H. Byrkjeflot u.a. (Hrsg.): The Making and Circulation of Nordic Models, Ideas and Images

Cover
Titel
The Making and Circulation of Nordic Models, Ideas and Images.


Herausgeber
Byrkjeflot, Haldor; Mjøset, Lars; Mordhorst, Mads; Petersen, Klaus
Reihe
Nordic Studies in a Global Context
Erschienen
Abingdon 2022: Routledge
Anzahl Seiten
304 S., 20 Abb.
Preis
£ 130.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Judith Meurer-Bongardt, Abteilung für Skandinavische Sprachen und Literaturen, Universität Bonn

Wenn die Rede von „schwedischen“ oder „nordischen Modellen“, „Skandinavien“ oder „dem Norden“ ist, sind diese Begriffe je nach Kontext sehr unterschiedlich konnotiert. Intuitiv betrachtet scheinen sie in den europäischen Nachbarländern Skandinaviens überwiegend positiv besetzt, wobei diese Harmonie spätestens seit der restriktiven Einwanderungspolitik Dänemarks und Schwedens Agieren in der Corona-Krise durch Misstöne gestört wird. Dennoch wird in verschiedenen gesellschaftspolitischen und populären Diskursen (sei es zur Schulbildung, zur Gleichstellung der Geschlechter oder zur nachhaltigen Architektur) auf vorbildliche skandinavische „Modelle“ verwiesen, und auch jenseits der europäischen Grenzen spielen solche Modelle und Ideen in Politik, Kultur und Wirtschaft eine Rolle.1

In den nordeuropäischen Ländern gibt es zwar eine lange Tradition der transnationalen Zusammenarbeit und es finden sich Belege für gesamtskandinavische Identitäten, die in den letzten Jahren kultur- und literaturwissenschaftlich untersucht wurden, etwa unter dem Oberbegriff „Scandinavian Exceptionalism“2 oder im Forschungsprojekt „Scanguilt“ (2014–2018) der Universität Oslo, aber die gegenseitige Wahrnehmung der nordeuropäischen Länder untereinander ist häufig auch von Differenzen und Konkurrenz bestimmt.3 Auf der internationalen Bühne wird dagegen seit einigen Jahren auf ein gesamtnordisches Branding gesetzt und damit an die positiv besetzten Bilder des Nordens im nordeuropäischen Ausland angeknüpft.4

Die hier angedeutete Vielfalt und Ambiguität der Begriffe verstärkt sich noch, wenn man die sogenannten „Nordic Studies“ einbezieht. Diese Disziplin umfasst verschiedene Teildisziplinen von den Literatur-, Sprach- und Kulturwissenschaften bis hin zu Politologie, Soziologie und Wirtschaftswissenschaften. Selbst der geographische Raum, der Ausgangspunkt und Gegenstand dieser Studien und Studiengänge ist, erweist sich als weniger eindeutig, als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Ist Skandinavien (mit oder ohne Finnland und Grönland) gemeint? Oder richtet sich der Fokus auch auf den baltischen Raum, Nordamerika und Schottland? Schließlich – und hier setzt die neue Reihe „Nordic Studies in a Global Context“ an – wird der komparatistische Ansatz noch einmal deutlich erweitert, wenn die Wechselwirkungen zwischen den „nordischen“ Räumen und anderen Weltregionen untersucht werden.

Der vorliegende Band „The Making and Circulation of Nordic Models, Ideas and Images“, herausgegeben von den Soziologen und Historikern Haldor Byrkjeflot, Lars Mjøset, Mads Mordhorst und Klaus Petersen, ist als zweiter von bisher vier Bänden der Reihe ein gelungener Auftakt, denn die darin versammelten Beiträge bieten eine gute Ausgangsbasis für die Art von Forschung, die in der Reihe zusammengeführt und vorangetrieben werden soll. Ziel ist es, so der Verlag, die nordischen Kulturen, Institutionen, Rechtsgrundlagen und Leitbilder empirisch, kritisch und reflexiv zu beleuchten und dabei Brücken zwischen den geisteswissenschaftlichen Norden- und Nordeuropastudien sowie den Sozial- und Rechtswissenschaften zu schlagen.

