeitig auf einer soliden Wissensbasis stehendes Buch über dieses südosteuropäische Land lesen möchten. Für Historiker:innen kann das Buch durchaus interessant sein, wenn sie sich an die Forschungsregion Albanien beziehungsweise Südosteuropa herantasten möchten und/oder gerade nach einem Forschungsthema mit Albanien-Schwerpunkt Ausschau halten. Durch die Lektüre können sie sich inspirieren lassen, welche Themen auch außerhalb der Zunft der Geschichtswissenschaft auf Interesse stoßen, jedoch bis jetzt kaum ins Blickfeld der Forschung gerückt sind.

Das Auftaktkapitel trägt den Titel „Der letzte Stalinist“ und behandelt das Leben und den Tod von Enver Hoxha, der Albanien nach dem Zweiten Weltkrieg von der Außenwelt hermetisch abriegelte. Seine Diktatur wird durch die Brille von Zeitzeug:innen und einem Biographen beschrieben. Als die kommunistische Diktatur zerfiel, „begann der Weg aus der Isolation“, so die Autorin dem Motto des Buches folgend. Die darauffolgenden Kapitel berichten von Albaniens holprigem Weg in die Demokratie. Im nächsten Kapitel „Ein drittes Mal Edi Rama“ begleitet die Journalistin den albanischen Premier während seiner Wahlkampftour von 2021 und spricht mit ehemaligen Weggefährt:innen, politischen Gegnern und Schützlingen. Dabei zeichnet sie das Bild eines charismatischen und durchaus fähigen, gleichzeitig aber äußerst unsympathischen Menschen, der nur auf dem Papier Sozialdemokrat sei, in der Praxis jedoch im Sinne der internationalen Großinvestoren agiere (S. 31). Im dritten Kapitel steht das „Hotel Afghanistan“ im Vordergrund, ein wahrscheinlich einzigartiges Flüchtlingsheim. Im Zuge des Flüchtlingsdeals zwischen der Regierung von Edi Rama und den USA nach der Machtübernahme der Taliban 2021 beherbergt ein luxuriöses Hotel an der nordalbanischen Küste Geflüchtete aus Afghanistan, die auf ihre Transitvisa in die USA warten. Aus heutiger Sicht scheint diese „Großzügigkeit“ ein Experiment für den fragwürdigen Migrationsdeal mit Italien gewesen zu sein. Anfang November 2023 schlossen nämlich Edi Rama und seine Amtskollegin Giorgia Meloni ein Abkommen, welches es Italien ermöglicht, Asylverfahren zum Teil nach Albanien auszulagern, indem in internationalen Gewässern gerettete Geflüchtete nach Albanien gebracht und ihre Asylanträge dort von italienischen Behörden bearbeitet werden. Die vierte Reportage wendet sich dem „Phönix“ der albanischen Politik und größten politischen Gegner Ramas zu: Salih Berisha. Mit dem 79-Jährigen sprach die Autorin zu einem Zeitpunkt, als dieser den im Dezember 2023 verhängten Hausarrest wegen schwerwiegendem Korruptionsverdacht noch nicht kommen sah und gerade sein politisches Comeback plante. Tschinderle zeichnet nach, wie aus einem Reformkommunisten der Chefverhandler des Systemwechsels, Gründer der Demokratischen Partei [Partia Demokratike e Shipërisë], der erste demokratische Präsident des Landes und schließlich ein „fallengelassener Protegé“ (S. 70) wurde. Im folgenden Text rückt die Autorin mithilfe der Metapher „Verlobt, nicht verheiratet“ das ambivalente Verhältnis von Albanien und der Europäischen Union in den Fokus. Dabei resümiert sie verbittert die „Hinhaltetaktik“ der EU mit Blick auf den Erweiterungsprozess: „Die Erweiterungsmüdigkeit hinterlässt ein Vakuum [in Albanien], in dem es sich all jene, die ohnehin kein Interesse an Reformen hatten, gemütlich machen können. Damit stärkt die EU am Ende die Falschen“ (S. 83).

In den nächsten Kapiteln führt Tschinderle ihre Leser:innen in unterschiedliche Regionen des Landes: in den Norden („Mit dem Boot in die Berge“; „Dunkles Gesetz“), in den Süden („Eine Reise in den Süden“; „Das Ende von Lazarat“), in die Hauptstadt („Wem gehört Tirana?“) sowie in die Region des mittelalbanischen Bergmassivs Tomorr („Pilgern mit den Bektaschi“; „Mao Ce Dun“). In den Kapiteln aus Nordalbanien geht es um den Tourismus und den Kanun, das albanische Gewohnheitsgesetz, das immer noch Männer und Jungen in die Selbstisolation zwingt und Menschenleben fordert. Aus Südalbanien berichtet die Journalistin ebenso über den vom Kapitalismus entfesselten Tourismus und das Drogendorf in der Nachbarschaft des UNESCO-Weltkulturerbes Gjirokastra. Das ganze Dorf lebte praktisch vom Marihuana-Anbau. Als die Regierung dieses Geschäft vor einigen Jahren mit einem großen Polizeiaufgebot zerschlug, demonstrierte sie paradoxerweise nicht nur die Fähigkeit des Landes, Korruption und organisierte Kriminalität zu bekämpfen, sondern zerstörte gleichzeitig die Lebensgrundlage der Dorfbewohner:innen.

