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G. Kreis: Die Schweiz in den Kriegsjahren 1914–1918

 

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Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 65 Nr. 3, 2015, S. 491-493.
Autor(en):
Titel:Insel der unsicheren Geborgenheit. Die Schweiz in den Kriegsjahren 1914–1918
Ort:Zürich
Verlag:Neue Zürcher Zeitung - Buchverlag
Jahr:
ISBN:978-3-03823-844-7
Umfang/Preis:299 S.

Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Maria Meier </>

«Auf den Zweiten Weltkrieg folgt der Erste Weltkrieg» – mit diesem Anachronismus umschreibt Georg Kreis nicht nur den Weg der Schweizer Historiografie und ihre – reichlich späte – Entdeckung des Weltereignisses (S. 10). Er zeichnet damit gewissermassen auch seine eigene Forschungsbiografie nach, die sich ebenfalls zuerst den in der Nachkriegszeit drängenden Fragen über die Rolle der Schweiz während des Zweiten Weltkriegs zuwandte. Erst die Aufarbeitung dieser jüngeren Schweizer Geschichte scheint auch den Fokus auf die «Urkatastrophe » (George F. Kennan 1979) und deren Auswirkungen auf das Land mitten im kriegsversehrten Europa möglich zu machen. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs, der sich 2014 zum hundertsten Mal jährte, nahm sich der Basler Historiker zum Anlass, das historische Grossereignis für die Schweiz darzustellen und dem Thema zu mehr Beachtung zu verhelfen. Rund ein Jahr nach Erscheinen war das Buch bereits in der zweiten Auflage erhältlich.

Die mit Fotografien und Illustrationen reich bebilderte Gesamtdarstellung der Schweiz in den Jahren 1914–1918 soll trotz des Schattens, welcher der Zweite Grosse auf die historiografische Wissenskarte wirft, keine systematische Vergleichsstudie zwischen den beiden Kriegen sein. Vielmehr möchte Georg Kreis den Weltkrieg – als er eben noch nicht der «Erste» war – als eigenständiges Ereignis begreifen. Gleichwohl setzt er beide Kriege zueinander in Beziehung, wenn er danach fragt, «ob und in welchem Mass die Schweiz ihre Offenheit und Verbundenheit mit der sie umgebenden Welt im Ersten Weltkrieg eingebüsst hat und ob schon damals das eingetreten ist, was später, dem Zweiten Weltkrieg zugeschrieben, als Reduitdenken bezeichnet wurde» (S. 13).

Es ist das Interesse am Spannungsfeld zwischen Offenheit und Abschliessung, zwischen Verflechtung und Abkehr, zwischen Weltverbundenheit und Reduitdenken, das den Autor um- und antreibt. Und es ist der Antagonismus vom Verschont- Bleiben und dem Gefühl des Betroffen-Seins, der dem Buch auch zu seinem Titel «Insel der unsicheren Geborgenheit» verhilft und der auch inhaltlich als roter Faden dient. Beim Buchtitel liesse sich durchaus kritisch fragen, ob die Insel- Metapher an dieser Stelle nicht ein zu stark aufgeladenes Narrativ sei, das dem Ziel des Autors, ebensolches zu brechen, zuwiderläuft. Allerdings erweitert Georg Kreis das Insel-Bild um eine wichtige Dimension – jene der Unsicherheit – und lenkt den Blick damit auf die fragilen und zunehmend erschütterten Verhältnisse.

