< zurück | 42 / 873 Rezensionenvorwärts >

Frühe Neuzeit

M. Kempe: Wissenschaft, Theologie, Aufklärung

 

Externe Angebote zu diesem Beitrag

Informationen zu diesem Beitrag

Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 55 Nr.2, 2005, S. 126-129. <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/infoclio/id=17760>
Autor(en):
Titel:Wissenschaft, Theologie, Aufklärung: Johann Jakob Scheuchzer (1672–1733) und die Sintfluttheorie
Ort:Epfendorf
Verlag:bibliotheca academica Verlag
Jahr:
ISBN:3928471333
Umfang/Preis:477 S.

Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Stefan Hächler, Edition Zurlaubiana, Aarg. Kantonsbibliothek Aarau
E-Mail: <stefan.haechleralpinesmuseum.ch>

Die Auseinandersetzung mit der Sintflut übt – gegenwärtig auch im Zusammenhang mit der Diskussion um eine drohende anthropogene Klimakatastrophe – eine eigentümliche Faszination aus, wie ein Blick in den Katalog einer durch - schnittlichen Volksbibliothek zeigt. Die Anziehungskraft beruht nicht unwesentlich auf der Überlegung, dass dieses theologisch relevante Ereignis, sollte es denn tatsächlich stattgefunden haben, wie kein anderes Spuren hinterlassen haben müsste, die sich mit naturwissenschaftlichen Methoden und Instrumenten nachweisen lassen können sollten. Dieses Denkmuster lässt sich historisch aus einer langen Tradition herleiten, deren Höhepunkt Kempe im ausgehenden 17. und frühen 18. Jahrhundert verortet. Damals bildete die mosaische Sintflut den An - satzpunkt für eine breit geführte intellektuelle Debatte über das Verhältnis von Theologie und (Natur-)Wissenschaft. Kempe gelingt es, diese Debatte in ihren vielfältigen Dimensionen darzustellen und ihre zahlreichen Implikationen für die Entwicklung der Wissenschaft insgesamt und einzelner Fachrichtungen im Besonderen herauszuarbeiten.

Im Zentrum seiner Ausführungen steht das Lebenswerk des schweizerischen Naturforschers Johann Jakob Scheuchzer, das Kempe in vier Gruppen unterteilt: 1. die populärwissenschaftliche Aufarbeitung newtonscher und leibnizscher Naturphilosophie, 2. die Kataloge seiner Fossiliensammlung, 3. die naturwissenschaftliche Auslegung der Bibel und 4. die naturgeschichtliche Erforschung und Beschreibung der Schweiz (S. 25f.). Eindrücklich zeigt er, wie sich aus diesen unterschiedli - chen Werkbereichen, die in vielfachen Wechselbeziehungen stehen und sich ge - genseitig stützen, ein einheitliches Weltbild und – daraus abgeleitet – ein Wissen - schaftsverständnis Scheuchzers rekonstruieren lässt. Kempe lässt es aber nicht dabei bewenden. Mit akribischer Quellenarbeit und profunder Literaturkenntnis versucht er, eine umfassende Kontextualisierung von Scheuchzers Arbeiten vorzunehmen. Angelpunkt ist dabei Scheuchzers Sintfluttheorie, die dieser insbesondere in Zusammenarbeit mit dem Londoner Physikprofessor John Woodward und in der gemeinsamen Auseinandersetzung mit dem seinerzeit berühmten und höchst umstrittenen Werk «Telluris theoria sacra» (1681; Englisch erstmals 1684 unter dem Titel «The Sacred Theory of the Earth») von Thomas Burnet entwickelt.

