Titel: | Religion und Grenzen in Indien und Deutschland. Auf dem Weg zu einer transnationalen Historiographie |
Herausgeber: | Juneja, Monica; Margit, Pernau |
Ort: | Göttingen |
Verlag: | V & A Books |
Jahr: | 2008 |
ISBN: | 978-3-89971-528-6 |
Umfang/Preis: | 476 S. |
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Nicole Priesching, Karl- Erberhard Universität Tübingen Katholische theologische Fakultät
E-Mail: <nicolepriesching
Der vorliegende Sammelband ist ein Beispiel dafür, dass sich Forscher und Forscherinnen über zwei so entfernte Länder wie Deutschland und Indien überraschend viel zu sagen haben. Insofern trägt er nicht nur zum besseren Verständnis vom Zusammenhang von Religion und Grenzen bei, sondern überwindet auch die Grenzen nationaler Perspektiven – was nicht zuletzt an der präzisen Themenstellung liegt: Welche Bedeutung hat Religion im Hinblick auf unterschiedliche Grenzen (zwischen religiösen Gruppen, zwischen Nationen und in einer Nation, zwischen den Geschlechtern und zwischen sozialen Ständen und Schichten)? Dabei wird der Begriff «Religion» immer wieder problematisiert und auf das jeweilige Thema hin präzisiert.
Die ersten fünf Beiträge sind dem Thema «Grenzen zwischen religiösen Gruppen» gewidmet. Shail Mayram problematisiert die Diskussion um religiöse Identitäten und macht darauf aufmerksam, dass es z.B. in Indien zahlreiche Gruppen gibt, die zugleich Hindus und Muslime sind (vgl. 58). Um dieses Phänomen besser beschreiben zu können, entwickelte er in den 1990er Jahren das Konzept der «liminalen Idenitäten» (Liminality), das vorher zur Beschreibung von Übergangsriten verwendet wurde, und grenzt es von der Idee des Synkretismus ab (67–73). Im Unterschied dazu macht Thomas Mergel deutlich, dass es aus europäischer Perspektive im Prinzip unmöglich ist, zwei Religionen anzugehören (79). Allerdings war die Trennung auch in Europa keine vollständige. In einem sehr guten Überblick lotet Mergel für das 19. Jahrhundert Nähen und Grenzen verschiedener religiöser Gruppen aus und kommt zu dem Ergebnis: «Die liminalen Dimensionen lagen wenn, dann ausserhalb der etablierten Religionen» (98). Barbara Stambolis bestätigt die Ergebnisse Mergels nochmals speziell für die konfessionellen Verhältnisse in Deutschland. Darüber hinaus geht sie auf die Deutungsmacht und -vielfalt architektonischer Symbolik ein, deren Gesamtbedeutung für die Konfessionalisierung jedoch etwas unscharf bleibt. Monica Juneja behandelt methodisch und begrifflich äusserst reflektiert die erste protestantische Mission in Indien (Tranquebar-Mission) zwischen 1706 und 1845. So weist sie auf Unterschiede im Religionsbegriff hin, da Dharma mehr als Konfession im engeren Sinn bedeute (137). Auch Konversion im indischen Kontext (Ausdruck wachsender Kastenidentität) sei etwas anderes als in der europäischen Evangelisierungsrhetorik (Ausrottung des Heidentums). Wünschenswert sei eine erweiterte Perspektive der Missionsgeschichte zur Erforschung translokaler Wissensnetzwerke, an denen Missionare beteiligt waren (139). Sudhir Chandra konkretisiert diese Forderungen in seinem Beitrag über Ganpatrao Raghunath Navalkar (1837–1912), der 1856 zum Christentum konvertiert war und Lehrer und Prediger des Missionsinstituts der schottischen Freikirche in Indien wurde. Erfolgreich aber schlechter bezahlt als seine europäischen Kollegen kam es zum Zerwürfnis mit dem Institut, was bei Navalkar zur Überzeugung führte, ein Märtyrer der Diskriminierung zu sein. Am Beispiel dieses tragischen Helden wird der Konflikt zwischen einem inspirierten Christentum einer indischen Missionarsgeneration und den als unchristlich empfundenen Regeln christlicher Organisationen europäischer Provenienz deutlich. Aus theologischer Sicht enthält dieser Beitrag eine wichtige kulturkritische Botschaft.
Die nächsten fünf Beiträge setzen sich mit dem Verhältnis von Religion und nationaler Identität auseinander, beginnend mit Heinz-Gerhard Haupt aus westeuropäischer Perspektive. Welchen Anteil hatten Pfarrer und Priester an den Nationalbewegungen? Inwiefern wurde Religion als Widerstand gegen Nationsbildung eingesetzt? Welche Identitäten wurden dominant und verpflichtend ausgewählt? Über die Juden als Teil der deutschen Nation handelt der Beitrag von Uri R. Kaufmann, wobei auch Vergleiche mit Frankreich und Italien gezogen werden. Dabei wird deutlich: «Nations- und Religionszugehörigkeit sind historisch immer offen gewesen, es hing und hängt von der Politik und den Emotionen ab, wie liberal der Zugang zur ‹Nation› ist» (203). Claude Markovitz fragt danach, warum es in Indien keine Säkularisation gab, die mit Europa vergleichbar wäre? Lag das an strukturellen Unterschieden oder spielten Individuen wie Ghandi eine grössere Rolle (207)? Seiner Meinung nach entwickelte sich in Indien eine eigene Form von Säkularisation, in welcher religiöse Gemeinden neue Funktionen übernahmen (Kommunalismus), denn trotz der wachsenden Rolle im sozialen Leben schwand der Einfluss der Religion als Symbolsystem. So sah auch Ghandi, dass Religon sowohl in Europa wie in Indien zu einer «Samstags- oder Sonntagssache» wurde (218). Gyanendra Pandey fragt am Beispiel der indischen Teilung 1947, wie lokale Gemeinschaften in Grenzregionen mit der Erinnerung an die damit verbundene Gewalt (Massenmorde, Raub von Frauen und Mädchen) umgehen. Dafür wertete er 1995 geführte Interviews mit Überlebenden aus. Er rekonstruiert einen Gemeinschaftsdiskurs, in dem Gewalt stets «da draussen», aber nie im eigenen Dorf stattgefunden hat. Die Erinnerung steht im Dienst der Selbstvergewisserung eines heroischen Sinns der Gemeinschaft, die auf diese Weise stark aufgewertet wird (232). Manuel Borutta zeichnet das «orientalische» Bild des Katholizismus im deutschen antikatholischen Diskurs des 19. Jahrhunderts nach. Er leistet damit einen Beitrag zur diskursiven Ausgrenzung einer religiösen Gruppe, wobei die Kurie im Zuge der Ultramontanisierung des Katholizismus nach 1850 selbst Elemente der orientalischen Fremdzuschreibung übernahm (257). Insofern wäre zu hinterfragen, ob bei so viel ultramontaner Unterstützung die unumstrittene Dichotomie von Katholizismus und Moderne nach 1900 wirklich als «Erfolg des antikatholischen Diskurses» (265) verbucht werden kann.
