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Geschichte allgemein

M. Pfeiffer: Mein Großvater im Krieg 1939–1945

 

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Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 63 Nr. 2, 2013, S.325-326.
Autor(en):
Titel:Mein Großvater im Krieg 1939–1945. Erinnerung und Fakten im Vergleich
Ort:Bremen
Verlag:Donat Verlag
Jahr:
ISBN:978-3-943425-02-4
Bemerkungen:Mit einem Geleitwort von Wolfram Wette und einem Nachwort von Helmut Donat
Umfang/Preis:214 S.

Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Heiko Haumann
E-Mail: </>

Moritz Pfeiffer wurde durch sein Studium an der Universität Freiburg i. Br. dazu angeregt, sich mit der Geschichte seiner Grosseltern während des Nationalsozialismus zu beschäftigen. Nicht zuletzt hatten ihn die Ergebnisse eines von Harald Welzer geleiteten Forschungsprojektes stutzig gemacht, dass die heutigen Jugendlichen zwar sehr viel mehr als frühere Generationen über die NS-Zeit wissen, aber mehrheitlich dazu tendieren, ihren Grosseltern eine kritische Haltung gegenüber dem damaligen Regime zu bescheinigen. So entschloss er sich, in langen Gesprächen mit seinem Grossvater, einem Berufsoffizier, dessen Leben aufzuzeichnen. In den Schilderungen spielte auch die Grossmutter eine wichtige Rolle, die aber selbst wegen eines Schlaganfalls nicht mehr befragt werden konnte. Pfeiffer wollte es bei einer unkommentierten Kenntnisnahme nicht bewenden lassen, sondern sich intensiv damit auseinandersetzen. Systematische Nachfragen waren allerdings nicht mehr möglich, da beide Grosseltern kurz nach den Gesprächen verstarben.

Pfeiffers Projekt war eine methodisch höchst anspruchsvolle Herausforderung. Dabei ging es nicht nur um Probleme, die die Oral History stets kennzeichnen: Die Erinnerung, gerade nach so vielen Jahren, entspricht nicht dem damals Erlebten, ist mehrfach durch neue Erfahrungen verarbeitet worden. Schmerzhafte Geschehnisse können verdrängt oder gar abgespalten worden sein. Hinzu kam, dass seine Grosseltern «das Herz der Familie» dargestellt und auch ihn «liebevoll behandelt und geprägt» hatten (S. 23). Hier war eine besonders kritische Selbstreflexion notwendig, um den eigenen wissenschaftlichen Ansprüchen zu genügen. Dies ist ihm gelungen.

In neun Kapiteln geht Pfeiffer der Lebensgeschichte seines Grossvaters nach, von der Kindheit und Jugend über Stationen der Kriegsteilnahme bis hin zu Gefangenschaft und Neuanfang sowie zur Geschichte des Bruders, der sich als Siebzehnjähriger freiwillig zur SS meldete und seit Anfang 1944 als vermisst galt. In jedem Kapitel gibt Pfeiffer zunächst die Erinnerungen des Grossvaters wieder. Anschliessend vergleicht er sie mit erhalten gebliebenen Familiendokumenten (Briefe, Feldpostbriefe, Urkunden, Personalakten, Fotos) und Archivquellen – namentlich Kriegstagebüchern der entsprechenden Militäreinheiten – sowie mit den Erkenntnissen geschichtswissenschaftlicher Forschungen. Durch diesen mehrperspektivischen Zugang wird deutlich, in welchen Punkten der Grossvater durchaus zutreffend berichtete, in welchen dessen Erinnerung «falsch» war – wohl ohne aktive Täuschungsabsicht – und welche Punkte offenbleiben müssen.