Burnet geht davon aus, dass eine Übereinstimmung zwischen der Bibel und der Schöpfung gegeben sei. Deshalb seien auch die christliche Heilsgeschichte und die wissenschaftliche Naturgeschichte nicht in Antagonismus, sondern in Überein - stimmung miteinander zu verstehen. Exemplarisch ist für Burnet die Sintflut, die er mit Bezug auf die cartesianische Mechanik allein auf natürliche Kausalzusammenhänge zurückzuführen können glaubt. Einen direkten göttlichen Eingriff als deren Ursache lehnt er ab. Sie ist im göttlichen Schöpfungsplan bereits von Anfang an vorgesehen und stellt die späte Bestrafung des Sündenfalls dar. Erst mit der Sintflut ging die paradiesische Ära der Weltgeschichte zu Ende. Die vorher gleichmässige Erdoberfläche wurde durch einen Dampf-Überdruck wie eine Ei - schale aufgerissen, die zuvor darunter verborgenen Wassermassen überschwemmten die Erde, wodurch die Erdkruste einbrach und die vordiluviale Welt vernichtete. Die Berge sind als Überreste dieser eingedrückten Oberfläche zu deuten. Die postdiluviale Welt konnte sich zwar bis zu einem gewissen Grad von diesem Schlag erholen, die Menschen mit Fleiss, Arbeit und Wissenschaft die schlimmsten Fol gen abwenden, aber ein zweites Paradies wird erst nach dem Weltenbrand entstehen können. Burnet bewegt sich damit zwar noch im bisher vorherrschenden pessimistischen symbolischen Feld (Sieferle) der natura lapsa, die vom grundsätzlichen Verfall der Welt nach dem Sündenfall ausgeht, weist aber in Ansätzen schon darüber hinaus ins optimistische Feld der oeconomia naturae, das der Natur aufbauende Kräfte zuordnet, die der Entropie entgegenwirken (Kap. 1). Scheuchzer und Woodward gehen diesen Weg aus dem Feld der natura lapsa in dasjenige der oeconomia naturae konsequent weiter und fördern damit ein zunehmend optimi - stisches und fortschrittsgläubiges Welt- und Wissenschaftsverständnis.

In wiederholten Bezügen zu, in Rückgriffen auf und in Abgrenzungen gegen Burnet entwickelt Kempe insbesondere eine Exegese des Lebenswerks Scheuchzers, in welchem er den sich am Übergang zum 18. Jahrhundert durchsetzenden «fundamentalen Weltbildwandel» (S. 16) und die Entstehung der Physikotheologie festmachen kann. So wird plausibel ausgebreitet, wie Scheuchzer in seinem Werk sowohl gegen die Kritiker der Bibel als auch gegen diejenigen der new science Stellung bezieht. In der zweifachen Offenbarung Gottes in der Schrift und in der Natur liegt der Grund, weshalb Wissenschaft und Theologie einander ergänzen und gegenseitig stützen können. (Natur-)Wissenschaft steht also nicht in Opposition zur Religion, sondern in ihrem Dienst. Die konsequente Weiterent - wicklung dieses physikotheologischen Gedankenguts führte allerdings zu einer Verselbständigung der Naturwissenschaften, die aufgrund ihres immer weiter sich vergrössernden Kenntnisstandes die göttliche Offenbarung bald aus sich allein heraus zu postulieren im Stande waren.

Von den verschiedensten Richtungen führt Kempe den Leser immer wieder auf seine Kernaussagen. Er beginnt mit den Figurensteinen (Kap. 2), die lange als Laune der Natur verstanden wurden (lusus naturae). Auch Scheuchzer unterstützte anfänglich diese Naturspiel-Deutung, wurde aber kurz nach der Jahrhundertwende durch den engen Kontakt mit Woodward zunehmend von der These überzeugt, die meisten Figurensteine seien Versteinerungen von ehemals lebenden Organismen. Diese seit der Spätantike nachweisbare und vereinzelt bereits in Zusammenhang mit der Sintflut gebrachte Vorstellung wurde erstmals 1669 von Niels Stensen wissenschaftlich überzeugend dargelegt und mit geologischen Prozessen begründet, erlangte aber erst im Gefolge der Burnet’schen Sintfluttheorie grösseres Gewicht und beeinflusste seinerseits die zahlreichen von Burnets Theorie ausgehenden Geogonie-Konzepte.

