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Europäische Geschichte

J. Horen u.a. (Hrsg): Deutsche Kriegsgreuel 1914. Die umstrittene Wahrhe

 

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Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 55 Nr.1, 2005, S. 126-128.
Autor(en):;
Titel:Deutsche Kriegsgreuel 1914. Die umstrittene Wahrheit
Ort:Hamburg,
Verlag:Hamburger Edition, HIS Verlag
Jahr:
ISBN:978-3-930908-94-3
Umfang/Preis:741 S.

Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Benedikt Hauser
E-Mail: </>

Um es für einmal gleich vorwegzunehmen: John Horne und Alan Kramer ist mit ihrem Buch ein grosser Wurf gelungen. Nebst der hohen Qualität und der Fülle der gewonnenen Erkenntnisse sind es vor allem auch die Fragestellungen und die Arbeitshypothesen, die der Studie zweifellos zum Status eines Referenzwerkes verhelfen werden. Die Auswertung umfangreicher Quellenbestände aus Archiven in mehreren Ländern von Russland bis zum Vatikan und die breit angelegten Untersuchungen haben sich somit sehr wohl gelohnt. Zu begrüssen ist es deshalb ebenfalls, dass die 2001 auf Englisch publizierte Untersuchung nunmehr auch in deutscher Sprache vorliegt.

Forschungsgegenstand der am Trinity College in Dublin lehrenden Historiker sind die von deutschen Truppen 1914 beim Einmarsch in Belgien, Frankreich und Luxemburg an der Zivilbevölkerung verübten Kriegsverbrechen. Im ersten Teil des Buches wird zunächst beschrieben, was vor Ort geschah. Die Fakten sind er - schütternd: Allein zwischen August und Oktober 1914 wurden 6427 Zivilpersonen umgebracht und an die 20 000 Häuser niedergebrannt. Dabei gab es eigentliche Massaker wie in Dinant mit 647 Toten. Hinzu kamen menschenverachtende Prak tiken wie die Verwendung von Frauen und Kindern als Schutzschilder gegen den feindlichen Beschuss von Brücken oder Stadttoren, sowie Vergewaltigungen, Plünderungen und Deportationen in Lager. Die Barbarei richtete sich zudem gegen Stätten der Kultur: Bekannteste Beispiele sind die Zerstörungen der Universität Löwen und der Kathedrale von Reims.

Deutscherseits sprach man von Vergeltungsmassnahmen auf einen unrechtmässigen «Volkskrieg», dem die in Frankreich und Belgien einmarschierenden Armeen ausgesetzt gewesen seien. Horne und Kramer können freilich klar belegen, dass es sich dabei um eine Schutzbehauptung handelt, denn zivilen Widerstand auf breiter Basis, der den Vormarsch behindert hätte, gab es nicht. Was die eigentlichen Gründe für die Gewaltexzesse anbetrifft, so weisen die Autoren zunächst auf Mythen und kulturelle Prädispositionen bei den deutschen Truppen hin wie die Wahnvorstellung von Freischärlern, die – heimtückisch aus dem Hinterhalt agierend – eine tödliche Gefahr für die in einem okkupierten Land stationierten Armeeangehörigen bedeutet hätten. Vereinzelt hatten solche Überfälle 1870/1871 tatsächlich auch stattgefunden. Ausschlaggebend war indes vor allem, dass hier die Idee der revolutionären levée en masse ins Spiel kam, die dem im wilhelminischen Kaiserreich vorherrschenden Verständnis der Kriegführung als Sache des Militärs diametral widersprach. Im Krieg nahm dann das Schreckensbild des Freischärlers die Form einer gefährlichen Bedrohung an, die, obwohl sie rein fiktiv war, als real existierende Gefahr wahrgenommen wurde, was nicht nur wiederholt in Aussagen hoher Offiziere zum Ausdruck kam, sondern auch in zahlreichen Briefen deutscher Soldaten im Felde.

