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Neuere Geschichte

T. Krüger: Die Entdeckung der Eiszeiten

 

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Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 72, Nr. 2, Bern 2010, S. 174-176. <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/infoclio/id=16552>
Autor(en):
Titel:Die Entdeckung der Eiszeiten. Internationale Rezeption und Konsequenzen für das Verständnis der Klimageschichte
Reihe:Wirtschafts-, Sozial- und Umweltgeschichte, WSU 1
Ort:Basel
Verlag:Schwabe Verlag
Jahr:
ISBN:978-3-7965-2439-4
Umfang/Preis:619 S.

Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Hans-Rudolf Egli
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Der Autor dieser unter der Leitung von Christian Pfister am Historischen Institut der Universität Bern entstandenen Dissertation fragt in international vergleichender Perspektive nach, «wann und wie die Eiszeiten entdeckt wurden, und untersucht die Rezeption dieser neuen Erkenntnis». Er verfolgt dabei eine interdisziplinäre wissenschaftsgeschichtliche Ausrichtung mit dem Ziel, dem «Schattendasein der Entdeckung der Eiszeiten als grosse wissenschaftliche Leistung des 19. Jahrhunderts ein Ende zu setzen». (S. 15)

Krüger untersucht vier Fragenkomplexe: 1. behandelt er die eigentliche Entdeckungsgeschichte der grossräumigen Vergletscherungen; 2. befasst er sich mit den zeitgenössischen Theorien zu den Glazialzeiten und besonders mit den Argumenten der Gegner dieser Theorien; 3. untersucht er die Rezeptionsgeschichte der Eiszeittheorien und die wissenschaftlichen Informations- und Kommunikationsmöglichkeiten im 19. Jahrhundert und 4. will der Autor nach den Folgen der Entdeckung der Eiszeiten für die betroffenen wissenschaftlichen Disziplinen für das Verständnis des Klimas fragen.

Im ersten Teil stellt Krüger chronologisch die Entdeckung und Diskussion verschiedener Landschaftselemente dar, die mit Gletschern und grossräumigen Vereisungen zu erklären versucht wurden. Ausgangspunkt waren die Findlinge in seit Menschengedenken eisfreien Gebieten, zum Beispiel im Alpenvorland, im Jura, in Süd- und Norddeutschland und selbst auf den britischen Inseln. Später wurden End-, Seiten- und Grundmoränen entdeckt und mit Gletschern erklärt. Geschrammte, zerkratzte und polierte Felsen wurden unter anderem am Jurasüdfuss als Nachweis früher Gletscher erkannt. In Nordeuropa wurden Oser (Wallberge, Esker) mit grossflächigen Vereisungen erklärt. Geschiebelehm und Gletschermühlen wurden als weitere Eiszeitrelikte interpretiert.

Bereits 1773 stellte der österreichische Jesuitenpater Joseph Walcher eine Verbindung zwischen Schwankungen des Klimas und Gletschervorstössen fest. Bis sich im 19. Jahrhundert die Erkenntnis des Zusammenhangs zwischen kälteren Klimaphasen, Gletschervorstössen und dem Transport von Findlingen sowie der Entstehung weiterer glazialer Landschaftselemente durchsetzte, wurden noch jahrzehntelang grosse Wasserfluten und Vulkane als Ursachen diskutiert. Durch die Verbindung der Feldbeobachtungen, vorwiegend in den Alpen und in Skandinavien, mit Theorien der Erdentstehung, regionalen bis globalen Klimaschwankungen mit grossräumigen Vereisungen und Gletscherrückzügen gelang es letztlich, die Eiszeitphänomene weit gehend widerspruchsfrei zu erklären. Louis Agassiz (1807–1873) spielte bei der Verbreitung der Erkenntnisse sicher eine zentrale Rolle, Krüger relativiert jedoch seine Bedeutung als Entdecker der Eiszeit, weil er offensichtlich Erkenntnisse anderer Forscher ohne Quellenangabe verbreitete.

