Post-Panslavismus: Slavizität, Slavische Idee und Antislavismus im 20. und 21. Jahrhundert

Post-Panslavismus: Slavizität, Slavische Idee und Antislavismus im 20. und 21. Jahrhundert

Projektträger
Geisteswissenschaftliches Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas an der Universität Leipzig (GWZO) ()
Ausrichter
Ort des Projektträgers
Leipzig
Land
Deutschland
Vom - Bis
01.01.2011 - 31.12.2013
Von
Stefan Troebst

In den Jahren 2011 bis 2013 fördert das Bundesministerium für Bildung und Forschung das Leipziger Forschungsprojekt „Post-Panslavismus: Slavizität, Slavische Idee und Antislavismus im 20. und 21. Jahrhundert / Post-Panslavism: Slavicness, the Slavic Idea and Anti-Slavism in the 20th and 21st Centuries“. Die am Geisteswissenschaftlichen Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas an der Universität Leipzig (GWZO) tätige interdisziplinäre Projektgruppe wird von Prof. Dr. Stefan Troebst geleitet. Projektbearbeiterinnen und -bearbeiter sind die Kunsthistorikerin Dr. Agnieszka Gąsior, die zugleich als Projektkoordinatorin fungiert, die Zeithistoriker Dr. Lars Karl und Dr. Adamantius Skordos sowie die Slavistin Ruža Tokić M.A.

Das Projekt verfolgt das Ziel, in einer Kombination von zeithistorischen, kunsthistorischen und kulturgeschichtlichen Herangehensweisen in vergleichender Perspektive die Konjunkturen der Vorstellung von der Einheit aller Slaven im 20. Jahrhundert zu untersuchen. Slavizität fungiert periodisch als politisch wirksames Mobilisierungsinstrument, sie leitet das Erkenntnisinteresse kulturwissenschaftlicher Forschung, und sie ist bis heute ein höchst produktiver Mythos in Kunst, Musik und Literatur. Als transnationales Identifikationsmuster in verschiedenen kulturell-politischen Kontexten erlebte dieses in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts unter dem Begriff des „Panslavismus“ aufgekommene Phänomen auch im 20. und beginnenden 21. Jahrhundert seine Konjunkturen und nahm als solches unterschiedliche Formen an. Als staatsbildende Integrationsstrategie wurde es in der Tschechoslowakei, in Jugoslawien oder in der Sowjetunion verwirklicht und spielte auch für die 1991 gegründete Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (die bis zur Beteiligung Kasachstans als Gemeinschaft S l a v i s c h e r Staaten konzipiert war) sowie für die anämisch gebliebene Föderation zwischen Rußland und Belarus‘ mit ihrem explizit ostslawischen Identitätsmuster eine zentrale Rolle.

Das Interesse der Projektgruppe richtet sich auf verschiedene Formen der Identitätsbildung sowie geschichtskultureller und politischer Orientierung durch Bezugnahmen auf „Slaventum“ nach der Hochzeit des Panslavismus als zunächst habsburgisches Phänomen sowie sodann als Bestimmungsfaktor zarischer Außenpolitik - d. h. vom Neoslavismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts bis zur Reaktivierung „slavischer Solidarität“ im serbisch-kosovarischen Konflikt 1998/99. In den Blick genommen werden dabei sowohl nationale Diskurse als auch transnationale Aktionsfelder, desgleichen kritische Reaktionen seitens nicht-slavischsprachiger Gemeinschaften und Nationalgesellschaften, deren Antislavismus die Idee der Zusammengehörigkeit der Slaven als solche zwar nicht anzweifelt, aber aus deren negativer Umwertung ein eigenes integratives Potenzial bezieht. Ein vergleichender Blick auf andere Panbewegungen wie Turanismus bzw. Pantürkismus, Panarabismus, Panafrikanismus oder Panamerikanismus ist ebenso vorgesehen wie die Einbeziehung des Feindbildes eines teutonischen „Drangs nach Osten“ als Projektions- und Reibungsfläche allslavischer Einigungsbemühungen.

In das Forschungsvorhaben sind vier Einzelprojekte integriert:

Die Kunsthistorikerin Agnieszka Gąsior untersucht das künstlerische Schaffen polnischer, tschechischer, slowakischer und sorbischer Maler und Grafiker in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts unter der Frage des Einflusses der bildenden Kunst auf die Formierung einer Vorstellung von der Gemeinschaft slavischer Völker („Das Slaventum als (trans)nationales Argument. Positionen polnischer, tschechischer und slowakischer Künstler in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts“). Welche Positionen die Künstler bezogen, wie sie mit ihren Werken in die aktuellen Debatten hineinwirkten und schließlich welchen Einfluss sie auf die Prägung einer (trans)nationalen Vorstellung vom „Slaventum“ nahmen, sind zentrale Anliegen des Projektes. Es gilt einerseits, das Beziehungsgeflecht der Kunst- und Kulturschaffenden, ihre vielschichtigen Kontakte und Wechselbeziehungen sowie gegenseitige Bezugnahmen und Abgrenzungen auf der nationalen Bühne und über die Nationsgrenzen hinaus aufzudecken und zu beleuchten. Andererseits sollen Motive und Sujets, die sowohl allslavisch als auch national konnotiert wurden, auf ihr symbolisches Potential hin untersucht werden.

