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Geschichte allgemein

O. Weiss: Der erste aller Christen

Neuner, Peter </>
 
Autor(en):
Titel:Der erste aller Christen. Zur deutschen Pascal-Rezeption von Friedrich Nietzsche bis Hans Urs von Balthasar
Ort:Regensburg
Verlag:Pustet
Jahr:
ISBN:978-3-7917-2461-4
Umfang/Preis:238 S.

Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Peter Neuner
E-Mail: </>

Blaise Pascal (1623–1662) gehört zweifellos zu den Großen der abendländischen Geistesgeschichte. Naturwissenschaftler, vor allem Mathematiker, kennen die von ihm erfundene Rechenmaschine, das Pascal’sche Dreieck, die Pascal’sche Schnecke, die nach ihm benannte Einheit des Drucks und die Computer-Programmiersprache, die heute seinen Namen trägt. Theologen begegnet er am ehesten unter der Pascal’schen Wette, einem der Wahrscheinlichkeitsrechnung verpflichteten Argument für die Existenz Gottes, den 1656/57 verfassen Briefen an einen Mann in der Provinz (Lettres provinciales), einer schneidenden, brillant geschriebenen Kritik an der zu seiner Zeit von den Jesuiten bestimmten Theologie, den Pensées, Gedankensplitter über die Religion und einige andere Gegenstände (1669), die er für eine Apologie des Christentums gesammelt hatte, und dem Mémorial, einem Zeugnis einer mystischen Erfahrung, die er 1654 niederschrieb und, um sie beständig bei sich zu führen, in seine Kleidung einnähte, und die nach seinem frühen Tod – er starb bereits 39-jährig – gefunden wurde.

Pascal scheint zwei Gesichter zu haben: neben dem strengen Scientisten, der entscheidende Impulse nicht allein für die Wahrscheinlichkeitsrechnung, sondern auch für Integral und Differenzialrechnung gegeben hat, steht der Mystiker, der die «raisons du coeur», die Gründe des Herzens verteidigte, von denen der Verstand nichts weiß. Er stand dem Rigorismus des Jansenismus und dem von dort her inspirierten Kloster Port-Royal nahe, polemisierte gegen ein «billiges» Christentum und betonte den Sprung, den der Glaube an den «verhüllten Gott» verlangt. Aber er lebte nicht in zwei Welten, die nichts mit einander zu tun haben, sondern er versuchte sie zu verbinden: sein Argument von der Wette beweist dies ebenso wie seine Lettres provinciales, in denen er einen theologischen Rationalismus brandmarkte, der bei aller Korrektheit den Menschen emotional nicht zu bewegen vermochte.

In dieser Vielschichtigkeit stand Pascal außerhalb der Schulen neuzeitlicher Philosophie und Theologie und ließ sich von keiner der Richtungen beanspruchen, die sich vor allem seit der Aufklärung bildeten. In gewisser Weise blieb er eine Rätselgestalt, die sich gegen jede Zuordnung zu einem gegebenen System sperrte. So ist es kein Zufall, dass gerade Denker, die in vergleichbarer Weise nicht in das übliche Schema passten, sich oft auf Pascal beriefen und ihren Ansatz in der Auseinandersetzung mit ihm exemplifizierten. Diese Spur verfolgt Otto Weiss in der vorliegenden Studie zu Pascal.

