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Neuere Geschichte

B. Echte: Robert Walser

Humbel, Stefan <->
 
Titel:Robert Walser. Sein Leben in Bildern und Texten
Herausgeber:Echte, Bernhard
Ort:Frankfurt am Main
Verlag:Suhrkamp Verlag
Jahr:
ISBN:978-3-518-41860-4
Umfang/Preis:511 S.

Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Stefan Humbel
E-Mail: <->

Der Herausgeber des vorliegenden Bandes und Entzifferer der Walser-Mikrogramme, Bernhard Echte, nimmt das Staunen der Leserschaft im Vorwort vorweg: Eine Bildbiografie zu Leben und Werk eines Autors, von dem gerade mal drei Dutzend Fotografien vorliegen, mag aussichtslos erscheinen. Und doch, bereits nach wenigen Lektüreseiten ist die gegenseitige Unterstützung von Text und Bild für den Leser selbstverständlich geworden. Über einen Zeitraum von zwanzig Jahren hat Echte fast 1 000 Bildquellen gesammelt, die eine hoch konzentrierte Perspektive auf das Leben des Dichters freigeben, zugleich aber auch Zeugen einer sich wandelnden literarischen Öffentlichkeit sind und das Werk Walsers bespiegeln bzw. von diesem kommentiert werden: Da sind Porträts und Postkarten, Direktionsprotokolle von Arbeitgebern und Verlagsverträge, Lohnlisten und Pflegerrapporte, Fahrpläne und Meldebögen von Einwohnerämtern, Bucheinbände und faksimilierte Zeitungsrezensionen. Diese Dokumente hellen Walsers literarische Texte auf, vermitteln ein Zeitkolorit oder machen einfach eine Materialität von biographischen und historischen Zeugnissen verständlich. Allgemeine zeitgeschichtliche Rekonstruktionen und intime Spurensuche erlauben eine Neubeschäftigung mit Robert Walser. Echte geht chronologisch vor. Er setzt mit der „Stammlinie“ der aus dem appenzellischen Teufen stammenden Walser und der Elterngeschichte ein, es folgen die Kinder- und Jugendjahre Robert Walsers in Biel (1878 –1895), seine Wanderjahre als Schreiber und Commis, die Schriftstellerjahre auch in Berlin und die endgültige Rückkehr in die Schweiz. Den Jahren 1929 bis 1956, die Walser in der Berner psychiatrischen Klinik Waldau und in der kantonalen Heil- und Pflegeanstalt Herisau (1933 – 1956) verbrachte, ist der Schluss des Bandes gewidmet. Aus den letzten Jahren stammen überdies 21 Fotografien von Walser, die der Schriftsteller und Journalist Carl Selig nach 1935 auf Spaziergängen gemacht hat. Kommt in den ersten 400 Seiten der Biografie Walsers literarischen Texten eine verhältnismässig grosse Bedeutung bei der Kommentierung, Vertiefung oder einfach in der Begleitung des Bildmaterials zu, so nehmen diese Zeugen aus dem Textarchiv im letzten Teil des Bandes ab. Nachdem Walser „von den Umständen und ihm nahestehenden Personen dazu genötigt“ worden war, sich in permanente ärztliche Betreuung zu begeben, stellte er auch seine literarische Produktion ein, was die Biografie widerspiegelt. Zwar kommt er nach wie vor zu Wort, in Briefen etwa an seine Schwester Lisa Walser oder an die Brieffreundin Therese Breitbach; doch zeichnet die Auswertung fremder Textzeugen, von Pflegeberichten, ärztlichen Zeugnissen, Krankengeschichten oder der Korrespondenz mit der Vormundschaftsbehörde, zugleich eine zunehmende gesellschaftliche Isolation Walsers nach. Besonders aber spiegeln die Briefe Carl Seligs sowie dessen Fotos des Autors eine letzte, sehr persönliche Freundschaft Robert Walsers.

In gleichem Masse, wie hier durch die Auswahl des Materials veränderte Fremdeinflüsse auf den „Patienten“ Walser anschaulich gemacht werden, so rekonstruiert die Zusammenstellung der Quellen aus den früheren Jahren nicht nur den werdenden Dichter, sondern auch den Büroangestellten Walser. Walser hatte bis 1905 immer wieder für kurze Zeit Commis-Arbeiten angenommen. Arbeitszeugnisse, Rechnungskolonnen oder Aufnahmen aus Arbeitsräumlichkeiten machen diesen Alltag anschaulich.