Woodward als einer dieser «World-makers» verband elegant Burnets und Stensens Überlegungen, indem er Fossilien als Überreste der vorsintflutlichen Tier- und Pflanzenwelt deutete, die sich nach der Sintflut in den noch weichen Erd - schichten eingelagert hatten und dort versteinerten. Durch Sedimentierung und Verfestigung der Erdkruste sowie durch deren teilweise Auffaltung zu Gebirgen gelangten die Fossilien dann in unterschiedlichste Weltregionen. Woodward stellte sich also die Sintflut als eine gänzliche Auflösung der Welt vor, die (ganz anders als bei Burnet) nur durch eine vorübergehende Ausserkraftsetzung der Naturgesetze durch Gott möglich war. Sobald diese wieder wirken konnten, lagerten sich die vormals im Wasser verwirbelten Erdbestandteile gemäss der newtonschen Gravitationslehre auf der Erde ab.

Nachdem Scheuchzer diese für ihn schlüssige These akzeptiert hatte, wurde er zu ihrem unermüdlichen Propagator. Er entwickelte eine eigene Geogonie, die auf der Woodward’schen Diluvialthese basierte. In mehrfacher Weise wurde dabei Burnets Heilige Theorie modifiziert. So wurde ausgehend von der Annahme eines konstanten Artbegriffs im Sinne der scala naturae von den Fossilien auf die Flora und Fauna des vorsintflutlichen Zeitalters geschlossen, die grundsätzlich identisch mit der heutigen gewesen sein müsse (auch wenn noch nicht alle Fossilienfunde heutigen Lebewesen zugeordnet werden konnten, da gemäss Scheuchzer noch weite Teile der Welt nicht gründlich erforscht waren). Somit war Burnets These von der grundsätzlichen Verschiedenheit der vor- und der postdiluvialen Welt nicht mehr haltbar (Kap. 4). Auch die Berge, die Burnet als nutzlosen Schutt der Sintflut deutet, erhalten bei Scheuchzer eine positive Bestimmung. In verschiedenen Schriften hebt er ihren vielfachen Nutzen (Funktion im Rahmen des Wasserkreislaufs, Klimamaschine, Rohstoffreservoire etc.) hervor. Auch die vorsintflutliche Welt kann deshalb nicht – wie Burnet behauptet – ohne Berge ausgekommen sein (Kap. 6).

Die nachsintflutliche Welt war, so die Schlussfolgerung, ein (nicht ganz identisches) Abbild der vorsintflutlichen, sie konnte also keine gefallene sein. Vielmehr hat Gott mit der Sintflut eine neue Welt geschaffen und damit der Menschheit eine zweite Chance gegeben. Zwar sind die paradiesischen Zustände verschwunden, aber Scheuchzer versteht dies mit Rückgriff auf die leibnizische Philosophie nicht als negatives Faktum. Gerade die paradiesischen Zustände verführten die Men - schen zu diversen moralischen Entgleisungen. Die postdiluvialen Menschen sind dieser Versuchung dank den neuen Rahmenbedingungen nun weniger ausgesetzt (bonum ex malo). Mit den ihnen in die Hand gegebenen Instrumenten von Arbeit, Technik und Wissenschaft sind sie in der Lage, ihre Situation in der Welt stetig zu verbessern und sich ihrer jeweiligen Umwelt anzupassen und so die Erde wieder zu bevölkern und zu beherrschen (Kap. 8). Besonders an den in den Alpen lebenden Menschen meint Scheuchzer dies zeigen zu können (Kap. 9). Damit verband er Sintfluttheorie, Theodizee und geoklimatische Theorie zu einer Geogonie, in der Ausgangspunkte für etliche moderne wissenschaftliche Fächer, Fragestellungen und Methoden angelegt waren.

Kempe führt uns nicht nur diesen (hier nur rudimentär wiedergegebenen) komplexen Vorgang der Entstehung eines neuen Weltbildes vor Augen, sondern stellt auch die Kommunikationszusammenhänge her, die damit verbunden waren. Im dritten Kapitel fasst er vorgängig den bisherigen Forschungsstand zum Kommunikationssystem der Gelehrtenrepublik des ausgehenden 17. und frühen 18. Jahrhunderts zusammen, um dann vor diesem Hintergrund die Kommunikationsleistung Scheuchzers sowohl im Rahmen dieser europäischen res publica literaria als auch besonders in demjenigen des von Kempe als «Anglo-Swiss-Connection » bezeichneten regen Informations- und Gedankenaustauschs zwischen schweizerischen und englischen Vertretern der new science zu würdigen.

