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Frühe Neuzeit

A. Hohlenstein: Berns Goldene Zeit

Graber, Rolf </>
 
Titel:Berns goldene Zeit. Das 18. Jahrhundert neu entdeckt
Herausgeber:Holenstein, André; Schläppi, Daniel; Schnell, Dieter; Steinke, Hubert; Stuber, Martin; Würgler, Andreas
Ort:Bern
Verlag:Stämpfli Verlag
Jahr:
ISBN:978-3-7272-1281-9
Umfang/Preis:607 S.

Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Rolf Graber
E-Mail: </>

Dass es sich um eine im wahrsten Sinne gewichtige Darstellung handelt, konnte der Rezensent schon beim Empfang feststellen, als er das Rezensionsexemplar, das an die Universitätsadresse gesandt wurde, zu seinem Wohnort im Thurgau befördern musste. Beeindruckend ist nicht nur der Umfang von 607 Seiten, sondern auch die Zahl von 110 Autoren und Autorinnen. Im Unterschied zum zweiten Band der neuen Zürcher Geschichte ist auch die universitäre Forschung markant vertreten. Die Mitwirkung beschränkt sich nicht nur auf Forscherinnen und Forscher aus dem Bereich Geschichtswissenschaft, in einzelnen Beiträgen kommen auch Spezialistinnen und Spezialisten aus anderen Fachgebieten zu Wort.

Berns Geschichte im 18. Jahrhundert ist in vier Hauptkapitel gegliedert. Diese fassen eng verwandte Themenbereiche wie etwa Bevölkerung, Umwelt und Wirtschaft zusammen. Jedem Hauptkapitel wird eine Einleitung vorangestellt, die didaktisch geschickt, anhand eines Bildes, in die Thematik einführt. In Form eines Epilogs wird eine Bilanz gezogen. Neben ausführlicheren Artikeln zu bestimmten Themen stehen Miniaturen, die als Brennpunkte und Schlaglichter bezeichnet werden. Hier ist auch Platz für Kurioses wie etwa «Erste Hilfe für Ertrunkene: das Tabakrauchklistier». Die Rubrik Lebensbilder enthält Kurzbiographien von Berner Persönlichkeiten. Der Vorteil des gewählten Aufbaus liegt in der enzyklopädischen Breite des Wissens, das vermittelt wird. Der Einstieg ins umfangreiche Werk kann punktuell erfolgen; die mit sorgfältig ausgesuchtem Bildmaterial illustrierten Artikel laden förmlich zum Lesen ein.

Der Titel «Berns goldene Zeit» mag auf den ersten Blick überraschen, da er eine unkritische Analyse erwarten lässt und nicht die Erfahrung der gesamten Bevölkerung des Berner Stadtstaats im 18. Jahrhundert wiedergibt. In einer vom Herausgeber, André Holenstein, verfassten Einleitung wird diese Sichtweise eines verklärenden Blicks auf die altbernische patrizische Republik problematisiert. Er zieht eine Kontinuitätslinie dieses wirkungsmächtigen Deutungsmusters, die von den ausländischen Reiseschriftstellern über den wehmütig-nostalgischen Rückblick von Berner Aristokraten bis zum Standardwerk aus den 40er- und 50er-Jahren des 20. Jahrhunderts, der Geschichte Berns von Richard Feller, reicht. Dieser Zugriff gestattet interessante Einblicke in die Berner Erinnerungskultur und gibt Auskunft über die Projektionen, die mit dieser Sicht verbunden sind. Sie lässt eine krisenhafte Zeitdiagnostik aus der Perspektive der aristokratischen Verlierer hervortreten, eine ablehnende Sicht auf die Moderne.

