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Frühe Neuzeit

Albrecht von Haller im Göttingen der Aufklärung

 

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Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 72, Nr. 3, Bern 2010, S. 81-83. <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/infoclio/id=16568>
Titel:Albrecht von Haller im Göttingen der Aufklärung
Herausgeber:Elsener, Robert; Rupke, Nicolaas A.
Ort:Göttingen
Verlag:Wallstein Verlag
Jahr:
ISBN:978-3-8353-0573-1
Umfang/Preis:453 S.

Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Hubert Steinke, Medizinhistorisches Institut
E-Mail: <hubert.steinkemhi.unibe.ch>

Der vorliegende Band ist aus einer Ringvorlesung hervorgegangen, die 2008 / 09 anlässlich von Hallers 300. Geburtstag gehalten wurde und die zusammen mit einer grösseren Ausstellung den Eckpfeiler der Göttinger Haller-Feiern bildete. Wie bei öffentlichen akademischen Vorträgen üblich, sind die Referenten mit unterschiedlichem Aufwand und Anspruch an ihre Aufgabe gegangen und so sind auch die hier versammelten Texte von unterschiedlicher Art, Qualität und Originalität. Eine erste Gruppe von Autoren hat vorwiegend Überblicksarbeiten geliefert, die Hallers Leistungen in einzelnen Bereichen gemäss der Standardliteratur würdigen. Sie entwickeln dabei in Ansätzen auch eigene Blickwinkel, nehmen aber die aktuellsten Forschungen und Fragestellungen in der Wissenschafts-, Aufklärungs- und Gelehrtengeschichte nicht immer wahr. Zu dieser Gruppe gehören die Aufsätze über die Göttinger Gesellschaft der Wissenschaften (Rudolf Smend), die Göttinger Gelehrten Anzeigen und die Bibliothek (Reimer Eck), den Botanischen Garten (Stephan Robbert Gradstein und Michael Schwerdtfeger), den Botaniker (Gerhard Wagenitz) und den Dichter Haller (Wilfried Barner). Näher am Puls der Forschung sind die Arbeiten von Ulrich Tröhler und Renato Mazzolini. Tröhler liefert wichtige Gründe für die Attraktivität der Göttinger Medizin in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Er beschreibt vier verschiedene Herangehensweisen, die die Studenten im Unterricht kennenlernen konnten, und errechnet auf Grund ihrer in den Dissertationsakten überlieferten Lebensläufe den Erfolg einzelner Veranstaltungen. Mazzolini macht die historische Bedeutung von Hallers Irritabilitätslehre deutlich und betont dabei die heute noch zu wenig zur Kenntnis genommene Rolle Hallers und der sich auf ihn stützenden italienischen Forscher für die Etablierung der experimentellen Physiologie im 19. Jahrhundert.

Hervorzuheben sind die Beiträge von Ulrich Joost, Thomas Kaufmann und Peter Hanns Reill. Joost geht davon aus, dass Haller ein überragender Gelehrter war, «von dem jedes Jahrhundert höchstens zwei oder drei vorzuweisen hat» und von dem daher «jedes auch noch so nebensächlich scheinende Detail seines Lebens und Arbeitens» erforscht werden sollte (S. 71). Er stützt sich auf bisher unbeachtete gedruckte und aktenmässige Quellen und kann so einiges, was in der Literatur unhinterfragt und oft klischeehaft herumgeboten wird, präzisieren, korrigieren oder in ein neues Licht setzen. So wird zum Beispiel deutlich, dass Göttingen dem aus dem prächtigen Bern anreisenden Haller – und vielen seiner Kollegen – als eigentliches Drecksnest erschienen sein muss. Belegt wird etwa auch, dass Haller in seinen letzten Göttinger Jahren über 1 300 Taler und damit etwa so viel wie ein Minister und das Doppelte bis Dreifache eines Gehalts eines gewöhnlichen Professors verdient hat. Der Beitrag von Joost macht deutlich, wie viel es noch zu sichten und zu heben gibt, das uns nähere und von der neueren Forschung erwünschte Auskunft über die praktische Lebenswelt von Haller und anderen Gelehrten liefert.