Das Buch ist nach thematischen Aspekten gegliedert. In acht Teilen vermittelt Georg Kreis einen Überblick über den Forschungs- und Wissensstand zu den Auswirkungen des Weltkriegs auf die Schweiz und beleuchtet zahlreiche Teilbereiche und Einzelthemen, die in den Kriegsjahren einschneidende Veränderungen erfuhren. Nach den dramatischen Tagen und Wochen vor und nach Ausbruch des Krieges kommen nacheinander die zivile, die wirtschaftliche und die militärische Landesverteidigung zur Darstellung. Das fünfte Kapitel beschäftigt sich mit der Arbeit und dem Alltag in der Schweiz während der Kriegsjahre. Es folgt ein Kapitel über die zahlreichen sozialen Spannungsfelder, wie etwa den Graben zwischen der deutschen und der lateinischen Schweiz, den Landesstreik oder die Spanischen Grippe. Das vorletzte Kapitel nimmt das humanitäre Engagement der Schweiz einerseits und die zunehmend von «Überfremdungsangst» geprägte Fremdenabwehr andererseits in den Blick. Zuletzt befasst sich das achte Kapitel mit einigen unmittelbaren und längerfristigen Auswirkungen und Veränderungen, für welche der Erste Weltkrieg auch in der Schweiz prägend war. In diesem Zusammenhang thematisiert Kreis im abschliessenden Abschnitt «Die Schweiz – eine Insel?» – diesmal mit einem Fragezeichen versehen – noch einmal die — Insel-Metapher als ambivalent gedeutetes und bedeutendes nationales Selbstbild.

Das Buch skizziert die wichtigsten Herausforderungen, die mit dem Grosskonflikt auf die Schweiz zukamen und beleuchtet die dadurch ausgelösten Bewegungen, Entscheidungsprozesse und deren Folgen. Mittels Anekdoten aus dem Leben damaliger Zeitgenossen, Fotografien, Postkarten, Illustrationen sowie Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln gelingt es dem Basler Historiker, die Atmosphäre und Debatten von damals lebendig zu erzählen. Es ist eine faktenreiche Sammlung geworden mit dem Anspruch, nicht bloss einen geordneten Überblick, sondern auch einen vertieften Einblick in den untersuchten Zeitabschnitt zu gewähren. Damit richtet sich die Monographie hauptsächlich an ein breites, historisch interessiertes Schweizer Publikum, das sich anlässlich des aufwändig erinnerten Jubiläums fragen dürfte, wie denn die Schweiz den Ersten Weltkrieg erlebt hatte.

Für Fachkreise ist das Buch eine nützliche Gesamtdarstellung zum Thema, derweil – worauf auch der Autor mehrfach hinweist – weiterhin wichtige Einzelstudien fehlen. Deshalb kann auch dieser Band in den meisten Teilbereichen kaum neue Fakten liefern. Kreis verzichtet grösstenteils auf eine thesenartige Darstellung und auch eine transnational vergleichende Perspektive fehlt weitgehend, wenngleich die Ereignisse in der Schweiz immer wieder mit den Entwicklungen im kriegsversehrten Ausland in Beziehung gesetzt werden. Forschungsdesiderate wie diese sucht man im Buch vergebens, dessen Anspruch und Verdienst dagegen in der Sammlung, wissenschaftlichen Aufbereitung sowie erzählerischen und bildhaften Gesamtdarstellung des Themas liegen. Mit dem Buch möchte Georg Kreis «eine Bestandsaufnahme vornehmen und eine Gesamtsicht vermitteln» (S. 14). Das gelingt ihm durchaus und damit füllt er eine Lücke in der Schweizer Historiografie, die bis ins Jahr 1928 zurückreicht, aus dem die letzte und längst nicht mehr zeitgemässe Übersichtsdarstellung von Jacob Ruchti stammt.[1]

[1] Jacob Ruchti, Geschichte der Schweiz während des Weltkrieges 1914–1919. Politisch, wirtschaftlich und kulturell, 2 Bde., Bern 1928–1930, S. 554 und S. 572.

Zitierweise Maria Meier: Rezension zu: Georg Kreis, Insel der unsicheren Geborgenheit. Die Schweiz in den Kriegsjahren 1914–1918, Zürich: Verlag Neue Zürcher Zeitung, 2014. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 65 Nr. 3, 2015, S. 491-493. <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/infoclio/id=27611>
 
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