Der Sammelband beginnt mit einer gut strukturierten Einleitung (Byrkjeflot, Mordhorst, Petersen), die den theoretischen Rahmen der Studie absteckt, einen Ausblick auf die folgenden Beiträge gibt und eine kompakte Geschichte des Konzepts liefert, das gemeinhin mit dem „nordischen Modell“ assoziiert wird und das die Autoren wie folgt skizzieren: „For most people, ‚the Nordic Model‘ represents a progressive pathway successfully combining factors such as economic growth, democracy, social and gender equality, social welfare, a highly skilled labor force, and high quality of living.“ (S. 1) Wie der Titel bereits andeutet, liegt der Schwerpunkt des Bandes auf den Transfers, den Zirkulationen und den wechselnden Akteurinnen und Akteuren, die zur Verbreitung und Ausformung nordischer Modelle beitragen. Im Mittelpunkt stehen vier Dimensionen: eine historisch-soziologische, eine transnationale, eine politische sowie eine kulturell-kommerzielle.

Der Akzent des Bandes liegt dabei deutlich auf sozioökonomischen und politischen Faktoren sowie auf Vermarktungsstrategien rund um ein „Nordic Branding“. Kulturelle Dimensionen wie Literatur, Kunst und andere mediale Repräsentationen spielen nur am Rande eine Rolle, was die Konzeption des Bandes etwas unausgewogen erscheinen lässt, zumal diese Bereiche seit der Entstehung des Wohlfahrtsstaats wesentlich zur Zirkulation der im Titel genannten „Images“ beigetragen haben und reichhaltige kultur- und literaturwissenschaftliche Forschung vorliegt.

Im ersten Teil des Bandes werden sozioökonomische und politische Konstruktionen des „nordischen Modells“ aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet. Zunächst werden die Entwicklung und die Widersprüche des Wohlfahrtsstaats in historischer Perspektive (Pauli Kettunen und Klaus Petersen) dargestellt, es werden Entwicklungen verschiedener nordischer Modelle in der Soziologie und Geschichtswissenschaft betrachtet, die Beziehungen des Konzepts zur Sozialdemokratie nachgezeichnet und die Transformation des in der Einleitung skizzierten „nordischen Modells“, das international vor allem mit Schweden in Verbindung gebracht wurde, zu einem „Nordic Branding“ herausgearbeitet (Lars Mjøset, Carl Marklund). Diese allgemeineren, stellenweise etwas abstrakt wirkenden Darstellungen werden sehr gut ergänzt durch drei thematisch enger gefasste Beiträge, die am Beispiel von französischen und spanischen Kontexten sowie der internationalen Entwicklungshilfe die Instrumentalisierung, Zirkulation und Modifikation verschiedener „nordischer Modelle“ illustrieren (Andreas Mørkved Hellenes, Alan Granadino und Peter Stadius, Sunniva Engh).

Im Mittelpunkt des zweiten Teils stehen nun „spezifische Sphären“ (S. 143) jenseits politischer und sozioökonomischer Konstruktionen, deren Einfluss aber auch hier von Bedeutung ist. In sechs Beiträgen werden spezifische Modelle präsentiert und reflektiert, wie der schwedische Ombudsmann und seine Adaption in den USA (Byron Z. Rom-Jensen), die rechtliche Regulierung der Prostitution (Malcolm Langford und May-Len Skilbrei), die Integration und Reflexion skandinavischer Gesundheitspolitik im britischen Gesundheitssystem (Tom Hoctor), Geschlechterquoten (Mari Teigen), das Konzept der Neuen Nordischen Küche (Silviya Svejenova, Jesper Strandgaard Pedersen und Haldor Byrkjeflot) sowie verschiedene Modelle nordeuropäischer Innenarchitektur mit Fokus auf Dänemark und Schweden (Mads Mordhorst). Gerade dieser Beitrag zeigt sehr anschaulich, wie und wo „nordische Modelle“ entstanden sind. So hatte das Konzept des „Nordic Design“ seinen Ursprung in den USA und gelangte von dort nach Nordeuropa, wo es jeweils sehr unterschiedliche Ausprägungen unter Rückgriff auf demokratische Werte erfuhr (von exklusivem „Art and Craft“ in Dänemark bis zu preiswertem IKEA-Design in Schweden).

In ihrem Schlusswort fassen drei der vier Herausgeber die Ergebnisse und Verdienste ihres Bandes zusammen. Ihnen ist insofern voll zuzustimmen, als sie einen systematischen und fundierten Überblick zur Entstehung, internationalen Verbreitung und Zirkulation nordischer Modelle geben. Dies ist angesichts der eingangs erwähnten Komplexität und Mehrdeutigkeit der vielfrequentierten Begriffe kein einfaches Unterfangen. Der Band wird sicherlich vielen Forschungsbereichen als Grundlage und Ausgangspunkt für weitere Untersuchungen dienen und auch dem außeruniversitären Diskurs über Skandinavien, Nordeuropa oder den Norden eine solide Basis bieten.

