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Neuere Geschichte

K. Kellerhals: Schulgesetzgebung

 

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Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 61 Nr. 3, 2011, S. 372-374
Autor(en):
Titel:Der gute Schüler war auch früher ein Mädchen. Fächerkanon und Geschlecht in der Volksschule des Kantons Bern 1835–1897
Ort:Bern
Verlag:Haupt Verlag
Jahr:
ISBN:978-3-258-07603-4
Umfang/Preis:283 S.

Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Markus Furrer, Pädagogische Hochschule Zentralschweiz
E-Mail: <markus.furrerphz.ch>

Der grossflächige und vielfächerige Kanton Bern kann auf eine traditionsreiche Volksschulentwicklung zurückblicken (2010: 175 Jahre Berner Volksschule). Diese zeichnet Katharina Kellerhals in ihrer minutiösen und gehaltvollen Studie mit Blick auf das 19. Jahrhundert nach. Gleich eingangs betont sie, dass diese Entwicklung – entgegen populären Vorstellungen – keineswegs linear verlaufen sei. Während das erste Gesetz von 1835 für eine öffentliche Volksschule stark von liberal-revolutionären Ideen geprägt war, veränderte sich dies im Verlaufe des Jahrhunderts, indem konservative Strömungen und Kräfte Oberhand gewannen, was in der Untersuchung anschaulich aufgezeigt werden kann. Sichtbar wird dabei, wie die gesellschaftlichen und politischen Kräfte auf die Volksschule einwirkten und wie stark diese seit ihren Anfängen politisiert ist.

Die facettenreiche Studie umfasst acht Hauptkapitel: An die einleitenden Fragestellungen fügt sich der Teil zu den theoretischen Grundlagen (Bildungspolitik in der Demokratie, Lehrpläne und Geschlecht) an. Weiter werden das Forschungsvorgehen diskutiert und anschliessend die einzelnen Phasen, die Entstehung und Umsetzung der Schulgesetze von 1835, 1856, 1870 und 1894, dargelegt. An das Fazit fügt sich ein thesengestützter Ausblick. Detailliert wird für die einzelnen Phasen die Einflussnahme der Akteure erfasst und der Prozess aufgezeigt. Offenkundig wird, wie stark sich der wirtschaftliche und der soziale Wandel auf die Schulgesetzgebung auswirkten. Die Studie bietet eine eigentliche Fundgrube für diverse schulhistorische Fragen. Interessant ist die Ausdifferenzierung des sich stetig wandelnden Fächerkanons an der Berner Volksschule im 19. Jahrhundert, die sich vor dem Hintergrund des ökonomischen, kulturellen und politischen Wandels vollzog. Die Auswahl der Unterrichtsfächer unterlag sich wandelnden politischen Willensbildungsprozessen und widerspiegelt gesellschaftspolitische Diskurse. Dabei vollzog sich auch eine Hierarchie zwischen den Fächern, die durch deren Reihenfolge sowie die Anzahl der Wochenstunden markiert wurde. Religion und Sprache erfuhren betreffend Wochenstundenzahl im Laufe des 19. Jahrhunderts eine Reduktion, während sich Rechnen und Gesang konstant hielten und die Realfächer vor dem Hintergrund der voranschreitenden Technisierung aufgewertet wurden. Nachdem das Fach Handarbeit für Mädchen als obligatorisch verordnet worden war, wurde im selben Zeitraum das Fach Turnen aus finanziellen Überlegungen nur für das männliche Geschlecht eingeführt, um so dessen obligatorische Einführung nicht zu gefährden. Der sich im Verlaufe des Jahrhunderts entwickelnde Fächerkanon widerspiegelt die gesellschaftlichen Bedürfnisse und Erwartungen, wie dies die Autorin herausarbeitet, so dass an dessen Ende die inhaltliche Ausrichtung der Volksschule in geeigneter Weise den vom gesellschaftlichen Hauptstrom angestrebten ideologischen Ansprüchen einer arbeitsteiligen bürgerlichen Gesellschaft entsprach.

Die Untersuchung stützt sich auf reiches Quellenmaterial und zeichnet die Debatten sowie die Implementierungsprozesse anschaulich nach. Die ökonomischen Überlegungen und damit auch Fragen zur Bekämpfung von Armut spielten eine zentrale Rolle. 1870 wurde das Schulgesetz erstmals der männlichen Stimmbevölkerung des Kantons unterbreitet. Rekrutenprüfungen, bei denen Berner Jugendliche unterdurchschnittlich schlecht abschlossen, lösten gleich der Pisa-Debatte in jüngster Zeit eigentliche Reformbestrebungen aus.