Der Autor beschränkt sich dabei auf die katholische deutsche Pascal-Rezeption vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zu Hans Urs von Balthasar. Diesen Rahmen überschreitet die Untersuchung nur an wenigen Stellen: in einem Rückblick auf die Vorgeschichte und einem Ausblick auf neuere Arbeiten, insbesondere von Albert Raffelt, in einem knappen Abstecher in die umfangreiche französische und italienische Pascal-Forschung und einige Hinweise auf die philosophische Auseinandersetzung, die sich vor allem mit den Namen Nietzsche, Schopenhauer, Scheler und Przywara verbindet. Nietzsche hat sich intensiv mit Pascal auseinandergesetzt und ihn als einen der wenigen ihm ebenbürtigen Gegner gesehen. Von ihm stammt der Ausspruch, Pascal sei «Der erste aller Christen», der dem Buch seinen Titel gab. Innerhalb dieses vorgegebenen Rahmens kann die Arbeit auf viele bekannte und weniger bekannte Namen verweisen. Otto Weiss ist bestens ausgewiesen, solche Spuren aufzuzeigen. In seiner großen Studie über den «Modernismus in Deutschland» ist er von einem weit gespannten Modernismusbegriff ausgegangen und hat viele Denker unter diesen Begriff subsumiert, die sich der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts offiziell propagierten Neuscholastik widersetzt hatten. Unter diesen haben sich viele, wie diese Studie zeigt, mit Pascal auseinandergesetzt. Als besonders gewichtige Namen sind festzuhalten Friedrich Nietzsche, aber auch die «Modernisten» Alfred Loisy, Henri Bremond, Maurice Blondel, Ernesto Buonaiuti. Zu ihnen gesellt sich die Zeitschrift Das Hochland, die häufig auf Pascal zu sprechen kam. Neben diesen eher historisch relevanten Namen begegnet nach dem Zweiten Weltkrieg eine intensive Pascal-Rezeption in einem christlichen Existenzialismus. Wichtigste Namen sind hier Peter Wust und Reinhold Schneider, doch auch die umfangreichen Pascal-Studien von Romano Guardini, Ewald Wasmuth und Hans Urs von Balthasar lassen sich dieser Tradition zurechnen. Von erheblichem Gewicht in der gegenwärtigen Diskussion sind die philosophischen Bemühungen um Pascal bei Max Müller und Bernhard Welte, wo gerade die Verborgenheit Gottes und die Erfahrung des Fehlens Gottes als Wege zu einer heute möglichen Gotteserkenntnis thematisiert werden. Hier wie bei den Existenzialisten erscheint Pascal oft neben Kierkegaard, verschiedentlich auch neben Newman und seiner Grammatik der Glaubenszustimmung. Neben den genannten Autoren behandelt das Buch zahlreiche Schriftsteller, die sich mit Pascal auseinandergesetzt haben, die aber, zu Recht oder zu Unrecht, heute weniger bekannt sind.

Bei allen behandelten Autoren gibt Otto Weiss zunächst eine knapp gefasste Einführung in ihr Denken und die Herausforderung, auf die sie eine Antwort zu geben suchten. Er stellt dar, wie sie Pascal rezipierten, kritisierten oder sich an ihm abarbeiteten. Verschiedentlich macht der Verfasser auch deutlich, dass sie ihre eigene Position an Hand von Pascal exemplifizierten, sodass in manchen Entwürfen, und davon ist nach Weiss auch jener von Guardini nicht ausgenommen, eher der Interpret als Pascal begegnet. Pascal, so wird in der Studie deutlich, ist einer der wichtigen Anreger christlicher Existenz gerade in einer Zeit, in der religiöse Existenz als immer weniger plausibel erscheint und nicht selten von einer konturlosen Spiritualität überdeckt wird, wo Naturwissenschaften ein Monopol auf Objektivität beanspruchen und das interdisziplinäre Gespräch, das vielfach gefordert wird, sich nicht selten in parallelen Monologen erschöpft, in denen sich beide Seiten so sehr vor Grenzüberschreitungen hüten, dass sie Gefahr laufen, für einander irrelevant zu werden und einander nichts mehr zu sagen zu haben. Unter diesen die Gegenwart bestimmenden Bedingungen hat das offene und keineswegs fertige Denken Pascals nicht abgeschlossene Lösungen parat, aber es bietet Anregungen, wie die unterschiedlichen Herangehensweisen einander befruchten können.

Die Studie von Otto Weiss zeigt auf, wie dieses Gespräch exemplarisch in manchen Denksystemen Frucht getragen hat. Sie bietet keine fertigen Antworten, solche könnten sich nicht auf Pascal berufen. Aber sie kann Naturwissenschaftler, Philosophen und Theologen anregen, diesen Dialog heute selbst zu führen.

Zitierweise Peter Neuner: Rezension zu: Otto Weiss, «Der erste aller Christen». Zur deutschen Pascal-Rezeption von Friedrich Nietzsche bis Hans Urs von Balthasar, Regensburg, Pustet, 2012. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions und Kulturgeschichte, Vol. 108, 2014, S. 580-582. <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/infoclio/id=27497>