Die Selbstdefinition slavischer Nationen und die damit verbundene politische Brisanz in Hinblick auf nichtslavische Gesellschaften wurden insbesondere an den Überlappungszonen zu nichtslavischen Gesellschaften offensichtlich. Dieser Problematik sind zwei weitere Projekte gewidmet. Adamantios Skordos untersucht am Beispiel von Griechenland und Italien, welche Rolle slavische Zugehörigkeits- und Einigungskonzeptionen bei der Selbstverortung dieser nichtslavischsprachigen Nationalgesellschaften gespielt haben („,Schreckgespenst und Erzfeind Panslavismus‘: Griechischer und italienischer Anti(pan)slavismus im ägäisch-adriatischen Raum“). Die 1940er Jahre sind sowohl im griechischen als auch im italienischen kollektiven Gedächtnis von zutiefst traumatischen Ereignissen geprägt, bei deren Zustandekommen aus Sicht vieler Griechen und Italiener der unter kommunistischen Vorzeichen stehende Panslavismus („Slavokommunismus“) eine herausragende Rolle gespielt hat. Während das Schreckbild des "panslavismo" in Italien mit grausamen Hinrichtungen von Antikommunisten bzw. Faschisten, dem „Istrischen Exodus“ und dem Verlust zahlreicher Adria-Gebiete verbunden wurde und wird, deutete das bürgerlich-royalistische Lager in Griechenland seine militärische Auseinandersetzung mit dem Kommunismus in einen „Kampf des Hellenismus gegen den sowjetischen Panslavismus“ um.

Dass das Verhältnis slavischer und nichtslavischer Gemeinschaften nicht einzig von Feindschaft geprägt war, zeigt das Vorhaben von Ruža Tokić, das der Entstehung, Verbreitung und der inhaltlichen Ausgestaltung serbisch-griechischer und serbisch-bulgarischer Beziehungskonzepte im 20. Jahrhundert nach geht („Von ‚orthodoxen Brüdern‘ und ‚traditionellen Gegnern‘ – Orthodoxie, Slavizität und Tradition in serbisch-griechischen und serbisch-bulgarischen Nachbarschaftsdiskursen im 20. Jahrhundert“). Anhand der Analysekategorien „Orthodoxie“, „Slavizität“ und „Tradition“ werden die im medialen, wissenschaftlichen und politischen Diskurs vermittelten Vorstellungen einer besonderen Verbundenheit von Serben und Griechen im Kontrast zum serbisch-bulgarischen Beziehungsparadigma auf ihren ideologischen Gehalt, ihr Identifikationsangebot und ihre Wirkungsmacht untersucht. Ein zeitlicher Schwerpunkt wird dabei auf die beiden Perioden der „drei“ Balkankriege 1912-1918 und der Kriege im zerfallenden Jugoslawien 1991-1999 gelegt, wobei vor allem das rhetorische Emotionalisierungs- und das politische Mobilisierungspotential analysiert werden.

Auch in Konfliktsituationen zwischen sehr spezifischen, mitunter an der Peripherie slavischer Siedlungsgebiete lebender Bevölkerungsgruppen und den benachbarten, in der Regel nicht-slavischen Gemeinschaften werden Konstruktionen von Slavizität und Panslavismus mitunter als Argument ins Feld geführt, wie Lars Karl am Beispiel der neuerstandenen Kosakenbewegung(en) in der Russländischen Föderation und in nicht-russischen-Gebieten der ehemaligen Sowjetunion aufzeigt („,Bauernkrieger unter dem Doppeladler‘: Die Wiedergeburt des russischen Kosakentums“). Gegenwärtige kosakische Identitätsmodelle offenbaren das ganze Spektrum einer mehr als 500 Jahre umfassenden Geschichte von Integration und Abgrenzung – sowohl zwischen Kosaken und russischem Zentralstaat als auch zwischen „slavischen“ Kosaken und ihren „nicht-slavischen“ Nachbarn. Thematisiert wird neben den weitgefächerten „kosakischen“ Forderungen im Bereich der ländlichen Selbstverwaltung, der militärischen Reorganisation und dem Phänomen der möglicherweise anstehenden Teilerneuerung der im Zarenreich existierenden ständischen Privilegien auch das Verhältnis des neuen Kosakentums zu nicht-russischen Ethnien und dessen Rolle in ethno-territorialen Konflikten, wie etwa im Nordkaukasus, in Abchasien und in Moldova (Transnistrien).

Die „slavische“ Unterfütterung des primär machtpolitisch bedingten Bruches zwischen der stalinistischen Sowjetunion und ihrem kommunistischen „Musterschüler“ Jugoslawien untersucht Stefan Troebst mit Blick auf die verdeckte Konkurrenz in der Politik Moskaus und Belgrads gegenüber den slavischsprachigen Staaten Ostmittel- und Südosteuropas – Bulgarien, Polen und Tschechoslowakei (einschließlich der Sorbische Fragen) – sowie mit Blick auf die slavischsprachigen Diasporagruppen Nordamerikas („Stalinismus - ‚Slaventum‘ - ‚Tito-Faschismus‘: Die slavische Dimension des sowjetisch-jugoslawischen Konflikts“). Dabei stieß die „Einmischung“ der jugoslawischen Kommunisten in die Sorbenpolitik von SMAD und SED ebenso auf sowjetische Kritik wie die Pläne einer gesamtsüdslavischen, Jugoslawien und Bulgarien umfassenden Balkanföderation, desgleichen der Versuch Titos, sich bei Kanadiern und US-Amerikanern serbischer, polnischer, tschechischer u. a. Herkunft als der eigentliche Sieger über das nationalsozialistische Deutschland darzustellen und diese als Unterstützer zu gewinnen. Unmittelbare Folge der neuen Frontstellung im kommunistischen Lager war 1949 das abrupte Stoppen sowjetischer „allslavischer“ Propaganda, wie sie im „Großen Vaterländischen Krieg“ konzipiert worden war, sowie der jugoslawische Schwenk vom transnationalen Slaventum auf das Jugoslaventum als innerstaatliche Integrationsideologie.