Im zweiten Teil wird die Rezeption der Eiszeittheorie in Frankreich, Grossbritannien, Schweden, Finnland, Russland und Deutschland dargestellt, mit ergänzenden Hinweisen zu Australien-Neuseeland und zu Nordamerika. Überall gehörten führende Geologen und weitere Naturwissenschaftler zu den vehementesten Gegnern der Gletscher- und Eiszeittheorien. Heute ist es schwer verständlich, dass die Vergletscherung des schweizerischen Mittellandes und weiter Teile Mittel- und Nordeuropas so lange angezweifelt werden konnte, da dies heute fast jedes Kind in der Volksschule vernimmt und begreift. Die Eiszeiten konnten erst in den 1870er-Jahren breit akzeptiert werden, als sie mit globaler Abnahme der Durchschnittstemperaturen als möglicher Ursache erklärt werden konnten.

Der Autor hat mit dieser sehr quellengenauen und quellenkritischen Untersuchung ein grundlegendes Werk zu einer besonders für die Schweiz und den Alpenraum wichtigen Phase der Forschungsgeschichte vorgelegt. Er gewann mit der Untersuchung dieser damals neuen Theorien und Erklärungsansätzen in den Naturwissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts Erkenntnisse, die weit über die Eiszeitforschung hinausgehen. Er hat dabei auch etliche Irrtümer und Fehlinterpretationen aufgedeckt und richtiggestellt. Besonders aufschlussreich sind die zahlreichen Zitate in der Originalsprache und auch in Übersetzung.

Da es schwierig ist, mit den umfangreichen Informationen auf den rund 600 Seiten die grossen Linien der Eiszeitforschung zu erkennen, wäre es sehr wertvoll und hilfreich, wenn eine synoptische Darstellung der neuen Erkenntnisse und Theorien und ihre Gegenpositionen als Grafik vorgelegt worden wäre. (Der Versuch einer grafischen Darstellung auf Seite 531 ist ungenügend.) Auch hätten mit Karten einige Textabschnitte wesentlich gekürzt und die räumlichen Gegebenheiten anschaulicher dargestellt werden können. Die vier abgebildeten zeitgenössischen Kartenskizzen bestätigen diese Feststellung. Hilfreich wäre auch, wenn bei allen Literaturzitaten in den Fussnoten das Erscheinungsjahr der Publikation genannt wäre. Der Leser müsste dann nicht im Literaturverzeichnis nachsehen, ob es sich um ein zeitgenössisches Zitat oder um ein forschungsgeschichtliches aus der jüngeren Zeit handelt. Die theoretischen Abschnitte zur Geschichtswissenschaft waren sicher für die Dissertation wichtig, hätten aber für die vorliegende Ausgabe gekürzt oder sogar weggelassen werden können. (Für den Nicht-Historiker sind die Abschnitte zum Klimadeterminismus, zur Paradigmendiskussion oder zur Struktur wissenschaftlicher Revolutionen zu knappe Hinweise und zum Verständnis der Eiszeiten nicht nötig.) Leider fehlt eine Zusammenfassung.

Der Band ist besonders deshalb spannend zu lesen, weil man immer wieder erstaunt ist, wie heute selbstverständliche Phänomene heftige Diskussionen und Kontroversen auslösten, die zeitlich gar nicht so lange zurückliegen. Der Band ist aber auch wertvoll als Nachschlagewerk zu einzelnen Forschern und Regionen, wozu die Orts-, Personenund Sachregister sehr dienlich sind. Das Buch schliesst eine grosse Lücke der Gletscherforschung.

Zitierweise Hans-Rudolf Egli: Rezension zu: Krüger, Tobias: Die Entdeckung der Eiszeiten. Internationale Rezeption und Konsequenzen für das Verständnis der Klimageschichte, Wirtschafts-, Sozial- und Umweltgeschichte, WSU, Bd. 1, Basel, Schwabe, 2008. (zugl. Diss. phil.-hist. Univ. Bern, 2006). Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 72, Nr. 2, Bern 2010, S. 174-176. <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/infoclio/id=16552>
 
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