Vier Beiträge gehen dem Themenfeld «Religion und die Grenzen zwischen den Geschlechtern » nach. Zunächst hinterfragt Margit Pernau die Geschlechtergrenzen im katholischen Diskurs der Kaiserzeit. Sehr überzeugend zeigt sie, an welchen Punkten der katholische und der bürgerliche Diskurs übereinstimmten und wo Unterschiede bestanden. Nach Ulrike Gleixner lässt sich auch am Pietismus zeigen, wie der religiöse Anspruch in manchen Bereichen Geschlechtergrenzen aufhob, wobei sich die Geschlechtergrenzen der Gesellschaft dennoch in der pietistischen Kultur auswirkten. Sie arbeitet die Entstehung des pietistischen «Ich» durch die Praxis des biographischen Schreibens heraus und zeigt die religiöse Subjektwerdung des pietistischen Bürgertums als Quelle für wachsende Gleichheitsideen auf (330). Die beiden folgenden Beiträge wenden sich den Frauen in Indien zu. So behandelt Barbara D. Metcalf die Frage, inwiefern auch muslimische Denker im kolonialen Indien an den indischen Reformen für die Verbesserung der Lage der Frauen (Gesetze von 1911, 1938 und 1939) interessiert waren. Im Unterschied zu hinduistischen Reformern, welche soziale Reformen für Frauen als Schlüssel für Gesundheit und Unabhängigkeit der Nation sahen, erblickten muslimische Autoren ihre Notwendigkeit im Fehlverhalten der muslimischen Männer (350). Malavika Kasturi analysiert die Zentralität von Verwandtschaft und Geschlecht bei der Definition einer Kastenidentität.
Die letzten vier Beiträge beleuchten das Verhältnis von «Religion und sozialen Grenzen ». Michael N. Ebertz erläutert sein soziologisches Konzept von popularer Religiosität, wobei er auf drei (von fünf) Typen näher eingeht (Heimat- und Lokalreligiosität, Passagenreligiosität und marginalisierte Religiosität). Frank Konersmann beleuchtet die semantische Exklusion und Inklusion von Minderheiten am Beispiel der Mennoniten zwischen 1660 und 1870. Dabei wird der begriffsgeschichtliche Befund über die Bezeichnung der Mennoniten als «Ketzer», «Pioniere» und «Pazifisten» in die Systemtheorie Niklas Luhmanns eingeordnet. Man fragt sich jedoch, ob die interessanten Informationen über die Mennoniten zur Bestätigung der These Luhmanns dienen oder wirklich durch sie erhellt werden. Das Verhältnis von Religion und Status am Beispiel einer muslimischen Händlergemeinschaft in Dehli untersucht Margrit Pernau. Es geht um die nordindische muslimische Gruppierung der Panjabi-Händler, die in Dehli etwa 4000 Mitglieder haben. Diese Gemeinschaft beruht auf Konvertiten aus verschiedenen hinduistischen Händlerkasten und stiegen bis 1947 (Teilung Indiens) zu den reichsten Muslimen der Stadt auf. Wie situierte sich nun diese Gruppe gegenüber der Hindu-Mehrheit? Pernau referiert ihre Geschichtsmythen und zeigt, wie die neue Religion zum sozialen Aufstieg half. Religion war die wichtigste Ressource, um die sozialen Grenzen zu überwinden, die durch Herkunft und Abstammung definiert worden waren (443). Einer armen und ausgrenzten Gruppe in Indien nimmt sich der Beitrag von Martin Fuchs über die Perspektiven der indischen Dalit an. Diese leben primär in Slums und gelten als unrein, handlungsunfähig und keiner eigenen religiösen Stellungnahme fähig. Fuchs kann hingegen zeigen, dass es zahlreiche soziale Bewegungen von Dalit gab und gibt. Mit Hilfe der Unterscheidung von Ausgrenzung und Abgrenzung kann Fuchs das faszinierende Projekt von Dalit zur Anerkennung durch wechselseitigen Respekt herausarbeiten.
Insgesamt ein äusserst gelungener, methodisch und inhaltlich anregender Sammelband, von dem jeder Beitrag eine eingehendere Besprechung wert gewesen wäre als es auf diesem knappen Raum möglich war. Er ist selbst die beste Werbung für seinen Untertitel «auf dem Weg zu einer transnationalen Historiographie».