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Geschichte allgemein

G. Kreis: Schweizer Erinnerungsorte

 

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Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 60 Nr. 3, 2010, S. 382-383. <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/infoclio/id=18484>
Autor(en):
Titel:Schweizer Erinnerungsorte. Aus dem Speicher der Swissness
Ort:Zürich
Verlag:Neue Zürcher Zeitung - Buchverlag
Jahr:
ISBN:978-3-03823-591-0

Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Jon Mathieu, Istituto di Storia delle Alpi ISAlp, Università della Svizzera italiana
E-Mail: <jon.mathieuisalp.unisi.ch>

Nach Frankreich, Dänemark, den Niederlanden, Italien, Österreich, Deutschland und Luxemburg hat jetzt auch die Schweiz eine historische Untersuchung über ihre nationalen «Erinnerungsorte» – lieux de mémoire. Nicht dass man bisher nichts Derartiges erforscht und publiziert hätte. Im Gegenteil: Erinnerungskultur ist seit etlicher Zeit auch hierzulande ein prominentes Thema. Doch das neue Buch von Georg Kreis bringt erstmals eine systematische Auseinandersetzung mit dem ursprünglich von Pierre Nora entwickelten Konzept und eine daran angelehnte Aufarbeitung von schweizerischen Materialien. Es schliesst damit eine wichtige Lücke in der historiographischen Landschaft.

Was sind «Erinnerungsorte»? Nora verstand darunter die zumeist räumlich angeordnete und gegenständlich fassbare Erinnerungskultur, eine Geschichte zweiten Grades. Später weichte er seine an der französischen Nationalgeschichte orientierte (und sie bewahrende) Konzeption auf und berücksichtige auch immaterielle Orte, denen eine Memorierungsintention abging. Noras Nachfolger in anderen Ländern wandelten diese lieux de mémoire mehrfach ab, und Kreis geht in seinen aufschlussreichen methodisch-theoretischen Schlusskapiteln nun klar auf Distanz zum konservativen französischen Historiker. Das Buch endet mit der Feststellung, dass man statt von Erinnerungsorten besser von «Verdichtungen und Knoten des gesellschaftlichen Diskurses» sprechen sollte und dass sie an bestimmte Punkte geknüpfte «Erinnerungsgeschichten» seien (S. 342). Kreis will vermeiden, dass die Konzentration der Forschung auf national kodierte Referenzen diese verdinglicht und selbst bei kritischer Absicht historiographisch am Leben erhält oder sogar revitalisiert, also eine «Auferstehung dank Begräbnis» hervorbringt (S. 38).

Der längere erste Teil der Studie präsentiert 26 als «Essays» bezeichnete Abhandlungen über einzelne Erinnerungsorte (26 in symbolischer Anlehnung an die gegenwärtige Zahl der Kantone). Laut den zum Schluss dargelegten methodischen Überlegungen fallen sie in fünf Kategorien: Ereignisorte (Rütli, Landsgemeinde, Einsiedeln, Marignano, Solddienste, Beresinalied, Bourbaki-Panorama); reale und fiktive Personen (Wilhelm Tell, Bruder Klaus, Arnold Winkelried, Johann Heinrich Pestalozzi, Gilberte de Courgenay, Henri Guisan, Heidi); Alpen (St. Gotthard, Bernhardiner, Chalet, Grand Hôtel); Alltagskultur (Rösti, Soldatenmesser, Toblerone, Bankgeheimnis, Swatch); Technikbereich (Swissair, Grande Dixence, Kaiseraugst). Die beiden letzten Kategorien, in denen Forschungstraditionen der Volkskunde bzw. heutigen europäischen Ethnologie sowie der kulturorientierten Technikgeschichte aufgenommen werden, dehnen den Begriff der Erinnerungsorte weit aus. Sie sind aber ebenso anregend zu lesen wie die anderen und bringen auch den Leserinnen und Lesern, die mit den betreffenden Themen nicht unvertraut sind, neue Erkenntnisse.

In den methodisch-theoretisch Schlusskapiteln befasst sich Kreis mit der schweizerischen und internationalen Historiographie und seinem eigenen Vorgehen. Dies führt ihn zu einer Reihe von Kriterien, die von der Forschung zu beachten seien. Sie lauten, kurz zusammengefasst: 1. Offenlegung der Auswahlmethode; 2. Analyse der Funktionsweise des gewählten Bestands als Gesamtsystem; 3. Berücksichtigung der Erinnerung verschiedener sozialer Gruppen; 4. Dynamische Sichtweise; 5. Berücksichtigung des Verhältnisses von Bild und Text; 6. Darstellung vorzugsweise in Form von Essays; 7. Beachtung der Entstehung von Erinnerungsorten. Wenn man diese Kriterien auf das Buch selbst anwendet, schneidet es meines Erachtens in fünf von sieben Fällen positiv ab. Problematisch sind die Punkte 2 und 6: Kreis schreibt, die lockere, assoziative Form des Essays sei dem Thema angemessen, weil sie der Tatsache Rechnung trage, dass Erinnerungsorte verschiedene Facetten haben (S. 337). Es ist jedoch fraglich, ob es sich bei den präsentierten Texten überhaupt um Essays handelt. Mehrere Charakteristika weichen zumindest erheblich von klassischen Formen ab (Fehlen einer zentralen Pointe, objektivierender Stil, zahlreiche Anmerkungen mit Literaturhinweisen). Ausserdem ist schwer einzusehen, weshalb «verschiedene Facetten» bloss in dieser Textgattung darstellbar sein sollten. Vielstimmigkeit und Mehrdeutigkeit gehören gerade im kulturhistorischen Bereich zum Normalbestand der Forschung. Man kann die Argumentation des Autors auch als Rechtfertigung dafür verstehen, dass die einzelnen Abhandlungen keiner klaren Methode folgen. Eine vermehrte Ausrichtung auf bestimmte Leitlinien hätte es zugleich ermöglicht, dem Kriterium 2 besser gerecht zu werden und die Funktionsweise des Gesamtsystems zu diskutieren, die im vorliegenden Text nur angedeutet ist (S. 322).

Gemessen an den erwähnten Kriterien ist das «Experiment», wie Kreis sein Buch ausdrücklich bezeichnet, aber gossmehrheitlich geglückt. Von den erfüllten Punkten sind in meinen Augen die Punkte 4 und 7 besonders wichtig und gut gelungen. Kreis hat eine Studie über Erinnerungsorte geschrieben, die an keiner Stelle den Eindruck vermittelt, hier gehe es um einen fixierten, gleichsam in Gotthard-Granit gemeisselten Bestand von «typisch Schweizerischem», das den stabilen Kern der Nation bilde. Er zeigt sehr schön die unterschiedliche Zeitlichkeit, die Konstruktionsprozesse und das je nach dem allmähliche oder doch ziemlich schnelle Verblassen von «Erinnerungsorten». Dabei versucht er auch nicht, alles erklären zu wollen, sondern lässt dem historischen Zufall jene Rolle, die er bei der Darstellung von gesellschaftlicher Kommunikation zweifellos haben muss. Das ist insgesamt ein bedeutender Beitrag zur wissenschaftlichen und politischen Kultur dieses Landes.

Zitierweise Jon Mathieu: Rezension zu: Georg Kreis: Schweizer Erinnerungsorte. Aus dem Speicher der Swissness. Zürich, Verlag Neue Zürcher Zeitung, 2010. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 60 Nr. 3, 2010, S. 382-383. <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/infoclio/id=18484>
 
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