Pfeiffers Grossvater hatte in den Gesprächen bei Nachfragen durchaus seine Erinnerungen korrigiert und geschärft, vieles eingeräumt, über das er anfangs verharmlosend hinweggegangen war. Doch war es ihm offensichtlich nicht mehr möglich, sich erlebte «Grausamkeiten noch einmal zu vergegenwärtigen» (S. 164). Beide Grosseltern waren überzeugte Nationalsozialisten – der Grossvater trat allerdings nie in die Partei ein – und «glaubten» (S. 165) zumindest bis kurz vor Kriegsende an deren Ideologie. Eine vertiefte Reflexion über die NSVernichtungspolitik fand nicht statt, zumindest konnte der Grossvater ein Eingeständnis seiner Mit-Verantwortung – oder auch nur ein Mitgefühl mit den Opfern – nicht formulieren. Aus verschiedenen Aussagen während der Gespräche schliesst Pfeiffer, dass sich sein Grossvater durchaus bewusst war, an der Praxis eines Unrechtsregimes mitgewirkt zu haben, aber dies nicht ausdrücken konnte. Vielleicht hätte er in diesem Zusammenhang noch genauer interpretieren können, welchen Sinn der Grossvater seinen Erinnerungen – und damit seinem Leben – zu geben suchte. [1] In anderen Untersuchungen wird erkennbar, dass sich «Täter» im Nachhinein eine eigene «Deutungsmatrix» (Welzer) konstruierten, um ihr Handeln zu relativieren und ihre «Anständigkeit» oder ihre Distanz zum Geschehen hervorzuheben.[2] Nicht mehr aufzuklären ist vermutlich, ob besonders furchtbare oder gar traumatische Erfahrungen den Grossvater zu «Abspaltungen» in seinem Gedächtnis geführt haben, so dass er nicht mehr darüber sprechen konnte.

Pfeiffer schreibt nicht als Ankläger oder Richter, er geht mit den Erinnerungen seines Grossvaters sensibel um. Er verurteilt ihn nicht, sondern versucht sich seinem damaligen Leben zu nähern. In seiner Auseinandersetzung mit der eigenen Rolle in der Analyse geht er auch darauf ein, ob die oft gestellte Frage, wie er sich selbst unter vergleichbaren Bedingungen verhalten hätte, einen Erkenntnisgewinn bringe. Er verneint dies, weil eine solche Frage die seinerzeit Handelnden entlasten könne. Stattdessen solle man aus der Vergangenheit lernen und in der Gegenwart entsprechend wirken. Wolfram Wette argumentiert in seinem Geleitwort ähnlich und schliesst sich Jan Philipp Reemtsma an: Es komme darauf an zu fragen: «Wie soll ich mich verhalten?» (S. 15). Aber sind beide Fragen wirklich Gegensätze? Selbstverständlich ist entscheidend, welche Schlüsse ich aus der Geschichte «für die verantwortliche Gestaltung meines gegenwärtigen und zukünftigen Lebens» ziehe (S. 15). Dazu gehört aber doch gerade, dass ich die historischen Vorgänge nicht einfach zur Kenntnis nehme, sondern sie mir in allen mir zugänglichen Aspekten vergegenwärtige, das Leben der Akteure, mit denen ich mich beschäftige, nachvollziehe, dabei Alternativen und ungenutzte Möglichkeiten berücksichtige, also ein «Probehandeln» durchführe. Das entlastet niemanden, verschleiert auch nicht die Bewertungsmassstäbe, präzisiert sie eher. Indem meine Haltung gegenüber den damaligen Handlungsalternativen in meinen Erinnerungsbestand eingeht, erleichtert mir dies mein Handeln in der Gegenwart.

Pfeiffers sorgfältig gearbeitete Studie sollte Schule machen. Sie zeigt die Bedeutung der Auseinandersetzung mit dem Familiengedächtnis für den Historiker und legt offen, wie sehr gerade eine biographisch angelegte Forschung den Leser unmittelbar betrifft.

[1] Vgl. Carla Cordin, Ettore Cordin: Das Tagebuch eines k. u. k. Soldaten im Ersten Weltkrieg. Edition und Analyse, Frankfurt a. M. 2012.
[2] Vgl. etwa Caroline Heitz, Eveline Schüep, Annäherung an die soziale Wirklichkeit der SS-Ärzte. Sprachanalysen und sozialpsychologische Untersuchungen anhand von Hans Münchs Erinnerungserzählungen, Frankfurt a. M. 2011.

Zitierweise Heiko Haumann: Rezension zu: Moritz Pfeiffer: Mein Großvater im Krieg 1939–1945. Erinnerung und Fakten im Vergleich. Mit einem Geleitwort von Wolfram Wette und einem Nachwort von Helmut Donat. Bremen, Donat Verlag, 2012. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 63 Nr. 2, 2013, S.325-326. <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/infoclio/id=23602>
 
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