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B. Studer: Das Schweizer Bürgerrecht

Stalder, Birgit <->
 
Titel:Das Schweizer Bürgerrecht. Erwerb, Verlust, Entzug von 1848 bis zur Gegenwart
Herausgeber:Studer, Brigitte; Arlettaz, Gérald; Argast, Regula, unter Mitarbeit von Anina Gidkov, Erika Luce, Nicole Schwalbach
Ort:Zürich
Verlag:Neue Zürcher Zeitung - Buchverlag
Jahr:
ISBN:978-3-03823-455-5
Umfang/Preis:421 S.

Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Birgit Stalder
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Die Publikation beleuchtet die Entstehung und Anwendung der Schweizerischen Einbürgerungspolitik seit der Gründung des Bundesstaates bis heute. Dabei wird das Bürgerrecht als Zugang zur Staatsangehörigkeit definiert, deren Zugangsbedingungen in einem steten politischen, juristischen und kulturellen Diskurs abhängig vom jeweiligen historischen Kontext neu ausgehandelt wurden. In dieser Konzeption wird «Nation» zu einem «historisch konstruierten politischen und symbolischen Raum», dessen Grenzen mittels der Staatsbürgerschaft definiert werden.

Im Mittelpunkt stehen die im Zusammenhang mit der Ein- und Ausbürgerung seit 1848 getätigten Diskurse und Praktiken: Welche Normen und Themen besprach die Schweizer Politik und Öffentlichkeit, wenn sie über Ein- und Ausbürgerung diskutierte? Welche politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Interessen standen dabei im Vordergrund? Welche staatliche und soziale Ordnung wurde dabei verteidigt?

In einem ersten Teil haben die Autorinnen und Autoren den soziokulturellen Kontext und die darin entstandenen Rechtsnormen auf eidgenössischer Ebene chronologisch aufgearbeitet. Das Kapitel von Regula Argast beschäftigt sich mit der Entwicklung des Schweizer Bürgerrechts zwischen 1848 und 1898. Der Bund erhielt erst bei der Verfassungsrevision von 1874 das Recht, die bisher kantonal verfügten Einbürgerungen gesetzlich zu regeln. Das Bundesgesetz von 1876 definierte u. a. die Erteilung des Bürgerrechts an ausländische Staatsangehörige oder die Wiedereinbürgerung von geschiedenen oder verwitweten Frauen, die durch Heirat mit einem Ausländer ihr Bürgerrecht verloren hatten. Die Bundespolitiker beabsichtigten die Ausbildung eines «nationalen Raumes im Rahmen der neuen, bürgerlich-liberalen Gesellschaftsordnung». Das Bürgerrechtsgesetz war ein Instrument, mit dem der junge Staat gegen aussen legitimiert und gegen innen durch nationalen Zusammenhalt gestärkt werden sollte.

Gérald Arlettaz beschreibt in einem nächsten Kapitel, wie das Bürgerrecht Ende des 19. Jahrhunderts verstärkt politisch wurde. Durch die vermehrte Einwanderung sah sich die Schweizer Bevölkerung in ihrer nationalen Identität bedroht und verlangte Massnahmen zur Lösung der «Ausländerfrage». Während bis 1917 die Verleihung des Bürgerrechts als Bedingung für eine (politische) Assimilation gesehen wurde, kehrte sich das Prinzip danach um: Es verbreitete sich die Ansicht, dass zuerst eine Assimilation erfolgen müsse, bevor das Recht auf die Schweizer Staatsangehörigkeit geltend gemacht werden könne. Kulturalistische und gar «ethno-rassische» Kriterien prägten den Diskurs.

Brigitte Studer stellt für die Zeit von 1934 bis 2004 fest, dass erst die Vollmachtenbeschlüsse im Zweiten Weltkrieg es dem Bund ermöglichten, die seit dem Ersten Weltkrieg beabsichtigte intensivierte staatliche Steuerung der Staatsbürgerzusammensetzung wirklich umzusetzen. Abstammung und Sozialisation entschieden über Ein- oder Ausschluss. Das Bundesgesetz von 1952 verschärfte die Auswahlkriterien weiter. In den 1960er-Jahren wuchs die Angst vor der «Überfremdung» erneut. Zur Abhilfe sollten junge, in der Schweiz aufgewachsene und somit gut assimilierte Ausländer leichter eingebürgert werden, was vorerst auf Opposition in den Kantonen und Gemeinden stiess. Heute beschäftigt die Forderung nach einer neuen Ethnisierung der Nation und einer «Re-Kommunalisierung» durch die Schweizerische Volkspartei (SVP) die Politik und steht im Gegensatz zu jener Haltung, welche die Einbürgerungspolitik an Gleichheitsund Rechtsstaatsprinzipien ausrichten will.