Ein Hauptaugenmerk wirft Katharina Kellerhals auf den geschlechterspezifisch unterschiedlichen Entwicklungsverlauf und dessen Wechselwirkungen. Nachzeichnen lässt sich dies insbesondere an der Debatte um Stellenwert und Bedeutung des Handarbeitsunterrichts für Mädchen sowie des Turnens für Knaben. Ideologien und Wertvorstellungen setzten sich über Widersprüche und Ungereimtheiten hinweg, was sich an zahlreichen Beispielen nachvollziehen lässt. So wurde etwa das Fach Handarbeit in der Primarschule des Kantons Bern eingeführt, als das Stricken als Kinderarbeit noch die Regel war und die Kinder am Schulbesuch hinderte. Ging man noch 1835 zu Beginn unter liberal-radikaler Vorstellung von einer geschlechteregalitären Ausbildung für Mädchen und Knaben aus, so führten der gesellschaftliche Wandel und politische Kräfteverschiebungen zu einer geschlechterspezifischen Ausdifferenzierung, in der sich bürgerliche Rollenmuster widerspiegelten. Dabei kam es zu einem Amalgam pädagogischer Richtungen wie der Arbeitsschulbewegung und bürgerlichen Rollen- und Wertvorstellungen, was sich am ausschliesslich für Mädchen eingeführten Handarbeitsunterricht zeigte, während die Knaben Turnen und Zusatzunterricht in allgemeiner Bildung erhielten. Katharina Kellerhals deutet in ihren Thesen diese Entwicklung und verweist darauf, dass sich bis um 1870 eine egalitäre Geschlechterordnung abzeichnete, jedoch auf Grund des Stimmungswandels in Politik und Gesellschaft sich danach ein bürgerliches Familienmodell in den Köpfen durchzusetzen begann. Solche Rollenbilder, so die Vermutungen der Autorin, wurden von der Schule nachhaltig und flächendeckend vermittelt und von bürgerlichen Frauen sowie weiblichen Lehrkräften unterstützt. Die Umstände, welche 1864 zur definitiven Einführung des Faches Handarbeit für Mädchen und damit zur beginnenden geschlechtsspezifischen Ausdifferenzierung des Fächerkanons führten, lagen auch in der Popularisierung des Faches durch die erste Handarbeitsschulbewegung. In der Folge liess sich die identitätsstiftende Wirkung der sozialpädagogischen Ausrichtung des Faches für eine dualistische Geschlechteranthropologie einer bürgerlichen Gesellschaft nutzen. Die Folge war ein indirekter Förderunterricht für Knaben: Während sich die Mädchen mit Handarbeit beschäftigten, wurden die Buben in allgemeinbildenden Fächern zusätzlich gefördert. Dennoch schnitten die Mädchen mit durchschnittlich weniger Unterrichtsstunden durch ihr grundsätzlich schulkonformeres Verhalten – verfügten sie doch gemäss damaligen Beschreibungen über mehr Fleiss und Leistungsorientierung als die Knaben – im Unterricht besser ab, was wiederum Vertreter der Arbeitsschulidee bewog, Handarbeit für Knaben, wenn auch mit anderen Zielsetzungen, zu fordern, versprach man sich doch davon eine Steigerung des Unterrichtsfleisses.

Die Studie von Katharina Kellerhals liefert auch einen Beitrag zu aktuellen Debatten im Bildungsbereich. Mit ihrem historischen Zugang relativiert sie so manche aktuelle Auseinandersetzung um die Volksschule. Aus dem Kontext der Schulgesetz- und Lehrplandiskussionen des 19. Jahrhunderts wird etwa sichtbar, dass «der gute Schüler auch früher ein Mädchen» gewesen sein dürfte. Schulgesetze und Lehrpläne standen und stehen im Kreuzfeuer gesellschaftspolitischer Auseinandersetzungen und die Auswahl und Gewichtung von Unterrichtsfächern unterlagen und unterliegen politischen Willensbildungsprozessen. Der Reformdruck wiederum resultiert aus dem gesellschaftlichen Wandel, indem Antworten und Lösungen für bestehende Probleme gesucht werden, auf die die Schule eine Antwort zu geben hat.

Zitierweise Markus Furrer: Rezension zu: Katharina Kellerhals: Der gute Schüler war auch früher ein Mädchen. Schulgesetzgebung, Fächerkanon und Geschlecht in der Volksschule des Kantons Bern 1835–1897. Bern/Stuttgart/Wien, Haupt Verlag, 2010. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 61 Nr. 3, 2011, S. 372-374 <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/infoclio/id=20721>
 
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