Damit allein lässt sich die Gewaltbereitschaft jedoch nicht erklären. Ebenso wichtig war die Art der Kriegführung, die sich aus dem Schlieffenplan ergab und welche für die Truppe physische und psychische Extrembelastungen zur Folge hatte. So erzwang der für das Gelingen des Plans erforderliche Zeitdruck die Durchführung von Sechzig- bis Siebzig-Kilometer-Tagesmärschen bei unzureichender Verpflegung und grösster sommerlicher Hitze. Zudem hatte man den Widerstand der belgischen Armee massiv unterschätzt, so dass das eigentliche Ziel der Konfrontation mit den Franzosen auf dem Schlachtfeld weit schwieriger zu erreichen war als ursprünglich angenommen. Daraus resultierte eine fatale Mischung aus Angst, Stress, Frustration, Erschöpfung und Nervosität, die unter anderem auch dazu führte, dass mangels Disziplin und infolge fehlender Erfahrung ausgelöstes friendly fire, wie es heute heisst, als Angriff von Freischärlern gedeutet wurde, wofür dann die Zivilbevölkerung zur Rechenschaft gezogen wurde. Hinzu kam, dass solche Verhaltensweisen gezielt auch top down beeinflusst und gefördert wurden: Von der Obersten Heeresleitung (OHL) erlassene Befehle hielten unzweideutig fest, dass man mit zivilem Widerstand zu rechnen habe und dass diesfalls Kollektivstrafen zu verhängen seien.

Nicht minder aufschlussreich und spannend ist die von Horne und Kramer geleistete Aufarbeitung der Verbreitung bzw. der kommunikativen Nutzung der Vorkommnisse wie die durch die Alliierten inszenierte Gräuelpropaganda. Als besonders wirkungsvoll erwies sich dabei die Legende der abgehackten Kinderhände, die primär den Zweck verfolgte, die Mittelmächte als Barbarenhorden zu dämonisieren und die Alliierten im Gegenzug als Wahrer der Zivilisation erscheinen zu lassen. In beiden Lagern wurde versucht, die internationale Öffentlichkeit für die eigene Sache zu gewinnen und den Feind mit von offiziellen Kommissionen durchgeführten Untersuchungen sowie mit international lancierten Kampagnen systematisch zu diskreditieren. Dazu dienten vor allem auch Zeichnungen und Karikaturen, die man unter anderem als Ansichtskarten und zur Illustration von Magazinen und Zeitungen verwendete, wobei man alle Register zog, um Gewalt, Grausamkeiten und menschliches Leid emotionsgeladen darzustellen sowie mit den Figuren des wehrlosen Opfers und seines sadistischen Peinigers die Welt in Gut und Böse einzuteilen. – Anhand der Kriegsverbrecherprozesse vor dem Leipziger Reichsgericht von 1921 wird schliesslich gezeigt, wie die in beiden Kriegslagern gezielt genährte Kultur des Hasses und der Abscheu das Leugnen des Vorgefallenen beziehungsweise das Beharren auf Erfundenem gleichsam erzwang und die Verständigung oder die Versöhnung erschwerte und behinderte.

Über den engeren Rahmen der Ereignisse hinaus entwickeln die Autoren zum Schluss des Buches Perspektiven, die es erlauben, den Untersuchungsgegenstand zu umfassenderen Fragen in Bezug zu setzen. Dazu zählen unter anderem die Problemkomplexe des Verhältnisses zwischen Armeen und der feindlichen Zivilbevölkerung oder die Versuche, den Krieg rechtlichen und moralischen Normen zu unterwerfen, aber auch das Phänomen des Schürens von Hassgefühlen und der Stigmatisierung ganzer Völker und Nationen, so dass Mythen und Formen der kollektiven Autosuggestion zu treibenden Kräften werden, die ihrerseits Handlungen auslösen und Verhaltensweisen prägen. In diesem Punkt ist die Studie – leider – auch für das Verständnis heutiger Konflikte topaktuell. Benedikt Hauser, Uitikon Waldegg

Zitierweise Benedikt Hauser: Rezension zu: John Horne, Alan Kramer: Deutsche Kriegsgreuel 1914. Die umstrittene Wahrheit, Hamburg, Hamburger Edition, 2004. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 55 Nr.1, 2005, S. 126-128. <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/infoclio/id=17731>
 
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