War der auf diese Weise erst mögliche internationale Wissenstransfer für die Entwicklung und Verbreitung von Scheuchzers Geogonie von entscheidender Bedeutung, so war auf lokaler Ebene ein weiteres kommunikatives Element nötig, um in einem ersten Schritt die Akzeptanz und in einem zweiten die Etablierung der new science in Zürich zu ermöglichen (Kap. 5). Scheuchzer bediente sich zur Erreichung dieser strategisch-taktischen Ziele primär des Zürcher Collegiums der Wohlgesinnten (vgl. Kempe, Michael/Maissen, Thomas: Die Collegia der Insulaner, Vertraulichen und Wohlgesinnten in Zürich, 1679–1709. Zürich 2002). In dieser Sozietät war dank dem «Prinzip der Verschwiegenheit» (S. 164) ein intensives Debattieren über die verschiedensten Themen möglich. Auch in der Öffentlichkeit nicht erlaubte Diskussionen konnten hier geführt werden. Scheuchzer versuchte, den Mitgliedern dieses Zirkels die sein neues Weltbild nach und nach konstituierenden philosophischen Ideen und wissenschaftlichen Erkenntnisse bekannt und schmackhaft zu machen. Er bediente sich vorsichtigerweise einer eklektischen Vorgehensweise, die zunächst einfach verschiedenste neue Vorstellungen (z.B. von Kopernikus, Descartes, Newton, Leibniz, Spinoza) präsentierte. Nur behutsam wurden Wertungen und Neubewertungen eingebracht. Die Nähe etlicher Mitglieder zur politischen Macht bewirkte mit den Jahren eine Diffusion der in der Sozietät erörterten Themen, so dass das Ende des 17. Jahrhunderts in Zürich immer noch offiziell vertretene aristotelisch-ptolemäisch-geozentrische Weltbild bis im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts völlig durch das auf den Erkenntnissen der new sience basierende ersetzt war. Die lang ersehnte Berufung Scheuchzers auf den Lehrstuhl für Physik am Zürcher Carolinum kam faktisch einer Legalisierung des neuen Weltbildes gleich.

Kempe ist insgesamt ein Werk gelungen, das Johann Jakob Scheuchzer schlüssig nicht als rückständigen Gelehrten, sondern als einen der Wegbereiter moderner Wissenschaft vorstellt.

Kempe bindet Scheuchzers Arbeiten und Wirken in einen äusserst reichhaltigen und komplexen Kontext ein. Dabei führt er den Leser auf zahlreiche, zwar immer interessante, manchmal aber nicht immer für den Haupterzählstrang unabdingbare Nebenschauplätze (z.B. die Ausführungen zur Alchemie in Kap. 5). Eine leise Kritik sei auch erlaubt an den zahlreichen echten und vermeintlichen Wieder - holungen und Rekapitulierungen, die nicht immer hilfreich sind, sondern manchmal eher verwirren. Ein profundes Lektorat hätte hier straffend eingreifen und gleichzeitig die stellenweise gehäuft vorkommenden Druckfehler eliminieren können.

Die grosse Stärke des Werks – es sei hier abschliessend nochmals wiederholt – liegt in der synthetischen Verschränkung des Lebenswerks einer Person mit den philosophischen, theologischen und wissenschaftlichen Strömungen ihrer Zeit und der damit verbundenen sowohl synchronen als auch diachronen Kommunikations - leistung einzelner Personen und ganzer Gruppen der scientific community auf lokaler wie auf internationaler Ebene.

Zitierweise Stefan Hächler: Rezension zu: Kempe, Michael: Wissenschaft, Theologie, Aufklärung. Johann Jakob Scheuchzer (1672-1733) und die Sintfluttheorie. Epfendorf 2003. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 55 Nr.2, 2005, S. 126-129. <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/infoclio/id=17760>
 
< zurück | 42 / 873 Rezensionenvorwärts >