Der Zugang zur Berner Geschichte aus einer reflexiven Sicht auf das goldene Zeitalter bringt sicher den Vorteil stärkerer Differenzierung. So werden überzeichnete Negativwertungen des Acien Régime, wie sie für die liberale Geschichtsschreibung kennzeichnend waren, vermieden. Anstatt einer strengen Dichotomie rücken vorhandene Kontinuitätslinien ins Blickfeld. Allerdings besteht zuweilen doch die Gefahr einer zu positiven Sichtweise, die Dechiffrierung der Herrschaftsverhältnisse, ein zentrales Anliegen der kritischen Sozialgeschichtschreibung der 80er-Jahre, weicht einer wohlwollenden Beurteilung. An den Epilogen sollen die Vorteile und Defizite dieser Grundhaltung verdeutlicht werden.

Im Epilog zum Kapitel Umwelt und Wirtschaft beschreibt Martin Stuber den gesellschaftlichen Nutzen der von den Ökonomischen Patrioten betriebenen Naturforschung, die zu einer Dynamisierung mittels Wissenschaft und zur Ertragssteigerung führt. Der Überblick vermag die Bedeutung der Agrarreformbewegung für die Modernisierung der Landwirtschaft eindrücklich zu illustrieren. Die Kehrseite dieser «Ökonomisierung der Natur», ihre Unterwerfung unter die instrumentelle Vernunft und deren Folgekosten, die Entzauberung der Welt und die Degradierung der Menschen zu Objekten der wissenschaftlich- technischen Naturbeherrschung bleiben in dieser Perspektive etwas unterbelichtet. Es gehört zu den Grundeinsichten der Dialektik der Aufklärung, dass diese eindimensionale Sicht auf die Natur, wie sie schon bei den Naturforschern des 18. Jahrhunderts auszumachen ist, nicht nur die Basis für die Naturzerstörung bietet, sondern auch ein Gewaltverhältnis konstituiert, das als Herrschaftszusammenhang analysierbar ist. Die wissenschaftlich-technischen Produktivkräfte haben ihre Unschuld schon im 18. Jahrhundert verloren. Ein wichtiger Aspekt für die Umsetzung der Agrarreformen sind die Kontakte der Repräsentanten vor Ort (Pfarrer / Amtmann) zu den ländlichen Produzenten. Sie werden zu Recht als Teil eines umfassenden Kommunikationsnetzwerks der Aufklärung begriffen. Es fragt sich jedoch, ob diese Kommunikation wirklich so ungezwungen ist, wie sie dargestellt wird. Häufig handelt es sich um verzerrte Kommunikation, die dahinter stehenden Herrschaftsverhältnisse werden verschleiert.

Im Epilog zum Kapitel Gesellschaft zeigt Daniel Schläppi die Gleichzeitigkeit von Statik und Dynamik am Beispiel eines Prozesses gegen eine Gruppe von Glücksspielern auf. Einerseits greift die Obrigkeit auf traditionelle Praktiken der Wahrheitsfindung und auf harte Sanktionen zurück, um tradierte Moralvorstellungen durchzusetzen. Gleichzeitig ist sie zu Konzessionen bereit, das Verfahren nimmt den Charakter eines Aushandlungsprozesses an, wie er für die Konfliktbereinigung in der Frühneuzeit zuweilen typisch ist. Als Ursache für diese Doppelstrategie konstatiert der Autor zu Recht ein Spannungsverhältnis zwischen Norm und Wirklichkeit, in unterschiedlichen Milieus verlieren die starren Normen ihre Bedeutung und die Standesgrenzen werden überschritten. Die flexiblere Haltung dient allerdings der Herrschaftsstabilisierung und -sicherung, ein Verfall der republikanischen Tugend würde zu einem Legitimationsverlust der Herrschaft führen. Flexibel und dynamisch sind die Herrschaftsträger dann, wenn es dem Macherhalt dient, aus strategischen Überlegungen sind sie zu partiellen Zugeständnissen und zu Korrekturen bereit. Werden allerdings die obrigkeitlich definierten Toleranzgrenzen überschritten und Grundbestände der bestehenden Gesellschaftsordnung angetastet, bleibt von der Flexibilität nichts mehr übrig, die überkommenen politischen Verhältnisse, aber auch die Ständeordnung werden erbittert verteidigt. Gegenüber den Herausforderungen des wirtschaftlichen und sozialen Wandels erweist sich das politische System als starr. Modernisierung und partielle Reformbereitschaft haben letztlich immer defensiven Charakter. Deshalb sollte sich die Geschichtswissenschaft von Begriffen wie Aristokratisierung und Sozialdisziplinierung nicht gänzlich verabschieden, zumal sie als Epochensignaturen auch einen Kernbestand von Herrschaftsstrukturen charakterisieren.