Thomas Kaufmann entwirft auf der Basis einer eigenständigen Lektüre von Hallers Schriften ein 70-seitiges Panorama von dessen Religion, das er einen «Versuch» nennt, das aber dank der Gründlichkeit und Stringenz seiner Argumentation – soweit der Rezensent als Laie in diesem Gebiet es beurteilen kann – einen wichtigen Platz in der künftigen Hallerforschung einnehmen wird. Er legt einerseits dar, dass Hallers religiöse Entwicklung, wenn es sie überhaupt gegeben hat, bereits 1733 abgeschlossen war. Eine weitere Hauptthese Kaufmanns besagt, dass der Berner seine Position weniger auf der Basis einer theologisch-dogmatischen Argumentation verteidigte, sondern als eine in der reformierten Konfessionskultur verankerte Persönlichkeit. Vor diesem Hintergrund ist auch sein religiöses Tagebuch nicht primär als Ausdruck religiöser Individualität, sondern als Zeichen eines frömmigkeitsgeschichtlichen Kulturmusters zu lesen. Abschliessend beschreibt Kaufmann Hallers Protestantismus als orthodox-konservativ, der aber ein spezifisch aufklärerisches Gepräge durch die Betonung der Toleranz erhält.

Peter Hanns Reill hebt die – auch von ihm selbst – bisher unterschätzte Bedeutung Hallers für die wissenschaftliche Kultur Göttingens und der Hoch- und Spätaufklärung überhaupt hervor. Haller habe ein klares wissenschaftliches Programm nach Göttingen gebracht, das er dank der Unterstützung des Universitätskurators Münchhausen umsetzen konnte. Der Berner Gelehrte habe nicht nur wesentlichen Anteil an der Berufung einer Gruppe wichtiger Professoren gehabt, sondern mehr noch an der Entwicklung deren Projekte und Überlegungen. So sei er die entscheidende Persönlichkeit für die Etablierung des berühmten Göttinger Korpsgeistes und eines einzigartigen intellektuellen Klimas geworden, das auch nach seinem Weggang anhielt. Das spezifisch Hallerische, experimentell-empirische Forschungsprogramm sieht Reill insbesondere in den Gebieten der Medizin, Geschichte und den Reisebeschreibungen und somit in Bereichen der Natur- und Kulturwissenschaften umgesetzt, die für Göttingen prägend wurden.

Die erwähnten Beiträge werden eingerahmt von den Texten von Urs Boschung und Martin Staehelin. Boschung liefert mit seinem Fokus auf Hallers Leben vor und nach Göttingen das biographische Grundgerüst für den Band. Staehelin referiert über zeitgenössische Lied-Vertonungen von Hallers Gedichten, die auf der beigelegten CD eingespielt sind. Der Sammelband wird von den Herausgebern eingeleitet mit der Frage, wieso man Haller feiern soll. Eine klare Antwort auf die Frage haben sie nicht. Sie nehmen zwar Hallers Universalität zum Vorbild für unsere heutige fragmentierte Wissenschaft, nehmen sich aber durch den Hinweis auf die sich wandelnden Instrumentalisierungen historischer Figuren selbst den Wind aus dem Segel. Die versammelten Texte liefern auch kein Argument, wieso man einen Gelehrten wie Haller feiern soll. Sie machen aber sehr wohl deutlich, dass die Beschäftigung mit Haller neue Erkenntnisse über den Berner Gelehrten und weit darüber hinaus bringen kann.

Zitierweise Hubert Steinke: Rezension zu: Elsner, Robert; Rupke, Nicolaas A. (Hrsg.): Albrecht von Haller im Göttingen der Aufklärung. Göttingen: Wallstein, 2009. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 72, Nr. 3, Bern 2010, S. 81-83. <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/infoclio/id=16568>
 
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