Im zweiten Teil beleuchten die Autorinnen Anina Gidkov, Regula Argast und Erika Luce konkrete Beispiele kantonaler und kommunaler Einbürgerungspraktiken: Ihre Studien zur Einbürgerungspolitik der Kantone und der Gemeinden Genf und Basel- Stadt sowie der Stadt Bern zeigen, wie das föderalistische System zur Komplexität der Diskurse und Praktiken beiträgt. Luce betont die seit dem 19. Jahrhundert restriktive Haltung und die vergleichsweise durchgehend niedere Einbürgerungsrate der Stadt Bern. 1921 trat das erste Einbürgerungsreglement der Einwohnergemeinde in Kraft, welches eine vorgängige Assimilation verlangte und bis 1997 stets restriktiv gehandhabt wurde. Erst 2004 trat im neuen Einbürgerungsreglement die «Integrationsvermutung», welche durch die vom Bund verlangte 12-jährige Wohnsitzdauer grundsätzlich als erfüllt galt, an die Stelle der Assimilation.

Der Kanton Basel-Stadt zeichnete sich nach Argast bis zum Ersten Weltkrieg durch eine verhältnismässig liberale Einbürgerungspolitik aus, wobei aber armenrechtliche und geschlechtsspezifische Ausschlusskriterien Minderbemittelte und Frauen diskriminierten. Während und nach dem Ersten Weltkrieg erfuhr die Einbürgerungspraxis in Gesetzesrevisionen eine Verschärfung, wobei die neue Assimilationsforderung mit einer «Medikalisierung» und einer «Ethnisierung» einherging. Erst in den Gesetzesrevisionen Ende des 20. Jahrhunderts zeichnete sich eine Gleichstellung der Geschlechter ab und die Assimilationsforderung wurde aus dem Gesetz gestrichen.

In Genf führte die demografische Entwicklung um die Jahrhundertwende dazu, dass 1905 ein an wirtschaftliche Kriterien gebundenes «ius soli» eingeführt wurde, um die hohe Ausländerzahl zu vermindern. Auch in Genf führte der Erste Weltkrieg zu einer Verschärfung der Gesetzgebung. Ab 1934 galten der Gesundheitszustand (bis 1982) und nachgewiesene Assimilation als Zulassungsbedingungen. Seit 1992 ist die Einbürgerung der kantonalen Exekutive unterstellt und hat sich somit von einem politischen Entscheid zu einem Verwaltungsakt gewandelt. Ferner wurde der Begriff «Assimilation » durch jenen der «Adaptation» ersetzt.

Schliesslich präsentiert Nicole Schwalbach den besonderen Fall der Ausbürgerung auf Bundesebene während des Zweiten Weltkriegs. Im Rahmen des Vollmachtenregimes wurde in drei Bundesratsbeschlüssen von 1940, 1941 und 1943 der Bürgerrechtsentzug bei Schweizerinnen und Schweizern, welche die Sicherheit oder den Ruf der Schweiz gefährdeten, ermöglicht. Ab 1943 konnte das Bürgerrecht sogar nativen Schweizer Bürgern entzogen werden. Schwalbach betont, dass mit dem Katalog der Ausbürgerungskriterien moralische, politische und soziale Erwartungen und Normen definiert wurden, die mit den jeweiligen normativen Einbürgerungsdiskursen Hand in Hand gingen. Die Autorinnen und der Autor haben sich einer vielfältigen Palette an Methoden bedient, um ihre verschiedenen Quellengattungen zu befragen. Nebst einer sorgfältig angewandten begriffsgeschichtlichen Herangehensweise verweben sie sozial-, kultur-, wissens- und geschlechtergeschichtliche Methoden. Diskursanalyse und quantitative Erhebungen ergänzen sich. Gesetzestexte, Reglemente und Verordnungen, Expertenberichte aus den Bereichen Wissenschaft, Öffentlichkeit, Politik und Verwaltung, aber auch Fallbeispiele aus Einbürgerungsdossiers fügen sich zu einer reichen Quellengrundlage zusammen.

Der chronologische Aufbau des ersten Teils und die exemplarische Beleuchtung einiger kommunaler und kantonaler Entwicklungen im zweiten Teil führen – verwoben durch inhaltliche Verweise und die identische Fragestellung – zu einem grossen Erkenntnisertrag. Die folgenden drei Aspekte heben die Autorinnen und Autoren in Form von Thesen hervor: Seit dem Ersten Weltkrieg beherrschte ein «Assimilationsparadigma » die Einbürgerungspolitik; das föderalistische System der Schweiz erschwerte eine einheitliche Einbürgerungspraxis und die Einbürgerung diente als «Kontroll- und Lenkungsinstrument der Bevölkerung und als Mittel zur Ordnung des Sozialen». Das Werk schliesst mit Empfehlungen für die heutige politische Einbürgerungspraxis, was der historischen Arbeit politische Aktualität verleiht.

Zitierweise Birgit Stalder: Rezension zu: Studer, Brigitte; Arlettaz, Gérald; Argast, Regula (Hrsg.), unter Mitarbeit von Anina Gidkov, Erika Luce, Nicole Schwalbach: Das Schweizer Bürgerrecht. Erwerb, Verlust, Entzug von 1848 bis zur Gegenwart, Zürich, Verlag NZZ, 2008. (Publikation im Rahmen des Forschungsprogramms «Integration und Ausschluss» – NFP 51.) Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 72, Nr. 1, Bern 2010, S. 114-116. <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/infoclio/id=16543>