Hubert Steinke hat den Epilog zum Kapitel Religion, Kunst und Wissenschaft verfasst. Im Zentrum steht die Frage nach einer Berner Aufklärung. Er stellt fest, dass das Aufklärungsspektrum in Bern sehr breit ist und von gemässigten bis zu radikalen Positionen reicht. Dass Aufklärung keine homogene Bewegung ist, zeigt sich schon an den zeitgenössischen Diskussionen, indem von wahrer und falscher Aufklärung die Rede ist. Die moderne Aufklärungsforschung operiert deshalb mit dem Begriff «Aufklärungen », um die regionalen Ausprägungen und Abstufungen einzufangen. Der Autor geht allerdings noch einen Schritt weiter. Mit dem Kennwort Gelehrtenrepublik versucht er ein noch breiteres Spektrum zu erfassen. Als Vorteil dieser neuen Perspektive sieht er, dass sich sowohl bewahrende wie dynamische Elemente innerhalb der geistigen Elite abbilden lassen. Als gemeinsamer Nenner bleiben allerdings nur noch die kommunikative Vernetzung, die gemeinsame Bemühung um friedliche Verständigung und das Bestreben nach Wissensvermehrung. Durch die Verflüssigung des Aufklärungsbegriffs und die Verlagerung des Fokus auf die Gelehrtenrepublik geht das Bewusstsein vom Prozesscharakter der Aufklärung verloren. Als zielgerichteter und irreversibler Prozess, der verschiedene Radikalisierungsstufen durchläuft, wird Aufklärung zum Wegbereiter der Revolutionen. In diesem Sinne gibt es nur eine Aufklärung.

Ausgehend von den zeitgenössischen Reiseschriftstellern favorisiert André Holenstein in seinem Resümee zum Kapitel Politik, Verwaltung, Justiz und Militär das Deutungskonzept des «Paternalismus». Das schon von Zeitgenossen wahrgenommene positive Bild der Berner Stadtrepublik erfährt durch die moderne Forschung insofern eine Bestätigung, als sich diese von absolutistischen Fürstenstaaten unterscheidet. Ein stehendes Heer, die Staatsfinanzierung durch direkte Steuern und eine ausgebaute Staatsbürokratie fehlen. Gegenüber den Fürstenstaaten erweist sich die patrizische Regierung als vermeintlich mildes und fürsorgliches Regiment. Die Ursache sieht der Autor nicht in einer philanthropischen Gesinnung der Herrschaftsträger, sondern in der strukturellen Prekarität der Herrschaftsverhältnisse, zumal die nötigen Repressionsmittel für die Durchsetzung fehlen. Zu fragen wäre, ob fehlende Repressionspotenziale nicht durch subtilere Herrschaftspraktiken kompensiert werden können. Auch in Stadtrepubliken wie Bern und Zürich ist eine Tendenz zum Ausbau der staatlichen Herrschaft und zur Rationalisierung und Effizienzsteigerung der Macht festzustellen. Diese Tendenzen lassen sich mit dem Begriff «Semiabsolutismus» adäquater beschreiben als mit dem Paternalismuskonzept. Die gänzliche Verabschiedung vom Absolutismusbegriff führt letztlich zur Konstruktion eines eidgenössischen Sonderwegs, indem das milde Regiment der «Landesväterlichkeit» in Kontrast zur repressiven Herrschaft in deutschen Fürstenstaaten gestellt wird. Einschätzungen von Schweizern, die nach Preussen auswandern mussten, aber auch von hellsichtigen einheimischen Kritikern zeichnen ein anderes Bild.