Auch für andere Lebensbereiche und -stationen Walsers hat Echte eine mehr als beachtliche Menge an zeitgenössischem Bildmaterial zusammengetragen. Die Gesellschaft und das intellektuelle Umfeld, in denen sich Walser an verschiedenen Orten bewegte, werden oftmals durch Kurzporträts von Personen charakterisiert oder zumindest skizziert. Dies gilt insbesondere für die Berliner Jahre zwischen 1906 und 1913. Knappe Kommentare des Herausgebers, ergänzt auch durch Notizen und literarische Proben Walsers, werden mit den Fotos dieser Figuren zu auskunftsreichen Summarien des sozialen Umfeldes. Mit Aneinanderreihungen solcher Kurzbeschreibungen gelingen Echte auf knappstem Raum schöne historische Querschnitte. Die Biografie vermittelt einen guten Eindruck davon, wie Walser mit literarischen und kulturellen Referenzen seiner Zeit im Austausch stand, wenngleich sich die meisten dieser Bekanntschaften als nur vorübergehend herausstellen sollten. Während Beziehungen etwa zu den Verlegern Samuel Fischer, Bruno Cassirer, Max Brod und Kurt Wolff als wechselvolle Geschäftsbeziehungen dargestellt werden, Kontakte zu einzelnen Förderern wie Christian Morgenstern oder Franz Blei als relativ kurzfristige Begegnungen erscheinen, und Walser- Bewunderer wie Kurt Tucholsky oder Hermann Hesse nur am Rand aufscheinen – so machen auffallend viele Korrespondenzzeugnisse zum Beispiel die wichtigen Kontakte zum Literaturkritiker und Feuilleton-Leiter bei der Zeitung „Der Bund“, Josef Viktor Widmann, oder zum bereits genannten Carl Selig deutlich.

Immer wieder greift Echte auf die Möglichkeit zurück, solche Netzwerke in ihrer Materialität zu dokumentieren. Faksimiles von Buchumschlägen, Rezensionen oder Briefschaften kommentieren stets auch einen kommunikativen Aspekt, der mal eine zeitgenössische Publikationsästhetik, mal eine Befindlichkeit im jeweiligen Verhältnis zu Korrespondenzpartnern, mal Foren eines literarischen Austauschs betrifft. Ungeachtet der vortrefflichen Auswahl solcher Bildquellen hat unter der Fülle von Abbildungen allerdings auch schon mal deren Qualität zu leiden. Bei transkribierten Briefen mag man eine stark verkleinerte Reproduktion nachsehen; ist man hingegen bei der Entschlüsselung von Textzeugnissen auf sich gestellt, so wa¨re man zuweilen für augenfreundlichere Bildwiedergaben dankbar. Zudem fehlen Angaben zu den Grössenverhältnissen der Originale, was etwa bei Abbildungen von Buchumschlägen deutlichere Aufschlüsse über Adressatenkreise erlaubte. Schliesslich ist Echtes Entscheidung, sämtliche Abbildungen nur schwarzweiss wiederzugeben, mit Blick auf den paratextuellen Wert der Zeugnisse auch kritisierbar.

Es fällt auf, als wie stark „deckungsähnlich“ der vorliegende Band literarisches Werk und Biografie Walsers erscheinen lässt. In unzähligen Fällen wählt der Herausgeber als Kommentar zu biografischen Elementen Auszüge aus Walsers Werk. In gewissen Fällen verweist er dabei auf Verschiebungen, die Erlebtes beim Übergang in Walsers Literatur erfahren hat – auf Änderungen von Eigennamen etwa –, andernorts stehen die literarischen Texte unkommentiert da. Es mag sein, dass der biografische Gehalt in Walsers Texten grösser ist als bei anderen Autoren; gewöhnungsbedürftig bleibt dieses abgleichende Verfahren doch. Walsers zu kommentierende Texte werden selbst zu Kommentaren. Dieser darstellerische Gestus ist bei einer Bildbiografie, wo das Verhältnis zwischen Faktualität und Fiktionalität zusätzliche, weil mehrmediale narratologische Schwierigkeiten mit sich bringt, umso auffallender. Erzähltheoretische Beurteilungen wären hier aber vielleicht auch fehl am Platz, macht der Herausgeber mit dieser Textauswahl doch eher Lektüreangebote, die dem bereits von Walter Benjamin vermerkten Sachverhalt Rechnung tragen, dass man zwar viel von Robert Walser lesen könne, wenig aber über ihn.

Bernhard Echte hat mit diesem Mammutprojekt ein Desiderat in der Auseinandersetzung mit Robert Walser berücksichtigt. Auch im Kontext der zurzeit entstehenden „Kritischen Robert Walser-Ausgabe“ und der Einrichtung des Robert Walser-Zentrums in Bern (seit 2009) leistet der vorliegende Band einen erheblichen Anteil zur Aufarbeitung und literarischen Einordnung von Walsers Leben und Werk. Und nicht zuletzt weist das hier gewählte kompositorische Vorgehen einer Bild-Text-Verbindung mögliche hermeneutische Wege, die einer lustvollen und überaus ergiebigen Lektüre offenstehen.

Zitierweise Stefan Humbel: Rezension zu: Echte, Bernhard (Hrsg.): Robert Walser. Sein Leben in Bildern und Texten, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 2008. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 72, Nr. 1, Bern 2010, S. 97-99. <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/infoclio/id=16504>