Dennoch wird man dem eigenen Anspruch nicht ganz gerecht. Es wird dezidiert darauf hingewiesen, dass die Forschungsperspektive international ausgerichtet ist und man in diesem Zusammenhang zu globalen Erkenntnissen über die Rezeption und Zirkulation nordischer Modelle gelangen möchte. De facto beschränkt sich die Perspektive jedoch mit wenigen Ausnahmen auf eine Handvoll westeuropäischer Länder (Spanien, Frankreich, Großbritannien), die USA und ein eher diffuses und zu generalisierendes Konstrukt „westlicher“ Länder. Die osteuropäischen Länder und der deutschsprachige Raum spielen so gut wie keine Rolle, obwohl gerade hier politische, kulturelle und sozioökonomische Adaptionen von Ideen, Bildern und Modellen des Nordens eine große Rolle spielten und spielen. Auch die asiatischen Länder (insbesondere Japan) hätte man gern miteinbeziehen können, um dem Ziel einer globalen Perspektive deutlich näher zu kommen. Ähnlich unausgewogen zeigt sich der Umgang mit dem nordeuropäischen Raum. Island und Finnland werden eher oberflächlich behandelt, und dies, obwohl gerade Finnland Schweden gelegentlich den Rang abzulaufen scheint, wenn es um Vorzeigemodelle für das nicht-skandinavische Ausland geht (Stichworte: PISA, NATO, Happiness-Index). Grönland und Sápmi werden gänzlich ausgeklammert, was zwar damit erklärt werden kann, dass diese Regionen in den traditionellen „nordischen Modellen“ keine Rolle gespielt haben, aber gerade mit Blick auf das Anthropozän und seine Klimadiskurse ist dies durchaus der Fall. Auch in diesem Kontext wird der Norden sowohl als klimatisch stark betroffene, als auch als modellhafte Region etwa für nachhaltige Architektur, Klimaliteratur, ÖPNV oder Fridays-for-Future in den letzten Jahren in den Blick genommen.

Andere aktuelle Krisen wie die Corona-Pandemie und der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine, die ebenfalls Einfluss darauf haben, wie Nordeuropa international wahrgenommen wird und wie sich „nordische Modelle“ entwickeln und zirkulieren, sind vermutlich aufgrund des Erscheinungsdatums der Publikation nur am Rande oder gar nicht berücksichtigt worden. Für zukünftige Analysen dieser Entwicklungen bietet der vorliegende Band jedoch nicht nur inhaltlich, sondern auch methodisch einen sehr guten Ausgangspunkt und damit einen vielversprechenden Auftakt der „Nordic Studies in a Global Context“, auf deren weitere Publikationen man sehr gespannt sein darf.

Anmerkungen:
1 Vgl. Norbert Götz / Heidi Haggrén (Hrsg.), Regional Cooperation and International Organizations. The Nordic Model in Transnational Alignment, London 2009; Jens Bjerring-Hansen / Torben Jelsbak / Anna Estera Mrozewicz (Hrsg.), Scandinavian Exceptionalisms. Culture, Society, Discourse, Berlin 2021.
2 Vgl. Bjerring-Hansen / Jelsbak / Mrozewicz (Hrsg.), Scandinavian Exceptionalisms.
3 Vgl. Johan Strang, Bilden av Sverige i Norden. En studie i Danmark, Finland, Island och Norge, Rapport från Svenska Institutet 2021, https://si.se/app/uploads/2021/03/bilden-av-sverige-i-norden.pdf (07.02.2024); Johan Strang, The Rhetoric of Nordic Cooperation: From the Other Europe to the Better Europe?, in: Jani Marjanen / Johan Strang / Mary Hilson (Hrsg.), Contesting Nordicness. From Scandinavianism to the Nordic Brand, Berlin 2021, S. 103–131, sowie die Rezension von Olaf Mörke, in: H-Soz-Kult, 21.10.2022, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-115422 (09.02.2024); Bernd Henningsen, Die Welt des Nordens. Zwischen Ragnarök und Wohlfahrtsutopie: Eine kulturhistorische Dekonstruktion, Berlin 2021.
4 Vgl. Marjanen / Strang / Hilson (Hrsg.), Contesting Nordicness.