In einem letzten Fazit zu den Themen Helvetik und Mediation beschreibt Andreas Würgler die Kontinuitäten und Diskontinuitäten während dieser Übergangsepochen. In politisch-verfassungsrechtlicher Perspektive erweist sich die Helvetik als klarer Bruch, während sich in wirtschafts-, sozial- und technikgeschichtlicher Sicht die Veränderungen schon vorher angebahnt haben. Auch bei der Neuordnung der politischen Verhältnisse können die Akteure auf vormoderne Politikkonzepte wie Kommunalismus, Republikanismus und Landsgemeindemodell zurückgreifen. Dabei darf aber nicht übersehen werden, dass während der Revolutionszeit eine Modifikation dieser Politikmodelle erfolgt, die den Einflüssen der Französischen Revolution, den Ideen von Freiheit und Gleichheit zu verdanken ist. Ein wesentliches Moment des Scheiterns des Helvetischen Einheitsstaates mit seiner Repräsentativverfassung liegt gerade darin, dass er mit politischen und sozialen Erwartungen konfrontiert wird, die auf diese modifizierten Vorbilder zurückgreifen können. Dies kommt auch in den Protestbewegungen gegen die Helvetik zum Ausdruck, die in der bisherigen Forschung vorschnell mit dem Attribut konterrevolutionär oder reaktionär versehen worden sind. Ein vertiefter Blick auf diese Bewegungen, wie die Erhebung im Berner Oberland, wäre deshalb in den eher institutionen- und ereignisgeschichtlich orientierten Artikeln zu diesen Epochen wünschenswert gewesen.

Das voluminöse Werk vermittelt tiefe Einsichten in die Berner Geschichte des 18. Jahrhunderts und eröffnet neue Perspektiven, indem es am aktuellen Forschungsstand orientiert ist. Der Zugang über die Erinnerungskultur an Berns «Goldene Zeit» erweist sich in dieser Hinsicht als heuristisch geschickter Schachzug, verleitet aber stellenweise zu einer zu affirmativen Einschätzung, die durchaus in einer Kontinuitätslinie der Berner Geschichtsschreibung steht. Das kolportierte Urteil Samuel Henzis, anlässlich des Versagens des Henkers – «Tu exécutes commes tes maitres jugent» –, die auch ein grelles Licht auf die Berner Verhältnisse im Ancien Régime wirft, ist in dieser Sicht nicht repräsentiert. Bezeichnend ist auch, dass der radikalste Kritiker der alten Berner Staatsordnung, trotz grosser Publizität im 18. Jahrhundert, in seiner Heimatstadt keine Erinnerungskultur begründen konnte. Es gibt weder ein Denkmal noch eine Gedenktafel, nicht einmal eine Strasse, die nach ihm benannt ist. Es scheint, dass die positiv konnotierte Erinnerung ans goldene Zeitalter auch dafür gesorgt hat, dass Bern mit seinem «aufmüpfigsten Sohn» immer noch keinen Frieden geschlossen hat. 

Zitierweise Rolf Graber: Rezension zu: Holenstein, André (Hrsg.), in Verbindung mit Daniel Schläppi, Dieter Schnell, Hubert Steinke, Martin Stuber, Andreas Würgler; Red.Charlotte Gutscher: Berns goldene Zeit. Das 18. Jahrhundert neu entdeckt. Bern: Stämpfli 2008. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 72, Nr. 1, Bern 2010, S. 102-106. <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/infoclio/id=16532>