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S. Summermatter: Die Überschwemmungen von 1868 in der Schweiz

Reichen, Quirinus <->
 
Autor(en):
Titel:Die Überschwemmungen von 1868 in der Schweiz: unmittelbare Reaktion und längerfristige Prävention mit näherer Betrachtung des Kantons Wallis
Reihe:Berner Forschungen zur Regionalgeschichte Band 5
Ort:Nordhausen
Verlag:Verlag Traugott Bautz
Jahr:
ISBN:978-3-88309-327-7
Umfang/Preis:352 S.

Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Quirinus Reichen
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In den 1860er-Jahren wurde das Wallis mehrmals von verheerenden Unwettern heimgesucht, das Jahr 1868 war ein eigentliches Katastrophenjahr. Zu den Überschwemmungen gesellte sich in diesem Herbst auch noch der Dorfbrand von Obergesteln im Goms. Vom 27. September bis zum 3. Oktober zog schliesslich über die zentralen und östlichen Alpen ein Unwetter hinweg, das vermutlich das grösste des 19. Jahrhunderts war. Riesige Schäden waren in den Kantonen Wallis, Tessin, Uri, Graubünden und im St. Galler Rheintal zu verzeichnen.

Ausgehend von diesem Ereignis untersucht die Autorin am Beispiel des Kantons Wallis, aber immer mit gesamtschweizerischen Bezügen, die Katastrophe, deren kurzfristige Bewältigung und die Initiierung der Schutzmassnahmen über längere Zeit.

Die Katastrophen des Sommers 1868 trafen das Walls in einer überaus schwierigen Verfassung. Das Land, vergleichbar mit Schwellenländern in heutigen Kategorien, entwickelte sich nur extrem langsam, stand immer noch weitgehend in einer auf bäuerlicher Autarkie basierenden Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Vorgängen in solchen Dimensionen stand es trotz lokaler Initiativen weitgehend hilflos gegenüber. Die Nachrichten von den Überschwemmungen gelangten zwar zuerst in die Presse, aber schon Ende September erreichten Telegramme auch den schweizerischen Bundesrat. Sich seiner beschränkten Kompetenzen bewusst, berief er sofort eine Konferenz kantonaler Delegierter ein, um die Hilfe zu koordinieren. Es folgten Spendenaufrufe des Bundes und der Kantone, auch von privaten Kreisen und sogar im Ausland. Ein eidgenössisches Zentralhilfskomitee sollte die Spenden sammeln und die Verteilung organisieren. Bei den Spenden handelte es sich sowohl um Geld als auch um Naturalien, vor allem Kleider und Lebensmittel. Diese waren teilweise so reichlich, dass es zu nicht transportier- oder vermittelbaren Überschüssen kam, es entstand vorübergehend ein Kartoffelberg. Die Verteilung war effektiv nicht einfach, denn das Massentransportmittel der Zeit, die Eisenbahn, hatte die betroffenen Kantone erst beschränkt erreicht. Der Kanton Tessin war noch schienenfrei, und im Wallis erreichte die Bahn erst Siders. Bemerkenswert waren auch die Spenden aus dem Ausland: An der Spitze standen die deutschen Länder, gleich danach folgten die Vereinigten Staaten von Amerika.

Die Schätzung und Abgeltung der Schäden erfolgte sehr effizient noch im gleichen Jahr, erwies sich aber als schwierig, galt es doch, zwischen privatem und öffentlichem Schaden (Strassen, Verbauungen) zu unterscheiden und den Vermögensverhältnissen der Geschädigten Rechnung zu tragen. Das Wallis war hier allerdings trotz seines Katastrophensommers nicht der grösste Schadenfall, fast 50 % der Schadensumme entfiel auf den Kanton Tessin, rangmässig stand das Wallis gar erst im 4. Rang, noch hinter Graubünden und St. Gallen.

Dispute entstanden über die grundsätzliche Frage nach der Verwendung der Gelder: für die Geschädigten oder für neue Schutzbauten. Erst eine neue eidgenössische Konferenz entschied, dass von der Gesamtspendensumme eine Million Franken für neue Schutzbauten abgezogen werden und nur der Rest als Soforthilfe an die Geschädigten gehen solle. Im Gegensatz zu früheren Umweltkatastrophen zeigt sich hier nun eindeutig eine Wende hin zur Prävention.

Schon seit den 1850er-Jahren waren entsprechende Massnahmen im Bereich der Forstwirtschaft angedacht worden. Die Ereignisse von 1868 förderten diese Bestrebungen. 1871 erfolgten, unter dem Eindruck der jüngsten Ereignisse, die entsprechenden gesetzgeberischen Beschlüsse im Bereich Wasserbau und Forstwesen. Die Schutzarbeiten waren aber für die Gebirgskantone allein nicht zu bewältigen, die Unterstützung des Bundes zwingend. Dies bedeutete nun aber nicht nur technische und finanzielle Hilfe, sondern wirkte nach den schwierigen Jahrzehnten in der Genese des Bundesstaates als ein starkes integratives Element. Den Wasserbauten in der zweiten Hälfe des 19. Jahrhunderts kam damit nicht nur die Aufgabe zu, die Menschen vor Unwetterfolgen zu schützen, sie wurden auch Symbole für den erstarkten jungen Bundesstaat und schliesslich Anzeiger für ein verändertes Weltbild: weg von der religiösen und hin zu einer naturwissenschaftlichen Betrachtung der Naturkatastrophen. Der Autorin kommt das Verdienst zu, einen komplizierten und vielschichtigen Aspekt der Bundesstaatsgeschichte sorgfältig analysiert und dargestellt zu haben.

Zitierweise Quirinus Reichen: Rezension zu: Summermatter, Stephanie: Die Überschwemmungen von 1868 in der Schweiz: unmittelbare Reaktion und längerfristige Prävention mit näherer Betrachtung des Kantons Wallis, Berner Forschungen zur Regionalgeschichte Band 5, Nordhausen, Bautz, 2005. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 72, Nr. 1, Bern 2010, S. 117-118. <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/infoclio/id=16544>