Die zwei letzten, besonders starken Kapitel („Musine“; „Muslim rettet Jude“) sind Exkurse ins albanische kollektive Erinnern sowie Vergessen. Das Kapitel „Musine“ handelt vom Leben und dem intellektuellen Erbe der ersten albanischsprachigen Schriftstellerin Musine Kokalari. Sie wurde 1946 vom Hoxha-Regime zu 18 Jahren Haft verurteilt und durfte nie wieder publizieren. Den Grund fast Tschinderle lapidar zusammen: „Die junge Frau forderte etwas, das es in Albanien in dieser Form noch nie gegeben hatte und das erst ab 1990 langsam erstehen sollte: eine echte Demokratie.“ (S. 215) Trotz ihrer intellektuellen Größe, ihrem schriftlichen Nachlass sowie ihrer Bedeutung für das albanische kollektive Gedächtnis ist sie außerhalb des Landes gänzlich unbekannt. Es ist auch Tschinderles Verdienst, dass diese progressive weibliche Stimme den deutschsprachigen Leser:innen nähergebracht wird. Das Kapitel „Muslim rettet Jude“ wiederum setzt mit folgendem erstaunlichen Satz ein: „Vor dem Zweiten Weltkrieg lebten circa 200 Juden in Albanien. Danach waren es zehnmal so viele.“ (S. 220) Darin versucht Tschinderle diese im albanischen Kollektivgedächtnis als positiv verankerte Meistererzählung zu dekonstruieren und spart dabei die Grautöne und Widersprüche nicht aus. Solcher Widerspruch ist etwa die aus ethno- oder klassenpolitischen Gründen erfolgte Kollaboration vieler Teile der albanischen Bevölkerung – besonders Großgrundbesitzer – mit den italienischen und deutschen Besatzern bei gleichzeitiger Verweigerung der Umsetzung einer antisemitischen Politik. Die Frage, „wieso Juden und Jüdinnen in Albanien überleben konnten […], ist noch lange nicht ausreichend erforscht“ (S. 220) – so zitiert Tschinderle abschließend die Historikerin Franziska Zaugg.

Die gründliche Recherchearbeit und objektive sowie gleichzeitig sensible Schreibweise geben dem Band eine besondere Tiefe. An den Texten merkt man, dass sie nicht von Wien oder Berlin aus geschrieben worden sind, sondern die Autorin längere Zeit in Albanien verbracht hat. Dazu kommt, dass die Texte frei von jeglichen Klischees sind. Tschinderle lässt ihre Gesprächspartner:innen sprechen, sie erspart dem Lesepublikum ihre eigenen Kommentare und überlässt ihm die Urteilsbildung und Interpretation (zum Beispiel S. 189). Lediglich im Text „Eine Reise in den Süden“ wäre es nötig gewesen, die Worte eines amerikanischen Reiseführers einzuordnen, behauptet dieser doch, dass Albanien 1913 mehr als die Hälfte seines Territoriums verloren habe (S. 107). Angesichts der Tatsache, dass vor 1913 nie ein albanischer Staat existiert hat, handelt es sich hierbei um einen Anachronismus. Zuletzt kann der Titel nach Maria Todorovas postkolonialem Einwand1 nicht unkommentiert bleiben. Dieser impliziert ein Land, das durch die jahrzehntelange politische Isolation aus Europa ausgeschlossen war und nach dem Systemwechsel versucht, den Weg nach Europa zu finden. Allerdings war auch das kommunistische wie auch davor das osmanische Albanien ein Teil Europas und damit der europäischen Geschichte – selbst wenn es auf den „geistigen Landkarten“2 vieler nicht als solches wahrgenommen worden sein mag. Es wäre zu wünschen, dass die Titel zu südosteuropäischen Themen bedachter seitens der jeweiligen Verlage und Autor:innen gewählt würden. Leider werfen solche auf Westeuropa zentrierten Titel auf den Inhalt des Buches einen langen Schatten – und das ist bei dieser hervorragenden Arbeit einfach zu schade.

Anmerkungen:
1 Maria Todorova, Imagining the Balkans, Oxford 1997.
2 Dagmar Gramshammer-Hohl / Karl Kaser / Robert Pichler, Einleitung, in: dies. (Hrsg.), Europa und die Grenzen im Kopf, Klagenfurt 2004, S. 7–20.

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